Status F: Will­kommen im Prekariat

Vorläufig Aufge­nom­mene, die einer Lohn­ar­beit nach­gehen, gelten als Erfolgs­fälle. Um welche Art Arbeit es sich dabei handelt, wird hingegen nur selten thema­ti­siert. Es sind mit grosser Mehr­heit prekäre Jobs. Und das hat System. 
Die Bezeichnung ist irreführend: 90% der "Vorläufig Aufgenommenen" bleiben längerfristig in der Schweiz. (Foto: Lukas Tobler)

Vor rund drei Monaten förderte eine Recherche von das Lamm massive Vorwürfe gegen die Candrian Cate­ring AG, eine der grössten Gastro­firmen der Schweiz, zutage. Mitten­drin: Aziz*, der während zweier Jahre an deren Take-Away-Stand Buffet Express im Zürcher Haupt­bahnhof gear­beitet hat. Er sei auch bei Krank­heit zur Arbeit gezwungen worden; wenn er Kritik geübt habe, seien ihm Stunden gestri­chen worden, und während der ganzen zwei Jahre habe er an keinem einzigen Wochen­ende nicht arbeiten müssen, sagte Aziz damals gegen­über das Lamm. Nach ziem­lich genau zwei Jahren wurde er entlassen. Er hatte sich zu diesem Zeit­punkt zu wehren begonnen.

Aber wieso nicht schon früher? Und wieso hat er nie gekündigt?

Die Antwort ist simpel – und kurz, nur ein Buch­stabe lang: F, der Aufent­halts­buch­stabe in Aziz’ Perso­nal­aus­weis. Aziz hatte, als er die Arbeit bei Candrian ange­treten hat, den Aufent­halts­status F. Das heisst, er war in der Schweiz „vorläufig aufgenommen“.

Was hat das F damit zu tun?

Personen mit Status F sind Personen, deren Asyl­ge­such abge­lehnt wurde, bei denen eine Wegwei­sung in das Herkunfts­land aber entweder nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich wäre. Etwa, weil dort Krieg herrscht. Beson­ders viele Personen mit Status F stammen aus Syrien, Afgha­ni­stan und Eritrea. Das Blei­be­recht wird ihnen jeweils nur für ein Jahr erteilt – und dann jedes Jahr wieder um ein Jahr verlän­gert. Offi­ziell sollten die Personen die Schweiz wieder verlassen, wenn sich die Lage in ihrem Herkunfts­land beru­higt hat. Tatsäch­lich bleiben 90 Prozent der vorläufig Aufge­nom­menen länger­fri­stig in der Schweiz. Viele für immer.

Im Kanton Zürich erhalten Personen mit Status F seit Juli 2018 nicht mehr Sozi­al­hilfe, sondern nur noch Asyl­für­sorge. Verant­wort­lich für die Auszah­lung der Asyl­für­sorge und die Unter­brin­gung der vorläufig Aufge­nom­menen sind die Gemeinden, denen sie zuge­wiesen werden. Die Gemeinden können selbst über die Höhe des ausbe­zahlten Betrags bestimmen. Die Kanto­nale Sozi­al­kom­mis­sion (Soko) stellt jedoch eine unver­bind­liche Richt­linie zur Verfü­gung. Einem Einper­sonen-Haus­halt soll demnach ein Grund­be­darf von 690 Franken pro Monat ausbe­zahlt werden. Zum Vergleich: In der Sozi­al­hilfe wird im Kanton Zürich wie in fast allen Kantonen ein Grund­be­darf von 986 Franken pro Monat ausbe­zahlt. Also rund 40 Prozent mehr.

Aber die Richt­linie der Soko ist eben nur – eine Richt­linie. In manchen Gemeinden fällt der an vorläufig Aufge­nom­mene ausbe­zahlte Grund­be­darf sogar noch deut­lich tiefer aus. Etwa in Stäfa, wo einem Einper­sonen-Haus­halt monat­lich gerade einmal 360 Franken ausbe­zahlt werden. Zwischen den verschie­denen Gemeinden gibt es also massive Unter­schiede. Das ist unge­recht. Aber es gibt keine Möglich­keit, sich dagegen zu wehren. Vorläufig Aufge­nom­mene haben kein Recht, die Wohn­ge­meinde zu wech­seln, solange sie von der Asyl­für­sorge abhängig sind.

Das Regime ist also hart, unge­recht – und bedroh­lich. Schliess­lich könnte den betrof­fenen Personen jedes Jahr wieder das Aufent­halts­recht aberkannt werden. Es scheint aber einen Ausweg zu geben.

„Inte­grieren Sie sich!“

Das Zürcher Migra­ti­onsamt erklärt, wie’s geht: „Wenn Sie sich in der Schweiz inte­grieren, können Sie die Aufent­halts­be­wil­li­gung (Ausweis B) bean­tragen.“ Aber hier geht es nicht um die Mitglied­schaft im lokalen Jodel­verein. Eine Umwand­lung der vorläu­figen Aufnahme in eine Aufent­halts­be­wil­li­gung bean­tragen kann, wer seit zwei Jahren in ein festes Arbeits­ver­hältnis einge­bunden ist und seit minde­stens einem Jahr keine Asyl­für­sorge mehr bezogen hat. Kurz: Wer aus der prekären Situa­tion mit Status F ausbre­chen will, muss einer Lohn­ar­beit nach­gehen. „Inte­grieren Sie sich!“, feuert das Migra­ti­onsamt von der Seiten­linie aus die Betrof­fenen an.

Nur: Das ist gar nicht so einfach, erklärt Moritz Wyder. Er ist Geschäfts­führer von Map F, der Zürcher Moni­to­ring- und Anlauf­stelle für vorläufig Aufge­nom­mene. Und er sagt: „Es gibt bei der Stel­len­suche viele Hinder­nisse für Personen mit Status F.“ Etwa das Label „vorläufig“. Wer will schon eine*n Arbeitnehmer*in, der oder die viel­leicht plötz­lich wieder gehen muss? „Viele Arbeit­geber vermuten zudem juri­sti­sche Hürden für die Beschäf­ti­gung von vorläufig Aufge­nom­menen, die es so gar nicht gibt“, sagt Wyder. Als Beispiel nennt er die Bewil­li­gungs­pflicht von entspre­chenden Anstel­lungen. Sie gilt seit dem ersten Januar nicht mehr, was viele Arbeit­geber gar nicht wissen.

Die Möglich­keiten sind also sehr beschränkt – fast ausschliess­lich auf den tief­sten Lohn­sektor. Auswahl gibt es wenig. Personen mit Status F müssen aber jede Jobmög­lich­keit nutzen, die sich ihnen bietet, um irgend­wann eine Aufent­halts­be­wil­li­gung bean­tragen zu können. Dafür sind zahl­reiche vorläufig Aufge­nom­mene bereit, viel auf sich zu nehmen. „Alle wollen unbe­dingt aus dem Status F raus­kommen“, sagt Wyder. „Und zwar möglichst schnell.“

Zurück zum Beispiel vom Anfang: Weshalb hat sich Aziz also nicht schon früher gegen die Arbeits­be­din­gungen bei Candrian Cate­ring gewehrt? Weil er, wenn er schon früher entlassen worden wäre, zurück in die Asyl­für­sorge gefallen wäre. Er hätte wieder von vorne anfangen, einen neuen Job suchen und dort für zwei Jahre ausharren müssen. Oder er hätte wieder mit monat­lich weniger als 700 Franken Grund­be­darf leben müssen, nie sicher, ob er plötz­lich sein Blei­be­recht verliert. Eine rich­tige Alter­na­tive zur Arbeit bei Candrian gab es für Aziz nicht: Er war seinem Arbeit­geber während zweier Jahre ausge­lie­fert. Und Aziz ist kein Einzelfall.

„Leute mit F machen Jobs, die sonst niemand macht. Um wenig­stens die Gemeinde wech­seln zu können.“

Treffen mit Zedan* in Zürich. Zedan ist 26 und lebt seit mehr als drei Jahren in der Schweiz. Aufge­wachsen ist er im heutigen Gebiet Rojavas in Syrien. Er sagt, er habe sich gut einge­lebt in Zürich. Er hat ein grosses soziales Umfeld; sein Deutsch ist fast einwand­frei. Aber offi­ziell ist er nur vorläufig aufge­nommen. „Pro Tag habe ich 19 Franken zur Verfü­gung. Ich muss jeden Rappen zählen“, sagt er. „Wenn ich einmal an einem Tag dreissig Franken ausgebe, dann muss ich am näch­sten Tag mit nur neun Franken auskommen.“ Meistens habe er schon am Zwan­zig­sten des Monats kein Geld mehr.

Er kenne schon Leute, die trotz Status F einen Job haben, sagt Zedan. „Aber man muss sich auch ansehen, was das für Jobs sind: prekäre Jobs mit sehr schlechten Löhnen und bela­stenden Arbeits­zeiten.“ Eine gute Anstel­lung habe niemand. „Leute mit F machen Jobs, die sonst niemand macht.“ Es gehe dabei nur darum, die Aufent­halts­be­wil­li­gung B zu erhalten. Oder wenig­stens die Gemeinde wech­seln zu können. Vorläufig Aufge­nom­mene seien in der Regel bereit, fast alle Jobs anzu­nehmen – egal, wie schlecht die Arbeits­be­din­gungen sind.

Zedan hat sich für einen anderen Weg entschieden. Da seine erste Ausbil­dung, die er in Syrien absol­viert hat, hier nicht aner­kannt wurde, tritt er im Herbst eine zweite Ausbil­dung an. „Ich möchte es versu­chen“, sagt er. „Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich das schaffen soll.“ Denn ein Stipen­dium steht Zedan wegen seines Aufent­halts­status nicht zu. Er bleibt also von der Asyl­für­sorge abhängig: Jedes Schul­buch wird zur finan­zi­ellen Herkulesaufgabe.

Hinzu kommt, dass seine Ausbil­dung nicht als Arbeits­ver­hältnis gilt und deshalb nichts zählt auf dem Weg zum Aufent­halts­status B. Er wird also noch sehr lange „vorläufig aufge­nommen“ bleiben. Wenn das Migra­ti­onsamt „Inte­grieren Sie sich!“ schreit, dann ist damit Lohn­ar­beit gemeint. Und sonst nichts.

Nur Hilfs­jobs verschaffen Erleichterung

Die Einbin­dung vorläufig Aufge­nom­mener in prekäre Arbeits­ver­hält­nisse, denen sie alter­na­tivlos ausge­lie­fert sind, hat also System: Eine Alter­na­tive ist schlicht nicht vorge­sehen. Dass Zedan jetzt eine Ausbil­dung absol­viert, ist eine Ausnahme. Anreize dafür, diesen Weg einzu­schlagen, gibt es kaum.

Das zeigt Wirkung, wie Thomas Schmutz von der Asyl­or­ga­ni­sa­tion Zürich (AOZ) bestä­tigt. Die selbst­stän­dige öffent­lich-recht­liche AOZ ist im Auftrag der öffent­li­chen Hand auch in den Berei­chen Arbeits­ver­mitt­lung und Inte­gra­ti­ons­be­glei­tung von Personen mit Status F tätig. Thomas Schmutz sagt, die Moti­va­tion, eine Ausbil­dung zu machen, sei zu Beginn zwar bei nicht wenigen vorhanden. Aber wegen der finan­zi­ellen Einschrän­kung in der Asyl­für­sorge sinke meist die Moti­va­tion, sich zu einer längeren Ausbil­dung zu verpflichten. Immer wieder würden Programme, die eine nach­hal­tige Berufs­in­te­gra­tion anstreben, abge­bro­chen. „Weil selbst schlechte Arbeits­ver­hält­nisse unter zwei­fel­haften Bedin­gungen aufgrund eines schnellen Verdiensts bevor­zugt werden“, sagt Schmutz. Denn ein Ausbil­dungs­lohn reicht in aller Regel nicht aus, um Unab­hän­gig­keit von der staat­li­chen Unter­stüt­zung zu erlangen, und die geringen Einnahmen werden abge­sehen von einem Einkom­mens­frei­be­trag vom ausbe­zahlten Grund­be­darf abge­zogen. Thomas Schmutz: „Der finan­zi­elle Druck führt dazu, dass vorläufig Aufge­nom­mene eher bereit sind, in einfache Hilfs­jobs zu gehen.“

Die ORS Service AG, eine eben­falls im Asyl­be­reich tätige Firma, zeichnet hingegen ein weniger düsteres Bild der Situa­tion. Die ORS hat von mehreren Zürcher Gemeinden ein Mandat für die Betreuung, Unter­stüt­zung und Unter­brin­gung vorläufig Aufge­nom­mener inne. Der Kommu­ni­ka­ti­ons­ver­ant­wort­liche der ORS, Lutz Hahn, sagt: „Personen mit Status F, mit denen wir zusam­men­ar­beiten, sind sowohl offen für Arbeits­an­ge­bote als auch für quali­fi­zie­rende Perspek­tiven.“ Ob eine Ausbil­dung oder ein Hilfsjob ange­nommen wird, sei abhängig von den jewei­ligen persön­li­chen Umständen, sagt Hahn.

Alles halb so wild?

Natür­lich gibt es vorläufig Aufge­nom­mene, die wie Zedan versu­chen, ihre Posi­tion auf dem Arbeits­markt zu stärken – um sich nicht in prekäre Arbeits­ver­hält­nisse begeben zu müssen. Klar ist aber, dass der Status F darauf nicht ausge­richtet ist. Die tiefen Ansätze in der Asyl­für­sorge sowie die Voraus­set­zungen für die Bean­tra­gung der Aufent­halts­be­wil­li­gung B drängen vorläufig Aufge­nom­mene dazu, möglichst schnell jede Möglich­keit, einer Lohn­ar­beit nach­zu­gehen, zu nutzen.

Im Take-Away-Restau­rant Buffet Express seien ausser ihm noch viele weitere Personen mit Status F ange­stellt gewesen, sagt Aziz. Sein direkter Vorge­setzter habe darum gewusst, dass sie es sich nicht leisten können, ihre Stellen zu verlieren. Deshalb habe sich ausser ihm fast niemand gewehrt – sondern sie hätten die schlechte Behand­lung über sich ergehen lassen.

In der Asyl­sta­ti­stik erscheinen diese schwei­genden Ange­stellten als Erfolgs­fälle. Sie haben eine Arbeit gefunden. Was für eine — das inter­es­siert niemanden. „Der System­wechsel von der Sozi­al­hilfe hin zur Asyl­vor­sorge ist bezüg­lich Arbeits­markt­in­te­gra­tion ein Erfolgs­mo­dell“, sagt auch Franco Canclini, Sozi­al­be­rater der Gemeinde Stäfa. Die Moti­va­tion, finan­zi­elle Unab­hän­gig­keit zu erlangen, habe dadurch zuge­nommen. Das ist gut möglich. Inzwi­schen gehen im Kanton Zürich rund 40% der vorläufig Aufge­nom­menen einer Lohn­ar­beit nach. Sie haben sich „inte­griert“. Vermut­lich zu einem grossen Teil in der für sie vorge­se­henen gesell­schaft­li­chen Rolle: ganz unten.

*Name geän­dert


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