„Einer der wich­tig­sten Kämpfe der inter­na­tio­nalen Linken“

Zwei Vorstösse fordern im Zürcher Gemein­derat eine 35-Stunden Woche. Im Inter­view mit Simon Muster erklärt SP-Gemein­de­rätin Anna Graff, weshalb die Forde­rung gerade jetzt aufkommt. 
Arbeit - aber mit Sicherheit, auch bei verkürzter Wochenarbeitszeit (Foto: Josh Olalde, Unsplash)

Es ist eine der Grund­for­de­rungen der Sozi­al­de­mo­kratie: Weniger Arbeit bei glei­chem Lohn. Und sie wird bald im Stadt­zür­cher Gemein­derat disku­tiert. Anna Graff (SP) und David Garcia Nuñez (AL) haben Ende Juni zwei Vorstösse eingereicht.

In einer Motion fordern sie vom Stadtrat einen Kredit für ein Pilot­pro­jekt, das die Einfüh­rung einer 35-Stunden Woche für städ­ti­sche Ange­stellte im Schicht­be­trieb, also in der Pflege- und Betreuung oder bei den Verkehrs­be­trieben, wissen­schaft­lich begleitet. Die wegfal­lenden Arbeits­stunden sollen mit einer Aufstockung der Stel­len­pro­zente erreicht werden.

In einem zweiten Vorstoss fordern die beiden Parlamentarier*innen, dass der Stadtrat über­prüfen soll, wie ein ähnli­ches Projekt für inter­es­sierte Unter­nehmen umge­setzt werden kann.

Das Lamm: Anna Graff, warum sollten die Menschen gerade jetzt anfangen, weniger zu arbeiten?

Anna Graff: Die Pandemie hat viele Sicher­heiten, die bisher bestanden haben, infrage gestellt: Lange Arbeits­wege, Präsenz­pflicht am Arbeits­platz und an Meetings. Das war zwar nicht der einzige Auslöser dafür, dass wir die Forde­rung nach Arbeits­zeit­re­duk­tion auf das poli­ti­sche Tapet bringen, schliess­lich ist die Reduk­tion der Arbeits­zeit einer der wich­tig­sten Kämpfe der inter­na­tio­nalen Linken. Aber jetzt ist der rich­tige Zeit­punkt, auch, weil einige Unter­nehmen bereits frei­willig die Arbeits­zeit redu­zieren, um attrak­ti­vere Arbeit­geber zu werden.

Warum ist der Kampf für eine Arbeits­zeit­re­duk­tion zentral?

Für die Ange­stellten bedeutet sie weniger Stress und mehr Frei­zeit, was gemäss Studien aus Island zu einer Verbes­se­rung der Work-Life-Balance führt und somit zu weniger Stress­er­kran­kungen und Burn­outs. Davon profi­tieren auch die Arbeit­geber, weil das zu weniger krank­heits­be­dingten Ausfällen führt.

Auf der Makro­ebene kann die Reduk­tion der Arbeits­zeit auch zu einer Umver­tei­lung der Care- und Lohn­ar­beit führen, weil die Personen, die bis jetzt 42 Stunden gear­beitet haben, mehr Zeit haben, um Betreu­ungs­ar­beit zu über­nehmen, und jene, die Teil­zeit arbeiten, eine Lohn­er­hö­hung erhalten.

Und: Eine Reduk­tion der Arbeits­zeit könnte einen posi­tiven Effekt auf das Klima haben, weil wir so ein Stück weit von der Wachs­tums­logik wegkommen.

Aber weil das Pilot­pro­jekt frei­willig ist, werden Unter­nehmen nur dann teil­nehmen, wenn ihre Produk­ti­vität nicht sinkt. Gleich­zeitig erhalten die Leute mehr Zeit und Geld zum Konsu­mieren. Das wider­spricht doch der Idee, dass man so von der Wachs­tums­logik wegkommt.

Die Frage ist, wie Produk­ti­vität defi­niert wird: Wenn es darum geht, wie viel neue Autos produ­ziert werden, haben Sie recht. Wenn es aber darum geht, was für neue Ideen entstehen – zum Beispiel in der Wissen­schaft –, dann ist das keine klima­schäd­liche Produktivitätssteigerung.

Was sicher einen posi­tiven Effekt auf das Klima haben wird: Wir fordern beim Versuch mit Unter­nehmen explizit, dass die 35 Arbeits­stunden in einer Vier­ta­ge­woche gelei­stet werden müssen, was zu weniger Pendel­ver­kehr führen wird.

Aktuell fehlen vielen Bran­chen die Arbeits­kräfte, das Boden­per­sonal am Flug­hafen Zürich hat den Krisen-GAV aus Pande­mie­zeiten gekün­digt. Jetzt fordern Sie eine Arbeits­zeit­re­duk­tion im Parla­ment. Sitzt die Arbeiter*innenschaft aktuell am längeren Hebel?

Ich glaube nicht, dass man das so pauschal sagen kann. Unsere Vorstösse gehen ja in zwei Rich­tungen: Die Motion betrifft Ange­stellte bei der Stadt, das Postulat möchte hingegen Anreize für Unter­nehmen schaffen, an einem wissen­schaft­li­chen Versuch teil­zu­nehmen und die Arbeits­zeit für ihre Ange­stellten zu redu­zieren. Und gerade im Gastro- und Hotel­lerie-Bereich suchen Letz­tere jetzt hände­rin­gend nach Personal. Das geht nur über attrak­ti­vere Arbeitsbedingungen.

Hatten Sie im Vorfeld Kontakt mit Unternehmen?

Nein. Wir möchten, dass der Stadtrat jetzt die entspre­chenden Gespräche sucht und dieses Pilot­pro­jekt zusammen mit inter­es­sierten Unter­nehmen aufgleist. Wenn man bereits im Vorfeld alle mögli­chen Bedenken mitein­be­zieht, kommt man in der Politik nicht vorwärts. Ich gehe aber davon aus, dass viele Unter­nehmen an einer Teil­nahme inter­es­siert wären.

Die Vorstösse beziehen sich auch auf eine Motion im Natio­nalrat, die eine Reduk­tion der Arbeits­zeit auf 35 Stunden inner­halb der näch­sten zehn Jahre mit Lohn­aus­gleich für tiefe und mitt­lere Löhne verlangt. Sollte Zürich nicht zuerst diese Debatte abwarten?

In der Stadt haben wir andere Mehr­heiten und können der natio­nalen Gesetz­ge­bung mit Pilot­ver­su­chen voran­gehen. Leider können wir in der Stadt keine allge­meinen Anpas­sungen der Arbeits­zeit­mo­delle verfügen. Wir können nur die Arbeits­be­din­gungen der städ­ti­schen Ange­stellten verbes­sern, was wir mit der Motion für die beson­ders bela­steten Ange­stellten im Schicht­be­trieb versuchen.

Weil aber der grösste Teil der Menschen in der Privat­wirt­schaft arbeitet, müssen wir auch deren Arbeits­be­din­gungen verbes­sern. Mit unserem zweiten Vorstoss können wir einen frei­wil­ligen Versuch lancieren, mit dem Ängste abge­baut und bisher skep­ti­sche Leute über­zeugt werden können, dass eine Arbeits­zeit­re­duk­tion im Sinne aller ist.

So gesehen ist unser Postulat eigent­lich ein durch und durch libe­rales Anliegen: Der Staat setzt für Unter­nehmen Anreize, damit diese inno­vativ sein können. Aber klar: Endziel ist eine Arbeits­zeit­re­duk­tion für alle, und das kann nur auf natio­naler Ebene geschehen.


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