„Es gibt keinen legalen Weg mehr, Serbien zu verlassen“

Die Aktivist*innen von klik­aktiv leisten in Serbien Geflüch­teten juri­sti­sche und psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung. Im Inter­view mit das Lamm infor­mieren sie über die Situa­tion an Serbiens Grenzen. 
Ein Polizeiauto an der serbisch-ungarischen Grenze. (Foto: Bőr Benedek)

Im Jahr der plötz­li­chen Grenz­schlies­sungen hat sich die Situa­tion an den EU-Aussen­grenzen drama­tisch zuge­spitzt. Nicht nur in Grie­chen­land, sondern auch weiter nörd­lich auf der West­bal­kan­route in Serbien.

Von der hiesigen Öffent­lich­keit weit­ge­hend unbe­achtet werden hier Geflüch­tete beim Versuch, in die EU zu gelangen, radikal entrechtet. Immer wieder werden Personen bei soge­nannten Push-Backs getötet: Also wenn Grenzübertreter*innen ohne Prüfung ihrer Flucht­gründe zurück über die Grenze gestossen werden. Tausende Menschen stecken in Serbien fest.

Die Orga­ni­sa­tion klik­aktiv mit Sitz in Belgrad leistet seit 2014 Wider­stand. Ihre Aktivist*innen bieten Geflüch­teten juri­sti­sche und psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung, etwa in den grossen Beset­zungen an den Grenzen Serbiens. Wie andere zivil­ge­sell­schaft­liche Akteur*innen sehen sie sich mit zuneh­mender Krimi­na­li­sie­rung ihrer Arbeit konfrontiert.

Der Hohe Flücht­lings­kom­missar der Vereinten Nationen (UNHCR) verschliesst derweil die Augen. Und von der EU ist keine Unter­stüt­zung zu erwarten: Viel­mehr steht ihre Politik am Ursprung der Verbrechen.

Der Sozi­al­ar­beiter Vuk Vuck­ovic und die Anwältin Milica Svabic von klik­aktiv reden im Inter­view mit das Lamm über die momen­tane Situa­tion an den Grenzen, die Entwick­lungen im Jahr von Corona –  und über mögliche Folgen von Serbiens Beitritt zur Dublin-Zone.

Das Lamm: Was beschäf­tigt euch bei eurer Arbeit zurzeit am meisten? 

Vuk Vuck­ovic: Die Krimi­na­li­sie­rung der huma­ni­tären Hilfe ist ein grosses Problem. Im Moment ist es schwierig, über­haupt unserer Arbeit nach­gehen zu können. Rund um die Beset­zungen nahe den Grenzen ist die Polizei sehr präsent. Wenn wir hinfahren, um Unter­stüt­zung zu leisten und Bera­tungen durch­zu­führen, lassen uns die Polizist*innen nicht aus den Augen. Sie weisen uns an, wegzu­fahren und unsere Arbeit zu unter­lassen. Ohne jegliche gesetz­liche Grund­lage – und damit eigent­lich illegal. Unter diesen Umständen will natür­lich niemand mit uns reden. Verhaftet wurden wir bis jetzt aber noch nie.

Milica Svabic: Ein weiteres akutes Problem ist, dass Push-Backs in letzter Zeit deut­lich zuge­nommen haben: von der EU nach Serbien, aber auch von Serbien aus in andere Länder. Die Polizei geht zu den Beset­zungen und greift Geflüch­tete auf, um sie zurück nach Bulga­rien oder Maze­do­nien zu zwingen. Wir versu­chen, das zu verhindern.

Vuk Vuck­ovic: Inter­es­sant ist, dass die unga­ri­schen Behörden seit einigen Monaten etwas weniger Gewalt anwenden bei Push-Backs. Dafür wurden rumä­ni­sche Polizist*innen deut­lich gewalt­tä­tiger. Wir beob­achten da eine neue Ebene der Bruta­lität: Sie stehlen den Flüch­tenden ihr Gepäck, ihre Smart­phones, alles, was sie besitzen, und zwingen sie mit massiver Gewalt zurück nach Serbien. Die Grenz­über­tritte wurden gefährlicher.

Gibt es denn eine legale Möglich­keit für Flüch­tende, von Serbien aus weiter in die EU zu gelangen?

Milica Svabic: Bis vor Kurzem gab es das noch: über unga­ri­sche Transit-Center an der Grenze. Von Anfang an stand dieser Weg aber nur sehr wenigen offen. 2016, als die Transit-Center noch neu waren, wurden aber immerhin noch rund 30 Leute pro Tag auf die entspre­chende Liste gesetzt. Am Ende war es nur noch eine Familie pro Woche. Diesen Sommer wurden die Transit-Camps schliess­lich ganz geschlossen. Jetzt gibt es für die Geflüch­teten keinen legalen Weg mehr, Serbien zu verlassen.

Welche Auswir­kungen hatte diese Schliessung?

Milica Svabic: Auch wenn die Chance immer klein war, gab sie doch vielen Geflüch­teten Hoff­nung und moti­vierte sie dazu, sich an die Regeln der Regie­rung zu halten. Sich also etwa in den offi­zi­ellen staat­li­chen Lagern aufzu­halten. Mit der Schlies­sung der Transit-Camps wuchs jetzt der Druck an der Grenze zur EU. Das Geschäft der Schmuggler boomt, und viele Geflüch­tete haben die staat­li­chen Lager verlassen, um sich in den grenz­nahen Beset­zungen nieder­zu­lassen – und von da aus viel­leicht irgend­wann weiterzugelangen.

Welche Rolle spielte die Covid-19-Pandemie in dieser Entwicklung?

Milica Svabic: Zwischen März und Mai herrschte der Ausnah­me­zu­stand. Über die Lager wurde ein kompletter Lock­down verhängt, der von Polizei und Armee durch­ge­setzt wurde, und die Beset­zungen wurden von der Polizei geräumt. Die Besetzer*innen wurden in die Lager geschafft und einge­sperrt. Einige Monate später, eben auch nach Aufhe­bung der Transit-Camps, begannen viele Inter­nierte klan­de­stin wieder aus den Lagern zu flüchten – und in die elf grenz­nahen Beset­zungen zurückzukehren.

Gibt es denn eine Möglich­keit, in Serbien selbst Asyl zu beantragen?

Milica Svabic: Eigent­lich ja, aber die meisten wissen das gar nicht, was von den Behörden so beab­sich­tigt wird: Sie weigern sich, darüber zu infor­mieren. Und wenn Geflüch­tete sich trotzdem regi­strieren lassen wollen, wird ihnen diese Möglich­keit von der Polizei in vielen Fällen einfach verweigert.

Was passiert, wenn die Regi­strie­rung trotzdem erfolg­reich abläuft?

Milica Svabic: Dann werden die betrof­fenen Personen gezwungen, in bestimmte Lager zu fahren. Übli­cher­weise in dieje­nigen nahe der bulga­ri­schen oder maze­do­ni­schen Grenze, also in die falsche Rich­tung – und sehr weit weg. Und wenn sie das Lager nicht inner­halb von 72 Stunden errei­chen oder ihm zu einem späteren Zeit­punkt einmal drei Tage fern­bleiben, verlieren sie ihren Status unwi­der­ruf­lich. Dabei werden die meisten völlig unzu­rei­chend über ihre Rechte und Pflichten infor­miert. Nur rund zwei Prozent der Geflüch­teten in Serbien bewegen sich tatsäch­lich inner­halb des offi­zi­ellen Asylsystems.

Die Aller­mei­sten können also nicht weiter – aber auch nicht bleiben. Wie viele Personen stecken zurzeit auf diese Art in Serbien fest?

Vuk Vuck­ovic: Die letzten Zahlen, die uns zur Verfü­gung stehen, stammen vom August. Damals waren rund 10’000 Personen in den offi­zi­ellen Lagern unter­ge­bracht. Die aller­mei­sten von ihnen, wie bereits gesagt, ohne als Asyl­su­chende regi­striert zu sein. Minde­stens 5’000 Personen, die nie in einem staat­li­chen Lager gewesen sind, kommen hinzu.

Den einzigen Ausweg bietet die Zusam­men­ar­beit mit Schmugglern.

Vuk Vuck­ovic: So weit ich das sehe, ja. Einige versu­chen aber auch selbst­ständig über die grüne Grenze zu gelangen, etwa nach Bosnien und Herze­go­wina. Da markiert die Drina die Grenze – aber die Drina ist ein reis­sender Fluss. Diesen Sommer sind wir dahin­ge­fahren, weil wir gehört hatten, dass viele Personen auf diesem Weg über die Grenze gelangen wollen. Vor Ort hat man uns erzählt, dass fast jeden Tag jemand im Fluss ertrinke. Entweder beim Versuch, ihn zu über­queren, oder bei Push-Backs: also wenn Personen auf der anderen Seite der Grenze aufge­griffen und dann wieder in die Drina hinein­ge­worfen werden.

Begehen alle Nach­bar­länder von Serbien regel­mässig Push-Backs?

Vuk Vuck­ovic: Ja, ausnahmslos. Und das hat viel mit der euro­päi­schen Asyl­po­litik zu tun: Gemäss dem Dublin-Abkommen sind ja immer die EU-Staaten für die Asyl­su­chenden zuständig, in denen diese zuerst ankommen. Die Grenz­staaten Kroa­tien und Rumä­nien – sie versu­chen zu verhin­dern, für Geflüch­tete auf der Balkan­route verant­wort­lich zu sein. Sie wissen ja auch, dass die rest­li­chen EU-Staaten ihnen nicht helfen werden. Also machen sie Push-Backs nach Serbien, wo die Regie­rung wiederum versucht, möglichst wenige Geflüch­tete aufzu­nehmen – und ihrer­seits Push-Backs verübt.

Trotzdem plant ja auch Serbien der EU beizu­treten – und sogar vorher noch das Dublin-Abkommen zu unter­zeichnen. Welche Absicht steht dahinter?

Milica Svabic: Genau. Serbien wird das Dublin-Abkommen voraus­sicht­lich drei Jahre vor dem EU-Beitritt unter­zeichnen. Zurzeit laufen die Vorbe­rei­tungen dafür: Auf dem Papier ist unser natio­nales Asyl­ge­setz mit den EU-Direk­tiven abge­gli­chen. Das Problem ist aber, dass das Gesetz über Ausländer*innen, welches alle Fragen der Migra­tion ausser­halb des Asyl­we­sens regelt, nicht mit der Praxis der EU über­ein­stimmt. Über­haupt nicht.

Was bedeutet das?

Milica Svabic: Die EU prüft vor Serbiens Rati­fi­zie­rung des Dublin-Abkom­mens offi­ziell nur das serbi­sche Asyl­ge­setz. Und kommt so zum Schluss, dass Serbien die Voraus­set­zungen dafür erfüllt. Wie gesagt sind in Serbien aber nur rund zwei Prozent der Geflüch­teten als Asyl­su­chende regi­striert. Der ganze Rest fällt unter das Gesetz über Ausländer*innen: mit seinem extrem schnellen und einfa­chen Ausschaf­fungs­pro­zess, in dem den Betrof­fenen auch grund­le­gende prozes­suale Rechte verwei­gert werden. Die Ausschaf­fungen sollen jetzt noch zusätz­lich verein­facht werden. Mehrere entspre­chende Rück­füh­rungs­ab­kommen, etwa mit Afgha­ni­stan, sind in Bearbeitung.

Was erwartet ihr denn von Serbiens Beitritt zum Dublin-Raum?

Milica Svabic: Es ist sehr wahr­schein­lich, dass Serbien als eine Art Puffer funk­tio­nieren soll. Also dass asyl­su­chende Personen aufgrund des Dublin-Systems aus anderen euro­päi­schen Ländern nach Serbien ausge­schafft werden können. Und sie hier aber nicht unter das Asyl­ge­setz fallen, sondern eben unter das Gesetz über Ausländer*innen. Weshalb sie vergleichs­weise unkom­pli­ziert ausge­schafft werden können. Damit würden Ausschaf­fungen aus dem Dublin-Raum massiv vereinfacht.

Was spricht aus Sicht der serbi­schen Regie­rung dafür, diese Rolle als Puffer zu übernehmen?

Milica Svabic: Vermut­lich würde das mit zusätz­li­cher finan­zi­eller Unter­stüt­zung vonseiten der EU einher­gehen. Es gibt also finan­zi­elle Anreize. Vor allem aber plant ja Serbien den Beitritt zur Euro­päi­schen Union – und um das zu errei­chen, muss der Staat umsetzen, was die EU von ihm verlangt. Serbien steht also unter Druck.

Ihr leistet mit eurer Arbeit Gegen­steuer. Wie steht es um die Zivil­ge­sell­schaft in Serbien? Seid ihr gut vernetzt?

Milica Svabic: Es gibt andere Orga­ni­sa­tionen, mit denen wir uns austau­schen. Aber nicht mit allen. Zwischen verschie­denen aktiven Gruppen in Serbien besteht ein Graben: Viele von ihnen arbeiten mit dem UNHCR zusammen und werden so auch finan­ziell unter­stützt. Aber sowohl diese Orga­ni­sa­tionen als auch der UNHCR beschäf­tigen sich nur mit offi­zi­ellen Asyl­su­chenden, also einem winzigen Bruch­teil der Betrof­fenen. Sie beachten weder die Beset­zungen noch die Push-Backs an der Grenze. Mit diesen Orga­ni­sa­tionen haben wir nichts zu tun. Wir sind finan­ziell unabhängig.

Weshalb ihr auf Spenden ange­wiesen seid.

Vuk Vuck­ovic: Genau. Zurzeit findet etwa eine Fund­rai­sing-Kampagne in der Schweiz statt, orga­ni­siert von Balkan­brücke. Das Geld, das wir so erhalten, ermög­licht uns, auch weiterhin wirk­lich unab­hängig und profes­sio­nell zu arbeiten. Und Personen zu unter­stützen, die auf anderem Weg keinerlei Zugang zu Unter­stüt­zung mehr haben.

 


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