Die Wahlen stehen kurz bevor, und überall lächeln Politiker*innen an Plakatwänden und geputzten Fassaden ihr vertrauenerweckendstes Lächeln. Ausserdem: kernige Slogans. Langweilig, aber gut. Wir halten die Schweiz zusammen. Die Schweiz will. Gemeinsam weiterkommen.
Aber wohin?
Stacheldraht umgibt das Asylzentrum auf dem Glaubenbergpass im Kanton Obwalden. Man fragt sich, wozu? Das ehemalige Truppenlager liegt mitten in der malerischen Innerschweizer Berglandschaft. Hier kommt niemand zufällig vorbei, hier fühlt sich keine Nachbarschaft gestört oder gar bedroht. Hier gibt es keine Nachbarschaft.
Die Anlage ist schon seit 2015 als Asylunterkunft in Betrieb. Früher als Durchgangszentrum, seit der Einführung des neuen Asylgesetzes im März 2019 als sogenanntes Bundesasylzentrum (BAZ). Nur temporär freilich: Stand heute soll das Zentrum noch bis 2022 diese Funktion erfüllen, bis ein neuer Standort gefunden wird.
Das BAZ Glaubenberg ist eines von 19 Zentren, die im Rahmen des neuen Asylgesetzes als solche in Betrieb genommen wurden. Überall in der Schweiz schiessen neue Anlagen aus dem Boden, und bestehende Einrichtungen werden umgebaut. Etwa in Zürich, wo die Eröffnung des neuen BAZ auf dem Duttweiler-Areal kurz bevorsteht, oder in Basel, wo das Asylzentrum direkt neben dem Ausschaffungsgefängnis Bässlergut und in unmittelbarer Nähe zur Landesgrenze liegt.
Das Projekt ist gewaltig, das neue Netz von Asylzentren penibel geplant und effizient umgesetzt. Für die Planung verantwortlich zeichnete SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Ihre Partei unterstützte das neue Asylgesetz im Abstimmungskampf ebenso wie die Grünen und alle anderen grossen Parteien, mit Ausnahme der SVP. Linke Opposition gab es praktisch nur vonseiten der Kleinparteien AL und BastA! Die Vorlage wurde als Kompromiss mit linkem Einschlag verkauft und bei der Volksabstimmung 2015 mit deutlicher Mehrheit angenommen.
Die Unterbringung Geflüchteter in den Bundesasylzentren bildet den Kern des neuen Asylgesetzes. Zu unterscheiden sind drei verschiedene Arten von Zentren. Zum einen diejenigen „mit Verfahrensfunktion“, in denen alle Personen, die ein Asylgesuch stellen, zunächst untergebracht werden. Zum anderen diejenigen „ohne Verfahrensfunktion“, die bezeichnenderweise den mit Abstand grössten Teil der Zentren stellen. Das sind die Zentren mit „Warte- und Ausreisefunktion“.
Hinzu kommen schliesslich die „besonderen Zentren“, die als Strafmassnahme für widerständische Asylsuchende dienen sollen. Das einzige solche Zentrum, das bis jetzt eröffnet wurde, ist wegen Unterbelegung aber bereits wieder stillgelegt. Zu wenige Personen im Asylverfahren haben sich als renitent erwiesen.
Rigides Regime mit klarem Ziel
Das überrascht wenig. Die persönlichen Freiheiten sind in allen Bundesasylzentren so eng beschnitten, dass renitentes Verhalten bereits im Keim erstickt wird. Die Zimmer der geflüchteten Personen dürfen jederzeit durchsucht werden; Privatsphäre gibt es nicht. In fast allen Bundesasylzentren gibt es sogenannte „Besinnungsräume“, in denen Personen, die sich störend verhalten, bis zu zwei Stunden eingeschlossen werden können, bis die Polizei eintrifft. Gemäss einer Untersuchung der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter geschieht dies ohne hinreichende gesetzliche Grundlage.
Auch die persönliche Unversehrtheit wird verletzt. Etwa im BAZ Embrach, wo wie vielerorts das Mitführen von verderblichem Essen verboten ist – was mit Hilfe von Ganzkörperkontrollen beim Betreten der Anlage durchgesetzt wird. Es gibt drei Mahlzeiten am Tag, Abendessen um 18:00 Uhr, und wer danach noch Hunger hat, hat Pech. Denn wie in allen Bundeszentren ist das Verlassen der Anlage am Abend nicht mehr erlaubt. Üblich sind Öffnungszeiten von 09:00 Uhr bis 17:00 Uhr. Danach hindern private Securitas-Mitarbeiter*innen und Stacheldraht die Personen daran, das Gelände zu verlassen. Die hier untergebrachten Personen leben in Halbgefangenschaft.
Das Ausmass der in den Bundesasylzentren betriebenen Repression macht deutlich, worauf das neue Asylregime ausgerichtet ist: darauf, Landesverweise möglichst effizient zu vollstrecken. Leibesvisitationen und Halbgefangenschaft sind dazu da, möglichst gute Voraussetzungen für komplikationsfreie Ausschaffungen zu schaffen, und allenfalls, um Weggewiesene zu zermürben, bis sie ‚freiwillig‘ ausreisen.
Keine Chance, keine Hoffnung
Während des abgekürzten Verfahrens muss sich eine Person, die ein Asylgesuch gestellt hat, im Bundesasylzentrum mit Verfahrensfunktion aufhalten. Sie hat kaum Möglichkeiten, mit der Gesellschaft ausserhalb des Zentrums in Kontakt zu treten; sie befindet sich gewissermassen immer noch ausserhalb des Landes. In den meisten Fällen wird es niemand merken, wenn ihr Gesuch abgelehnt wird. Dann wird sie in ein Zentrum ohne Verfahrensfunktion, etwa nach Embrach, verlegt. Hier gibt es keine Hoffnung mehr. Nur das Warten auf die Ausschaffung, die Verhandlung über die Ausreise oder das Untertauchen.
Besonders aussichtslos ist die Situation unter dem neuen Regime für sogenannte Dublin-Fälle. Also Personen, die vor der Einreise in die Schweiz schon in einem anderen EU-Land registriert wurden. Die Vorabklärungen dauern bei Dublin-Fällen gerade einmal 10 Tage. So schnell wie möglich folgt auf das Asylgesuch die Abschiebung in ein BAZ ohne Verfahrensfunktion – und darauf ins EU-Land, das gemäss Dublin-Abkommen für die Person zuständig ist. 3700 Dublin-Fälle wurden 2019 schon behandelt. Die meisten Ausschaffungen werden nach Italien durchgeführt, wo eine protofaschistische Partei damit Wahlkampf macht, dass Italien vom Rest Europas im Stich gelassen werde. Und damit Recht hat.
Der Landweg ist seit der Abschaffung des Botschaftsasyls für die allermeisten Personen der einzige Weg hierher zu gelangen, um ein Asylgesuch zu stellen. Der Weg führt also zwangsläufig durch ein anderes EU-Land, womit die Flüchtenden auch zwangsläufig zu Dublin-Fällen werden. Wem es nicht gelingt, sich illegal durch die Staaten mit EU-Aussengrenze zu schleichen, wird die Schweiz nie anders zu sehen bekommen – als durch Stacheldraht.
Mit der Isolation der Geflüchteten in Bundesasylzentren während des Verfahrens wurden ‚die Fehler‘ der vorhergehenden Asylpolitik korrigiert. Früher hatten Personen, die ein Asylgesuch gestellt haben, mindestens während der Dauer ihres Asylverfahrens die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft mehr oder weniger frei zu bewegen. Je nach Kanton, dem sie zugeteilt wurden. Viele vernetzten sich. Und je länger die Verfahren dauerten, desto schwieriger wurde es, einen allfälligen Landesverweis zu vollziehen. Freundschaften, Kontakte zu engagierten Anwält*innen und Aktivist*innen oder auch Heiraten: Persönliche Beziehungen wurden als Sand im Getriebe der Asylmaschinerie erkannt und weitgehend verunmöglicht.
Das ganze Leben der Asylgesuchstellenden soll sich stattdessen nur noch innerhalb des Zentrums abspielen. Dort, wo gegen aussen vertretene rechtsstaatliche Prinzipien ihre Gültigkeit verlieren. Etwa das Recht auf Rechte. Zwar wird Personen im Asylverfahren seit Neustem eine kostenlose Rechtsvertretung zur Seite gestellt. Aber das System weist massive Mängel auf, wie die Demokratischen Jurist_innen (DJS) in mehreren Stellungnahmen festhielten.
Die Rechtsvertretung wird pauschal vergütet, sodass sie ein finanzielles Interesse an der möglichst schnellen Erledigung jedes Mandats hat. Wenn sie einen Rekurs für aussichtslos erachtet, ist sie vom SEM angehalten, ihr Mandat niederzulegen. Und wenn sie das tut, bleibt der gesuchstellenden Person eine Rekursfrist von gerade einmal sieben Tagen – um eine*n neue*n Anwält*in zu finden und Rekurs einzulegen. Während sie vorher daran gehindert wurde, mit der lokalen Zivilgesellschaft in Kontakt zu treten. Es handle sich um ein Regime, sagen die DJS, „das die um Asyl ersuchenden Menschen interniert und deren Rechte abbaut“.
Glitzerfassaden steinharter Bürgerlichkeit
Am Beispiel der Rechtsvertretung wird sichtbar, wie das neue Asylgesetz funktioniert. Was zunächst gut aussieht, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als gnadenloses Regime zur Verhinderung des Aufenthalts von Personen, deren Bleiberecht aberkannt wird. Auch die Fassade des neuen BAZ Zürich auf dem Duttweiler-Areal glänzt. Aber dahinter verbirgt sich ein Lager.
Euphemismen wie „Besinnungsraum“ oder „Zentrum mit Wartefunktion“ sollen nicht darüber hinwegtäuschen können, wie das Schweizer Asylwesen funktioniert. Ein BAZ ist ein Raum, in dem Personen, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, in Halbgefangenschaft leben, vom Rest der Gesellschaft isoliert werden, sich nicht hinreichend gut gegen die an ihnen verübte Staatsgewalt wehren können – und Sondergesetzen unterstellt werden.
Gemeinsam bilden die Bundeslager verschiedener Funktionen ein engmaschiges Netz zur möglichst effizienten Verwaltung derjenigen Personen, die darin festgehalten sind. Um sie daran zu hindern, Teil einer Gesellschaft zu werden, in der sie nicht erwünscht sind. Auch die Demokratischen Jurist_innen schreiben in einer ihrer Stellungnahmen im Zusammenhang mit dem neuen Asylregime von „Lagerpolitik mit Sonderrecht“.
Und trotzdem gibt es kaum Widerstand. Die Ratslinken haben mit ihrer Zustimmung zur Asylgesetzrevision die Opposition gegen die Schweizer Asylpolitik der SVP überlassen. Die linke Kritik auf der anderen Seite wurde damit weitestgehend marginalisiert.
Die Ideologie der Schweizer Sozialdemokratie scheint nicht mehr im Widerspruch zu Stacheldraht und Internierung zu stehen. Vielsagend ist das Bild der Grundsteinlegung des neuen Bundeslagers in Zürich, welches das Ajour-Magazin im Frühling bekannt machte. Auf dem Bild zu sehen sind Simonetta Sommaruga, Mario Fehr und Raphael Golta, die sich mit einer Schaufel an den Bauarbeiten betätigen. Sie alle sind Mitglieder der SP, alle sind in Exekutivämtern tätig und alle sind zu diesem Zeitpunkt für den repressiven Asylbereich mitzuständig. Die Asylgesetzrevision ist kein Einzelfall – und das ist verheerend.
Denn bei den kommenden Wahlen steht eine Alternative zur herrschenden Asylpolitik kaum mehr zur Wahl. Das Narrativ, dass ‚nicht alle kommen können‘, ist konkurrenzlos; dass es deshalb erlaubt ist, Personen auch fundamentalste Rechte abzusprechen, unumstrittener Mainstream. Die wichtige Frage ist heute deshalb eigentlich nicht mehr, ob ‚alle kommen können‘. Sondern ob eine Gesellschaft, die scheinbar ohne Widerstand so weit zu gehen bereit ist, in dieser Form überhaupt noch erhaltenswert ist.
Zurück auf den Glaubenbergpass. Hier ist die Schweiz so, wie sie sich viele wünschen. Mit spektakulärer Aussicht, unberührter Natur, friedlicher Stimmung – und einem Lager fernab der Gesellschaft. Einem Lager, in dem Personen festgehalten werden, die hier hätten leben wollen, aber die nicht erwünscht sind, und die deshalb auf der falschen Seite des Stacheldrahts stehen. Hoffnungslos. Isoliert. Hier ist die Schweiz, so wie sie ist: ein Land der Lager.
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