Die Schweiz und ihre blühende Rape Culture

Das Bundes­ge­richt hat in einem Verge­wal­ti­gungs­fall entschieden, dass die „relativ kurze Dauer” des Über­griffs bei der Straf­zu­mes­sung berück­sich­tigt werden soll. Dieses Urteil sendet ein gefähr­li­ches Signal. 
Das Bundesgerichtsurteil schützt die Täter und lässt die Betroffene im Stich. (Illustration: Anna Egli)

Ich bin wütend, verzwei­felt, frustriert, entsetzt, rasend, ange­wi­dert; you name it, I feel it. Ein paar Tage vor dem Inter­na­tio­nalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November haben sich die News aus dem Patri­ar­chat mal wieder über­schlagen. Einer­seits wurde bekannt gegeben, dass der Bund geplante Gelder für eine natio­nale Präven­ti­ons­kam­pagne gegen Gewalt im Zuge einer Spar­mass­nahme faktisch streicht – immerhin scheint das Parla­ment diesen Entscheid nun korri­gieren zu wollen.

Ande­rer­seits, und das ist der Punkt, der mich im Schnell­durch­lauf mit allen oben genannten Gefühlen konfron­tiert, wurde am 22. November ein Bundes­ge­richts­ur­teil publi­ziert, das ein entsetz­li­ches Signal aussendet: Die „relativ kurze Dauer” einer Verge­wal­ti­gung kann und darf das Straf­mass zugun­sten des Täters beeinflussen.

Beschä­mende Medienberichterstattung

Aber von vorn: Anfang 2020 verge­wal­tigten zwei Männer eine Baslerin vor ihrem Haus­ein­gang. Sie erstat­tete Anzeige und der Fall landete zuerst beim Straf­ge­richt Basel-Stadt und schliess­lich beim Basler Appel­la­ti­ons­ge­richt. Im Sommer 2021 fällte das Appel­la­ti­ons­ge­richt ein Urteil. Der Schuld­spruch: Verge­wal­ti­gung, versuchte Verge­wal­ti­gung sowie sexu­elle Nötigung.

Das hielt Gerichts­prä­si­dentin Lise­lotte Henz (FDP) nicht davon ab, sich am Schluss der Verhand­lung zu miso­gynen Aussagen über die Betrof­fene hinreissen zu lassen: Sie habe „mit dem Feuer” gespielt oder „Signale an Männer” ausge­sendet. In der Urteils­be­grün­dung schrieb das Gericht unter dem Punkt der Straf­zu­mes­sung zudem, dass in Bezug auf das objek­tive Verschulden des Täters zu berück­sich­tigen sei, dass „der Über­griff eher kurz gedauert habe”.

Mit „kurz” meinte das Gericht elf Minuten. Der Aufschrei war entspre­chend laut: Aktivist*innen, Expert*innen und Politiker*innen prote­stierten gegen die Urteils­be­grün­dung. An einer Demon­stra­tion in Basel hoben Anwe­sende elf Minuten lang still­schwei­gend ihre Arme in die Luft.

Als der Fall 2021 einen ersten Medi­en­wirbel auslöste, schrieben alle über diese elf Minuten. Die Zahl stammt höchst­wahr­schein­lich von der münd­li­chen Gerichts­ver­hand­lung am Basler Appel­la­ti­ons­ge­richt und wurde dann von anwe­senden Journalist*innen in ihren Arti­keln verwendet. Ob sie ursprüng­lich von der Betrof­fenen, der Staats­an­walt­schaft oder den Richter*innen geäus­sert wurde, ist jedoch unklar.

So oder so schreibt das Basler Appel­la­ti­ons­ge­richt in der schrift­li­chen Urteils­be­grün­dung plötz­lich etwas anderes: „Aufgrund der Video­auf­nahme [...] ist ferner erstellt, dass der gesamte Über­griff im Wind­fang unge­fähr sechs bis maximal sieben Minuten dauerte.”

Ob der Über­griff nun sieben oder elf Minuten dauerte, ist weder für diese Kolumne noch für die Öffent­lich­keit wirk­lich rele­vant. Denn jede Sekunde ist eine Sekunde zu viel. Da öffent­lich jedoch immer über elf Minuten gespro­chen und geschrieben wurde, verwenden auch wir diese Zahl.

Sowohl die Staats­an­walt­schaft Basel wie auch einer der Täter fochten das Urteil an, sodass es beim Bundes­ge­richt landete.

Kaum wurde das Bundes­ge­richts­ur­teil Ende November publi­ziert, begann die beschä­mende Medi­en­be­richt­erstat­tung: Das SRF titelte „Brisantes Urteil zu Basler Verge­wal­ti­gungs­fall” und fasste dann in einem zyni­schen Tonfall und mit sehr expli­ziten Beschrei­bungen der sexua­li­sierten Gewalt den Fall zusammen. „Brisant” – als würden sie eine CSI-Folge in einem TV-Guide beschreiben – fanden es dann auch der Tages-Anzeiger, der Blick und nau.ch.

Wie abschätzig, reali­täts­fremd und menschen­feind­lich muss man sein, um eine elf-minü­tige Verge­wal­ti­gung als „kurz” zu bezeichnen?

20 Minuten entschied genauso wie der Tagi auf den „posi­tiven” Aspekt des Bundes­ge­richts­ur­teils zu fokus­sieren und den eigent­li­chen Skandal kaum bezie­hungs­weise nicht zu erwähnen: Das Bundes­ge­richt korri­gierte den Basler Schuld­spruch nämlich inso­fern, als dass es nicht straf­mil­dernd wirken darf, wenn die Betrof­fene vor der Tat mit jemand anderem sexu­elle Hand­lungen durch­ge­führt hat.

Während das eine wich­tige Korrektur des ursprüng­li­chen Urteils ist, fühlt sich die Bericht­erstat­tung etwa gleich an, wie wenn Eltern einem Klein­kind einen Keks geben, weil es heute in der Spiel­gruppe ausnahms­weise mal niemanden gebissen hat. Sure kid, well done – but that’s the bare minimum.

660 Sekunden zu viel

Statt uns mit einer mini­malen Verbes­se­rung zufrieden zu geben, sollten wir kollektiv anpran­gern, welche kata­stro­phalen Folgen dieses Urteil für künf­tige Straf­rechts­fälle und unsere Gesell­schaft haben kann. Das Bundes­ge­richt schreibt in seinem Urteil nämlich: „So ist bundes­rechts­kon­form, dass die Vorin­stanz die (im Vergleich relativ kurze) Dauer der Verge­wal­ti­gung berücksichtigt.”

„Bundes­rechts­kon­form”. Gemäss den drei Bundesrichter*innen, die in diesem Fall das Bundes­recht ausge­legt und inter­pre­tiert haben, stützt das Bundes­recht diese Vorge­hens­weise. Das heisst, dass Schweizer Straf­be­hörden diese Argu­men­ta­tion in künf­tigen Fällen über­nehmen dürfen – ja viel­leicht sogar sollen. Auf der Webseite des Bundes­ge­richts steht, dass seine Entscheide „als Wegweiser dienen”. Das Urteil ist nicht verbind­lich, gibt aber sehr wohl eine Rich­tung vor, die nun auch untere Gerichte einschlagen können und werden.

Wenn wir anfangen, Trau­mata gegen­ein­ander abzu­wägen, eines als schlimmer zu bewerten als das andere, bewegen wir uns in eine sehr proble­ma­ti­sche Richtung.

Es kann niemanden mehr über­ra­schen, dass die Anzei­ge­rate bei Fällen von sexua­li­sierter Gewalt bei verschwin­dend tiefen acht Prozent liegt. Es ist auch nichts Neues, dass unser Straf­ver­fahren nicht auf Betrof­fene ausge­richtet ist. Aber dass das höchste Gericht unseres Landes unser Straf­ge­setz­buch auf diese Wiese inter­pre­tieren, das nahezu folgenlos veröf­fent­li­chen und ein Stück weit zemen­tieren kann, schockiert mich.

Es geht um elf Minuten. 660 Sekunden.

Ein elf-minü­tiger Spiel­film ist kurz. Eine elf-minü­tige Mittags­pause ist kurz. Ein elf-minü­tiges Konzert ist kurz. Aber eine solch trau­ma­ti­sche Erfah­rung wie eine Verge­wal­ti­gung? Wie abschätzig, reali­täts­fremd und menschen­feind­lich muss man sein, um das als „kurz” zu bezeichnen?

Wir sind hier nicht bei einem Trauma-Wett­be­werb! Elf Minuten sind nicht so schlimm, weil es ja auch dreissig hätten sein können, oder mehrere Stunden oder gar mehrere Tage – oder wie lautet hier das Argu­ment? Wenn die Schä­di­gung geschehen ist, dann ist sie geschehen. Wenn wir aber anfangen, Trau­mata gegen­ein­ander abzu­wägen, eines als schlimmer zu bewerten als das andere, bewegen wir uns in eine sehr proble­ma­ti­sche Richtung.

Es wird der Mythos aufrecht­erhalten, dass ein solcher Eingriff in die körper­liche Inte­grität über­haupt objektiv gemessen und mit anderen Fällen vergli­chen werden kann.

Doch genau das macht die Schweiz und ihre blühende Rape Culture aus: Sexua­li­sierte Gewalt wird verharm­lost, Betrof­fenen wird grund­sätz­lich nicht geglaubt und Tatper­sonen werden entla­stet und geschützt. Dass die Dauer einer Verge­wal­ti­gung als vermeint­lich objek­tiver Sach­ver­halt mitein­be­zogen wird, um zu entscheiden, wie gravie­rend die Tat war – statt einfach den Betrof­fenen zuzu­hören und zu glauben –, ist nur das neueste Beispiel dafür.

Wie würden die drei Bundesrichter*innen wohl diese elf Minuten beur­teilen, wenn sie in dieser Zeit ihre Hände auf eine heisse Herd­platte legen müssten?

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache” abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) über­tragen. Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betrof­fenen, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Ein gefähr­li­ches Signal

Ich bin so wütend, dass ich kaum weiss, wie ich es in Worte fassen soll. Und ich versuche es dennoch. Auch wenn sich so eine Kolumne lächer­lich zahm anfühlt, wenn ich doch eigent­lich einfach alles anzünden will. Dieses Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Über­le­benden sexua­li­sierter Gewalt und ein gefähr­li­ches Signal an alle (poten­zi­ellen) Tatpersonen.

Wenn im Rahmen eines Straf­ver­fah­rens scheinbar so leicht­fertig von „einer relativ kurzen Dauer” der Verge­wal­ti­gung gespro­chen wird, wird einer­seits die Erfah­rung der Betrof­fenen massiv abge­wertet. Ande­rer­seits wird der Mythos aufrecht­erhalten, dass ein solcher Eingriff in die körper­liche Inte­grität über­haupt objektiv gemessen und mit anderen Fällen vergli­chen werden kann.

Es ist eben kein Dieb­stahl, bei dem man schön säuber­lich alle fehlenden Gegen­stände und ihren Waren­wert aufli­sten kann. Es geht um eine zutiefst schä­di­gende Grenz­über­schrei­tung, die nur Betrof­fene selbst beur­teilen können.

Dass das Straf­ver­fahren mit „objek­tiven Sach­ver­halten” arbeitet, ist einer seiner grossen Schwie­rig­keiten, weil sich diese Sach­ver­halte selten eins-zu-eins aus der Realität ableiten lassen – vor allem wenn es um soge­nannte Vier-Augen-Delikte geht. Während es also irgendwie logisch erscheint, dass eine Verge­wal­ti­gung höher bestraft wird als eine sexu­elle Belä­sti­gung, ist es befrem­dend, dass die Dauer des Über­griffs als strafmildernd ausge­legt werden kann.

Das Signal, das so ausge­sendet wird, ist: Kurze Verge­wal­ti­gungen sind besser. Und das ist eine gefähr­liche Botschaft.

Statt von aussen die „objek­tiven Sach­ver­halte” abzu­klap­pern und Betrof­fene im Straf­ver­fahren zu retrau­ma­ti­sieren, müssten die Straf­be­hörden Betrof­fenen richtig zuhören und sie schützen. Statt verharm­lo­sende Berichte zu publi­zieren, müssten Medien ihre Verant­wor­tung als vierte Gewalt ernst nehmen und fundierte Kritik äussern. Statt „sie lügt/übertreibt doch” zu schreien, müssten wir alle Betrof­fenen glauben und sie fragen, wie wir sie unter­stützen können.


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.