Es ist eine der Grundforderungen der Sozialdemokratie: Weniger Arbeit bei gleichem Lohn. Und sie wird bald im Stadtzürcher Gemeinderat diskutiert. Anna Graff (SP) und David Garcia Nuñez (AL) haben Ende Juni zwei Vorstösse eingereicht.
In einer Motion fordern sie vom Stadtrat einen Kredit für ein Pilotprojekt, das die Einführung einer 35-Stunden Woche für städtische Angestellte im Schichtbetrieb, also in der Pflege- und Betreuung oder bei den Verkehrsbetrieben, wissenschaftlich begleitet. Die wegfallenden Arbeitsstunden sollen mit einer Aufstockung der Stellenprozente erreicht werden.
In einem zweiten Vorstoss fordern die beiden Parlamentarier*innen, dass der Stadtrat überprüfen soll, wie ein ähnliches Projekt für interessierte Unternehmen umgesetzt werden kann.
Das Lamm: Anna Graff, warum sollten die Menschen gerade jetzt anfangen, weniger zu arbeiten?
Anna Graff: Die Pandemie hat viele Sicherheiten, die bisher bestanden haben, infrage gestellt: Lange Arbeitswege, Präsenzpflicht am Arbeitsplatz und an Meetings. Das war zwar nicht der einzige Auslöser dafür, dass wir die Forderung nach Arbeitszeitreduktion auf das politische Tapet bringen, schliesslich ist die Reduktion der Arbeitszeit einer der wichtigsten Kämpfe der internationalen Linken. Aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt, auch, weil einige Unternehmen bereits freiwillig die Arbeitszeit reduzieren, um attraktivere Arbeitgeber zu werden.
Warum ist der Kampf für eine Arbeitszeitreduktion zentral?
Für die Angestellten bedeutet sie weniger Stress und mehr Freizeit, was gemäss Studien aus Island zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance führt und somit zu weniger Stresserkrankungen und Burnouts. Davon profitieren auch die Arbeitgeber, weil das zu weniger krankheitsbedingten Ausfällen führt.
Auf der Makroebene kann die Reduktion der Arbeitszeit auch zu einer Umverteilung der Care- und Lohnarbeit führen, weil die Personen, die bis jetzt 42 Stunden gearbeitet haben, mehr Zeit haben, um Betreuungsarbeit zu übernehmen, und jene, die Teilzeit arbeiten, eine Lohnerhöhung erhalten.
Und: Eine Reduktion der Arbeitszeit könnte einen positiven Effekt auf das Klima haben, weil wir so ein Stück weit von der Wachstumslogik wegkommen.
Aber weil das Pilotprojekt freiwillig ist, werden Unternehmen nur dann teilnehmen, wenn ihre Produktivität nicht sinkt. Gleichzeitig erhalten die Leute mehr Zeit und Geld zum Konsumieren. Das widerspricht doch der Idee, dass man so von der Wachstumslogik wegkommt.
Die Frage ist, wie Produktivität definiert wird: Wenn es darum geht, wie viel neue Autos produziert werden, haben Sie recht. Wenn es aber darum geht, was für neue Ideen entstehen – zum Beispiel in der Wissenschaft –, dann ist das keine klimaschädliche Produktivitätssteigerung.
Was sicher einen positiven Effekt auf das Klima haben wird: Wir fordern beim Versuch mit Unternehmen explizit, dass die 35 Arbeitsstunden in einer Viertagewoche geleistet werden müssen, was zu weniger Pendelverkehr führen wird.
Aktuell fehlen vielen Branchen die Arbeitskräfte, das Bodenpersonal am Flughafen Zürich hat den Krisen-GAV aus Pandemiezeiten gekündigt. Jetzt fordern Sie eine Arbeitszeitreduktion im Parlament. Sitzt die Arbeiter*innenschaft aktuell am längeren Hebel?
Ich glaube nicht, dass man das so pauschal sagen kann. Unsere Vorstösse gehen ja in zwei Richtungen: Die Motion betrifft Angestellte bei der Stadt, das Postulat möchte hingegen Anreize für Unternehmen schaffen, an einem wissenschaftlichen Versuch teilzunehmen und die Arbeitszeit für ihre Angestellten zu reduzieren. Und gerade im Gastro- und Hotellerie-Bereich suchen Letztere jetzt händeringend nach Personal. Das geht nur über attraktivere Arbeitsbedingungen.
Hatten Sie im Vorfeld Kontakt mit Unternehmen?
Nein. Wir möchten, dass der Stadtrat jetzt die entsprechenden Gespräche sucht und dieses Pilotprojekt zusammen mit interessierten Unternehmen aufgleist. Wenn man bereits im Vorfeld alle möglichen Bedenken miteinbezieht, kommt man in der Politik nicht vorwärts. Ich gehe aber davon aus, dass viele Unternehmen an einer Teilnahme interessiert wären.
Die Vorstösse beziehen sich auch auf eine Motion im Nationalrat, die eine Reduktion der Arbeitszeit auf 35 Stunden innerhalb der nächsten zehn Jahre mit Lohnausgleich für tiefe und mittlere Löhne verlangt. Sollte Zürich nicht zuerst diese Debatte abwarten?
In der Stadt haben wir andere Mehrheiten und können der nationalen Gesetzgebung mit Pilotversuchen vorangehen. Leider können wir in der Stadt keine allgemeinen Anpassungen der Arbeitszeitmodelle verfügen. Wir können nur die Arbeitsbedingungen der städtischen Angestellten verbessern, was wir mit der Motion für die besonders belasteten Angestellten im Schichtbetrieb versuchen.
Weil aber der grösste Teil der Menschen in der Privatwirtschaft arbeitet, müssen wir auch deren Arbeitsbedingungen verbessern. Mit unserem zweiten Vorstoss können wir einen freiwilligen Versuch lancieren, mit dem Ängste abgebaut und bisher skeptische Leute überzeugt werden können, dass eine Arbeitszeitreduktion im Sinne aller ist.
So gesehen ist unser Postulat eigentlich ein durch und durch liberales Anliegen: Der Staat setzt für Unternehmen Anreize, damit diese innovativ sein können. Aber klar: Endziel ist eine Arbeitszeitreduktion für alle, und das kann nur auf nationaler Ebene geschehen.
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