Zwei Stunden nach Sonnenuntergang verwandelt sich die Stadt. Menschen drängen plötzlich die schmalen Gassen der Stadt Samos nach oben, mit sich schleppen sie Sprachkursmappen, Plastiktüten vom Discounter und Sixpacks. Sie scheinen es eilig zu haben, während sich das Zentrum und die Restaurants mit Tourist:innen füllen.
Die Nacht teilt die Stadt in zwei Lager: Unten die Postkartenkulisse und die flanierenden Tourist:innen, die bei guter Sicht begeistert in die Ferne zeigen, wo die türkische Küste zu erahnen ist. Oben, sieben Minuten Fussweg entfernt, der “Dschungel”, so nennen die Bewohner:innen das improvisierte Lager um das ursprüngliche Camp für Geflüchtete, das aus allen Nähten geplatzt ist. Während die Tourist:innen unter Sonnenschirmen sitzen, gibt es dort oben kaum Schatten, fliessendes Wasser oder Strom.
Seit Mai gelten Ausgangsbeschränkungen, eigentlich eine Corona-Vorsichtsmassnahme, nur noch für Geflüchtete. Von neun Uhr abends bis sieben Uhr in der Früh dürfen sie das Camp nicht verlassen. Polizeibeamte patrouillieren in den Gassen und entlang der Promenade, kontrollieren und verwarnen. In einem offenen Brief an den griechischen Minister für Migration und Asyl nennen mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen den Lockdown für Campbewohner:innen unrechtmässig.
Unten Pools, oben Wasserknappheit
Das Camp ist ein sogenannter „Hotspot“, ein Sammellager, in dem Geflüchtete registriert werden und auf ihr Asylverfahren warten. Die meisten kommen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Syrien, Pakistan, Marokko oder Algerien. Ursprünglich auf 650 Menschen angelegt, leben derzeit über 4’000 Geflüchtete im Camp und darum herum. Auf keiner der vier anderen griechischen Inseln mit einem „Hotspot“ liegt dieser so nahe an der einheimischen Bevölkerung, den 6’000 Stadtbewohner:innen von Samos. Fragt man die Geflüchteten, wie lange sie schon auf Samos sind, antworten sie nicht in Tagen, Wochen oder Monaten, sondern in Jahren.
Auf der Insel zeigt sich die festgefahrene Situation der europäischen Migrationspolitik. Ausgetragen wird sie nicht in Brüssel oder Berlin, sondern an den EU-Aussengrenzen, in kleinen Orten wie Samos. Nach neuen Plänen der EU-Kommission soll sich das bald ändern. Geflüchtete würden den Asylprozess dann nicht mehr zwangsläufig in dem Land, in dem sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben, durchlaufen.
Falls sie beispielsweise Geschwister in einem anderen Land haben, könnten sie dorthin kommen. Wird der EU-Migrationspakt umgesetzt, sollen alle Ankommenden binnen weniger Tage an den Aussengrenzen erfasst werden: EU-Staaten können Geflüchtete, die Aussicht auf Asyl haben, dann aufnehmen und werden dabei finanziell unterstützt. Migrierende mit geringen Asylchancen durchlaufen an den Aussengrenzen ein Asyl-Schnellverfahren und werden bei negativem Bescheid abgeschoben. So werde es in Zukunft keine grossen Lager auf den griechischen Inseln geben, verkündete die EU-Kommission. Ob der Plan die griechischen Inseln wirklich entlasten wird? Griechische Politiker:innen äusserten sich skeptisch.
Von Pools ohne Wasser und Hotels, in denen sie die einzigen Gäste waren, erzählen Joris van der Meere, 20, und Sjors Venhuis, 23. Ihre Semesterferien haben die beiden Niederländer trotz Corona auf Samos verbracht. Ein bisschen Strand, Klettern und Schnorcheln – und nebenher Freiwilligenarbeit im Camp leisten, so hätten sie die vergangenen Wochen verbracht.
Komisch privilegiert fühlte sich das an, sagt Joris, weisses Cappy und blonde Haare: “Wir konnten einfach in die Ferienwohnung, duschen, etwas trinken und unsere Mutter anrufen.” Und die Campbewohner:innen wüssten nicht einmal, ob ihre Eltern noch am Leben sind, ergänzt sein Freund, während im Hintergrund der Wagen der griechischen Grenzpolizei vorbeifährt. Mit gepackten Koffern und Reisetaschen stehen sie jetzt an der Strandpromenade. Morgen geht es wieder zurück nach Hause.
Im Schatten eines Zeltes sitzt Abdullah auf einem türkisen Badezimmerteppich. Vom Camp aus sieht er die Dächer der Hotels, Airbnb und Apartments, und weiss: “Wir haben nicht dieselben Rechte.” Die Hitze flimmert über den staubigen Strassen, an denen sich Zelte reihen, provisorisch zusammengeflickt aus Schlafsäcken, Decken und Stöcken. Die Türen der Chemietoiletten schwingen im Wind auf und zu.
Abdullah wäre jetzt lieber unten in der Stadt, würde gerne das tun, was 18-Jährige eben tun: Mit den Freunden am Bolzplatz rumhängen. Mehrere Male wurde er von der Polizei aus der Stadt wieder nach oben geschickt, sagt der Syrer, silberne Kette und Fussballer-Haarschnitt. Gestern habe ein Beamter gesagt: “Geh nach Hause, Malakka.” “Malakka”, so wie Arschloch. Um den Asylprozess nicht zu gefährden, will er hier nur mit Vornamen genannt werden. Seit zehn Monaten lebt der 18-Jährige mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem Zelt.
Seine Mutter Wadia brät Fisch über offenem Feuer. Der sandige Boden ist gefegt. “Wenn ich ein Zuhause hätte, könnte ich besser auf meine Kinder achten”, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette. Einen Ort wie diesen wünscht sich keine Mutter für ihre Kinder. Nachts können sie nicht schlafen, die Ratten seien so laut. Weil es kaum Waschmöglichkeiten gibt, hätten sich Allergien und Bettwanzen verbreitet, so beschreibt es Abdullah, mit der Gabel in einem Salat stochernd. Für Frühstück und Mittagessen stehen sie bis zu zwei Stunden an.
Wenige Kilometer entfernt lehnt Grigoris Tsoumakis, 86 Jahre alt, am Tresen seines Hotels. Für ihn wäre es eine Wohltat, wenn er die Geflüchteten nicht mehr sähe, sagt er. Er richtet seinen Blick zum Fenster, vor dem sie mit Smartphones in der Hand auf der Mauer sitzen und das Hotel-WLAN anzapfen. Ausser dem laufenden Fernseher ist es ruhig an diesem Mittag.
Ein zugedecktes Keyboard und rustikale Möbel stehen in der Eingangshalle, Platz für etwa hundert Gäste gäbe es, aber der Saal ist leer. Tsoumakis’ Enkel, der das Hotel einmal übernehmen will, klickt durch die Reservierungen. Die vielen leeren Kästchen auf dem Bildschirm offenbaren eine trübe Bilanz für dieses Jahr: Kaum belegte Zimmer im Juni und Juli, ein Verlust von bis zu 70 Prozent. Die Saison geht wegen der Ausgangsbeschränkungen in diesem Jahr nur fünf Monate statt sieben. In der Zeit müssen sie so viel erwirtschaften, dass sie damit über den Winter kommen und das Studium der zwei Enkel finanzieren können.
2020 sei das härteste Jahr seit er das Hotel 1984 eröffnet hat, sagt Tsoumakis. Wenn er von dieser desaströsen Urlaubssaison erzählt, spricht er aber wenig über die Corona-Pandemie, sondern vor allem über die Geflüchteten. Seit das Camp immer grösser werde, kämen weniger Gäste, glaubt Tsoumakis zu beobachten. „Die Leute haben Angst, dass Geflüchtete die Stadt übernehmen.” Ob er Kontakt zu den Geflüchteten hat? “Es ist schwierig, weil ihre Kultur und Tradition ganz anders ist,” sagt er.
Samos ist wie ein Reagenzglas, in dem man ablesen kann, was passiert, wenn über Jahre Frustration auf Frustration folgt. Die Corona-Pandemie trifft in Griechenland eine Wirtschaft, die seit über zehn Jahren strauchelnd versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Und wäre das allein nicht schon genug, fühlen sich viele Griech:innen von der europäischen Migrationspolitik nun im Stich gelassen.
Georgios Stantzos, der Bürgermeister der Inselhauptstadt, erinnert sich an die Situation vor fünf Jahren, als Angela Merkel ihr berühmtes „Wir schaffen das“ verkündete. Damals war auch er offen, arbeitete ab und zu als Rettungsschwimmer, unterstütze die Bewohner:innen, als sie hier noch die einzigen waren, die humanitären Hilfe leisteten, lange bevor die NGOs kamen.
Er sitzt mit verschränkten Armen, blauer Atemmaske und schwarz-gerahmte Brille im Gesicht hinter seinem massiven Schreibtisch im Rathaus von Vathi. Stantzos hat eine schwierige Aufgabe: Die europäische Krise, die in seiner Stadt ausgetragen wird, managen. Er sei wie ein Vermittler zwischen der Bevölkerung, deren Geduld am Ende ist, der griechischen Regierung und der EU. Im Dezember geriet er in die Schlagzeilen, als er im Stadtzentrum Geflüchtete beschimpfte, als auch ihm der Geduldsfaden riss. Was die Lösung wäre, fasst Stantzos in wenigen Worten zusammen: “Dass alle Flüchtlinge die Insel verlassen”. Die EU würde das Thema verharmlosen, sie alleine lassen.
Ende August kam der griechische Minister für Migration und Asyl zu Besuch und kündigte an, dass bis Ende des Jahres ein neues, geschlossenes Lager Erleichterung für die Insel bringen soll. Knapp 130 Millionen Euro stellte die EU Kommission Griechenland für den Bau sogenannter Mehrzweck-Aufnahme- und Identifizierungszentren auf den Inseln Samos, Leros und Kos zur Verfügung. Offiziell versprechen die semi-geschlossenen Lager eine angemessenere und standardisierte Unterbringung in Wohncontainern, mehrere hundert Security-Mitarbeiter:innen und mit Armband passierbare Tore. Eröffnet das Camp wie angekündigt bis Ende des Jahres, wird die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, jetzt durch Corona gerechtfertigt, auf Samos Normalzustand.
Bisher führt nur ein Schotterweg zur Baustelle, sieben Kilometer von Vathi entfernt. Hunde bellen in einem Käfig. Stacheldraht umzäunt das zukünftige Gelände. Nur ein einziger schattenspendender Baum steht auf dem Hügel, auf dem das erste Exempel einer humaneren Geflüchteten-Unterbringung erbaut werden soll. Was laut NGOs fehlen würde: Bildungsangebote, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit. Bevölkerung, Politik, NGOs und Geflüchtete – kaum jemand freut sich über die neuen Camps. Sie haben mittlerweile alle dasselbe Ziel: Dass die Geflüchteten die Insel so bald wie möglich verlassen.
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