Wahlen in Chile: Von der Strasse in die Regierung

Rodrigo Mundaca wurde am vergan­genem 16. Mai zum ersten Regio­nal­gou­ver­neur von Valpa­raíso gewählt. Somit wird die, an der Bevöl­ke­rungs­zahl gemessen, zweit­wich­tigste Region in Chile ab kommendem Juli von einem Umwelt­ak­ti­vi­sten regiert. Im Gespräch mit das Lamm spricht Mundaca über seine Entschei­dung, an der Wahl teil­zu­nehmen und über die kommenden Aufgaben für die Regierung. 
Rodrigo Mundaca im Februar 2020 bei einem Festival für das Recht auf Wasser und die Umwelt. (Foto: Rodrigo Salinas)

Das Lamm: Rodrigo Mundaca, die Umwelt­be­we­gung MODA­TIMA (Bewe­gung für Wasser, Erde und den Schutz der Umwelt), bei der Sie Mitglied sind, ist bislang vor allem für Protest­ak­tionen gegen die Regie­rung und Unter­nehmen bekannt. Sie selbst sind haupt­säch­lich durch laut­starke Kritik an Abge­ord­neten aufge­fallen, die die Priva­ti­sie­rung des Wassers aufrecht­erhalten. Wieso haben Sie als soziale Bewe­gung beschlossen, an der Wahl teilzunehmen?

Rodrigo Mundaca: Ich kann mit Stolz behaupten, dass unsere Orga­ni­sa­tion eine der wich­tig­sten Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen in Chile ist. Wir haben sowohl an verschie­denen parla­men­ta­ri­schen Diskus­sionen teil­ge­nommen als auch auf der Strasse mit Barri­kaden Druck aufge­baut. Doch auf poli­ti­scher Ebene hat es kaum Fort­schritt gegeben.

Die Entschei­dung, an der Wahl teil­zu­nehmen, haben wir während der Monate des ersten Lock­downs gefasst. Wir hatten viel Zeit zum Über­legen und unsere poli­ti­sche Stra­tegie zu über­denken. Dabei mag ich mich noch an die Meta­pher eines Genossen erin­nern, der gemeint hat, wir sollten uns nicht weiter in den Rängen des Fuss­ball­sta­dions aufhalten und unsere Kraft darauf verwenden, den Schieds­richter zu beschimpfen. Es geht darum, die Spiel­re­geln zu verän­dern und umzusetzen.

Mit 42,7 % wurde am vergan­genen 16. Mai der Umwelt­ak­ti­vist Rodrigo Mundaca zum Regio­nal­gou­ver­neur von Valpa­raíso gewählt. Das Wahl­wo­chen­ende, an dem zusätz­lich die Mitglieder für die Verfas­sungs­ge­bende Versamm­lung und für die Gemein­de­räte gewählt wurden, war ein grosser Sieg für die sozialen Bewe­gungen und linken Parteien, die heute in allen poli­ti­schen Instanzen vertreten sind. Die rechten Regie­rungs­par­teien erhielten zusammen weniger als ein Drittel der Stimmen in der Verfas­sungs­ge­benden Versamm­lung. Auf kommu­naler und regio­naler Ebene verloren die Rechten wich­tige Gemeinden – wie die Haupt­stadt Sant­iago, die von einer Kommu­ni­stin über­nommen wird – und stellen nur in einer von 16 Regionen den Regionalgouverneur.


Konkret heisst das für uns, die poli­ti­schen Insti­tu­tionen für die Allge­mein­heit zurück­zu­er­obern. Deshalb haben wir an der Regio­nal­gou­ver­neurs­wahl, an den Wahlen zur Verfas­sungs­ge­benden Versamm­lung und an den allge­meinen Gemein­de­rats­wahlen teil­ge­nommen. Wir stellen derzeit vier Frauen für die Verfas­sungs­ge­bende Versamm­lung und fünf Gemeinderät:innen verteilt über das ganze Land. Ich glaube, diese Vertre­tung gibt uns heute die Möglich­keit, von vielen Seiten aus unseren Kampf weiterzuführen.

Welche Probleme sehen Sie inner­halb der Region Valparaíso?

Unsere Region hat die meisten Umwelt­kon­flikte im ganzen Land. Wir haben soge­nannte „geop­ferte Zonen“, in denen die Umwelt­schäden der Indu­strie die Bevöl­ke­rung und Umwelt ernst­haft gefährden. Unsere Region ist Meisterin in der Zuwi­der­hand­lung gegen das von den Vereinten Nationen beschlos­sene Menschen­recht auf Zugang zu Trink­wasser. Es gibt Immo­bi­li­en­kon­zerne, die ganze Natur­re­ser­vate zerstören. Die Indu­strie verschmutzt unser Wasser. Es gibt eine lange Liste an Problemen, die drin­gend ange­gangen werden müssen.

Hinzu­kommt, dass aus unserer Region eine grosse Anzahl an Umweltschützer:innen kommen, die schon einmal bedroht wurden oder bis heute von der Polizei über­wacht werden. Wir haben sehr viel zu tun, um unsere Ziele des Umwelt­schutzes, der Rück­ge­win­nung des Rechts auf Wasser und der Verbes­se­rung der Lebens­ver­hält­nisse der Bevöl­ke­rung zu erreichen.

Die Gouverneur:innenfigur ist ein Novum in Chile und wurde als Teil der poli­ti­schen Mass­nahmen zur Dezen­tra­li­sie­rung des Landes einge­führt. Wie viel Spiel­raum haben Sie als Gouver­neur, um das Geschehen der Region zu beeinflussen?

Die Einfüh­rung des Postens ist histo­risch sehr wichtig. Es ist das erste Mal in den 200 Jahren chile­ni­scher Geschichte, dass die Bevöl­ke­rung ihre regio­nalen Vertreter:innen selber wählen kann. Leider sind unsere Funk­tionen sehr beschränkt. Es gibt 15 klar abge­grenzte Kompe­tenzen, die uns über­tragen wurden. Dazu gehört etwa die Verwal­tung der Gebäude, die Kontrolle von einzelnen natio­nalen poli­ti­schen Mass­nahmen wie dem Zahlen der Subven­tionen für die Ermäs­si­gung beim öffent­li­chen Nahver­kehr für Schüler:innen und Pensio­nierte oder dem Verfassen des regio­nalen Gestal­tungs­plans. Letz­terer ist unheim­lich wichtig, um im Umwelt­schutz weiter voranzukommen.

Der Prozess der Dezen­tra­li­sie­rung geht aller­dings sehr langsam voran. So wird die Figur der Regio­nal­in­ten­danz, die derzeit von der Zentral­re­gie­rung einge­setzt wird, zur regio­nalen Präsi­di­al­ver­tre­tung. Diese Posi­tion hat zum Teil mehr Kompe­tenzen als die Gouverneur:innen. So kann sie weiterhin die regio­nalen Vertreter:innen der Mini­ste­rien einsetzen und ist verant­wort­lich für die Kontrolle der Polizei. Es ist eine total obso­lete Figur, die in direkter Konkur­renz zur:m Gouverneur:in steht.

Hinzu­kommt, dass die derzei­tige Admi­ni­stra­tion nach unserem Wahl­sieg bereits einen beträcht­li­chen Teil der Gelder kompro­mit­tiert hat. So wurde die Hälfte des gesamten Haus­haltes für die Jahre 2021 und 2022 an die chile­ni­sche Polizei Cara­bi­neros de Chile über­geben. Wir verstehen dies als Sabo­tage gegen uns, welche die Regio­nal­re­gie­rung vor eine komplexe Ausgangs­lage stellt.

Nicht nur die derzei­tige rechte Regie­rung, sondern auch lokale Akteur:innen versu­chen, Ihre Orga­ni­sa­tion zu bekämpfen. Kürz­lich wurde Veró­nica Vilches, eine Akti­vi­stin Ihrer Orga­ni­sa­tion, mit dem Tode bedroht. Wie können Sie als Regio­nal­gou­ver­neur mehr Sicher­heit für Umweltaktivist:innen gewährleisten?

Latein­ame­rika ist die gefähr­lichste Region für Umweltschützer:innen. 60 % aller Morde an Umweltaktivist:innen in der Welt finden hier in unserer Welt­re­gion statt. Beson­ders betroffen sind Aktivist:innen in Brasi­lien, Kolum­bien oder Guatemala.

Chile stellt in diesem Zusam­men­hang keine Ausnahme dar. Die rechte Regie­rung unter Seba­stián Piñera hat sich gewei­gert, das Abkommen von Escazú zu unter­zeichnen. Dies ist ein inter­na­tio­nales Abkommen, das für mehr Trans­pa­renz im Umwelt­schutz gesorgt hätte und dessen ausdrück­li­ches Ziel es war, Umweltschützer:innen zu schützen.

Und so treffen wir auch hier auf die Verfol­gung von Akivist:innen. Die Ordnungs­kräfte werden zur Repres­sion gegen Umweltschützer:innen einge­setzt, sei es in Form der Krimi­na­li­sie­rung, der Unter­drückung von Prote­sten oder auch des Mordes an Aktivist:innen. Die Regie­rung und die Mäch­tigen des Landes reden unseren Akti­vismus regel­mässig klein und verhöhnen jene, die sich für das Menschen­recht auf Umwelt­schutz einsetzen.

Am 14. Juli treten Sie in Ihre Regie­rungs­funk­tionen ein. Worauf wird sich die Regio­nal­re­gie­rung konzentrieren?

Trotz der eingangs erwähnten Finanz­pro­bleme, die wir aufgrund der Blockade durch die derzei­tige Regie­rung erfahren werden, wollen wir uns auf die einschnei­dend­sten Probleme – wie etwa Wohnungsnot, Wasser­ver­sor­gung und Umset­zung des Rechts­staates – konzentrieren.

In unserer Region gibt es 225 irre­gu­läre Sied­lungen, über 23 000 Haus­halte wohnen derzeit in soge­nannten campa­mentos ohne flies­sendes Wasser, Abwasser oder einen rich­tigen Strom­an­schluss. Wir haben derzeit eine zwei­stel­lige Prozent­zahl an Arbeits­lo­sig­keit und 350 000 Personen bekommen nur durch Tank­last­wagen die nötige Wasser­zu­fuhr. Dies ist ein Sech­stel aller Einwohner:innen der Region.

Hier müssen wir ansetzen. Wir brau­chen eine Studie zur Boden­qua­lität, um zu wissen, wo neue Sied­lungen gebaut werden können. Wir brau­chen eine Platt­form, in der verschie­dene Mini­ste­rien ihre brach­lie­genden Flächen aufführen, um dort Sozi­al­sied­lungen zu bauen. Wir müssen die lokale Wasser­ver­sor­gung auf dem Land stärken und die Kleinbäuer:innen unter­stützen, schliess­lich stammt von dort ein Drittel unserer Lebensmittel.

Gleich­zeitig müssen wir auch die staat­li­chen Kontroll­me­cha­nismen stärken. Es gibt derzeit viele Unter­nehmen und Plantagenbesitzer:innen, die halb­wegs offen gegen Gesetze verstossen, sei dies im Bereich der Arbeits­re­ge­lungen oder indem sie illegal Wasser abnehmen. Dadurch priva­ti­sieren sie den Gewinn und verteilen die Last der Wassernot auf die gesamte Bevölkerung.

Sie spre­chen die wirt­schaft­liche Struktur Valpa­raísos an. In den Anden ist diese durch den Minen­abbau geprägt, in den Tälern von der Land­wirt­schaft und an der Küste durch eine teils sehr umwelt­schäd­liche Indu­strie. Zudem hat die Region mehrere Kohle­kraft­werke, die Strom für Sant­iago produ­zieren. Wie kann umwelt­freund­li­cheres Wirt­schaften geför­dert werden?

Wir beschreiben das in unserem Regie­rungs­pro­gramm: Wir brau­chen eine Diver­si­fi­zie­rung unserer Wirt­schaft und müssen dafür die extrak­tive Indu­strie, also jene, die vom Abbau und der Ausbeu­tung der Ressourcen lebt, überwinden. 

Dies bedeutet beispiels­weise für die Land­wirt­schaft das Verbot gewisser Pesti­zide und die Förde­rung einer Anbau­weise, die mit der Natur in Einklang steht. Wir brau­chen eine Wirt­schaft, die nicht auf Basis der Zerstö­rung unserer Umwelt und Kultur­güter statt­findet. Das bedeutet für uns auch, den Umwelt­tou­rismus als Wirt­schafts­faktor zu fördern. Unsere Region ist unheim­lich reich an schöner Natur, die schon heute von vielen Menschen aus Sant­iago besucht wird.

Funda­mental für eine neue Wirt­schafts­po­litik ist ein Gesetz, das die Unter­nehmen dazu verpflichtet, in jener Region ihre Steuern zu zahlen, wo sie wirt­schaften. Über ein solches Gesetz wurde mehr­mals geredet, bislang wurde aller­dings nichts in die Tat umge­setzt. Derzeit bezahlen alle Minen­un­ter­nehmen, die meisten Land­wirt­schafts­un­ter­nehmen und fast die gesamte Indu­strie in unserer Region ihre Steuern in den reichen Gemeinden der Gross­raum­re­gion Sant­iago, wo sie ansässig sind. Ohne eine effek­tive Umver­tei­lung der Steu­er­flüsse können wir in der Region unmög­lich alle unsere Projekte verwirklichen.

Chile steht vor einem grossen Wandel. In den vergan­genen Wahlen wurden auch die Mitglieder für die Versamm­lung gewählt, die eine neue Verfas­sung erar­beiten soll. Dort haben linke Kräfte einen Über­ra­schungs­sieg einge­fahren. Sie haben mehr­mals auf die nötigen natio­nalen Verän­de­rungen aufmerksam gemacht. Inwie­fern planen Sie, die Erar­bei­tung der neuen Verfas­sung zu unterstützen?

Wir haben sowohl auf regio­naler als auch natio­naler Ebene gewonnen. In unserer Region werden acht von 13 Dele­gierten durch Personen gestellt, die uns sehr nahe stehen. Die Rechte hat ihr Ziel einer Sperr­mi­no­rität von einem Drittel verfehlt. Dies bedeutet, dass sie fort­schritt­liche Gesetze nicht verhin­dern kann. 

Da alle Verfas­sungs­ar­tikel von einer Zwei­drit­tel­mehr­heit ange­nommen werden müssen, kann eine poli­ti­sche Kraft, die etwas mehr als ein Drittel hat und geschlossen agiert, den verfas­sungs­ge­benden Prozess entschei­dend prägen.

Heute liegt dieses Drittel bei uns. Es setzt sich aus Vertreter:innen der sozialen Bewe­gungen, der sexu­ellen Dissi­denzen, Gewerkschaftler:innen, Indi­genen, Umweltschützer:innen und Tierrechtler:innen zusammen. Es ist ein Spie­gel­bild der Hete­ro­ge­nität der chile­ni­schen Linken. 

Zusammen mit Vertreter:innen der alten Mitte-links-Parteien und unab­hän­gigen Kandidat:innen, deren poli­ti­sche Ausrich­tungen nicht ganz klar sind, kommen wir auf zwei Drittel. Das heisst, theo­re­tisch kann die neue Verfas­sung fast ohne Wirken der rechten Parteien geschrieben werden.

Für uns als Regio­nal­re­gie­rung gibt es zwei wesent­liche Punkte: Das Wasser muss entpri­va­ti­siert, wieder als öffent­li­ches Gut unter öffent­liche Verwal­tung gestellt werden. Ausserdem muss die Entschei­dungs­macht zu den Menschen und in die Regionen trans­fe­riert werden. Es braucht mehr Dezen­tra­li­sie­rung und lokale Entscheidungsprozesse.

Dafür werden wir als Regio­nal­re­gie­rung der Verfas­sungs­ge­benden Versamm­lung zur Verfü­gung stehen. Wir werden den Dialog zwischen den Vertreter:innen der Versamm­lung und der lokalen Bevöl­ke­rung fördern, um so den demo­kra­ti­sie­renden Prozess für ein neues Chile zu unterstützen.


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