Im Winter 2019 besuche ich Maryam N. im Pariser Vorort Aubervilliers. Im Zuge meiner Arbeit bei Watch The Med Alarmphone war ich ihr in Marokko begegnet; wir blieben in Kontakt. Es gelang ihr, mit ihrer kleinen Tochter das Meer zu überqueren und über Spanien Paris zu erreichen, wo ihr Bruder mit seiner Familie lebt. Ich fahre mit der Bahn in die Banlieue.
Wir spazieren in der Kälte durch eine verwahrloste, menschenleere Siedlung, das Haus ist heruntergekommen, die Lifttüre herausgebrochen, im Treppenhaus stinkt es. Wir sitzen auf dem einzigen Sofa, starren in den grossen Fernseher und trinken Beuteltee.
Auf die Frage nach seinen Erfahrungen in Frankreich gerät der Bruder meiner Bekannten ins Schwärmen. Er spricht von der „Krone der Zivilisation“. Von La Grande Nation. Von Napoleon. De Gaulle. Der Demokratie. Von Menschenrechten. Das Beste, das es gibt!
Es steht mir nicht zu, die Einschätzung dieses Mannes zu kritisieren, da ich seine Lebensumstände und Erfahrungen vermutlich nicht mal erahnen kann, und doch erfasst mich eine Art Schwindel.
Ich betrachte die kahlen Wände und denke daran, wie Maryam – obdachlos in den Strassen von Tanger – beinahe verhungerte, an die vielen vergeblichen Versuche, die es sie kostete, um mit dem Boot unter Lebensgefahr die europäische Seite des Meeres zu erreichen. Ich schaue in die leere Küche und denke an das europäische Asylsystem, die Schwierigkeiten, die diese Menschen erwarten. An die Gefahr, abgeschoben zu werden. An den Umstand, dass die Menschenrechte – aber auch die internationalen Rechte – nicht universal sind und für meine Gastgeber*innen nur in einer sehr eingeschränkten und willkürlichen Form gelten.
Die eigentliche europäische Katastrophe
Am folgenden Tag feiern Angehörige der Sozialistischen Partei eine Vernissage im Zentrum von Paris. Jemand stellt Aquarellbilder aus. Eine Cellospielerin trägt klassische Musik in verjazzter Form vor. Die Reden sind politisch korrekt und solidarisch mit Leuten, wie es meine Bekannten in den Banlieues sind; die Loyalität ist gross und aufrichtig.
Und immer wieder erfasst mich der Schwindel, wenn ich an die Familie in der Wohnung im Haus in Aubervilliers denke. Ich betrachte mich sozusagen von aussen, wie ich in diesen schönen Räumen herumstehe, Prosecco trinke und in allen möglichen Sprachen politischen Small Talk betreibe.
Ich erlebe es körperlich als Schock: Die anwesenden Leute sind diejenigen, die auf der Ebene der institutionellen Politik noch am ehesten eine ethische Migrationspolitik anstreben könnten; aber das Aubervilliers meiner Bekannten und das Paris dieser Vernissage sind, obwohl bloss wenige Bahnstationen entfernt, völlig getrennt voneinander.
Es existiert kein gemeinsames Wissen. Die Erfahrungen liegen zu weit auseinander. Ein Gefühl der totalen Entfremdung.
Aus meiner Perspektive ist gerade diese tiefe Kluft die eigentliche europäische Katastrophe – wenn denn überhaupt von Katastrophe gesprochen werden kann.
Krise der Grausamkeit
Was hat es also auf sich mit diesem Begriff angesichts der Ereignisse, die sich Tag für Tag an den europäischen Grenzen abspielen? Liest man sich weltweit durch Berichte, Artikel, Reportagen und Studien zum Thema, fliegt einem das Wort wie ein Insektenschwarm um die Ohren.
Gleichgültig, ob es sich um die Zustände in den Lagern und auf den Fluchtrouten rund ums Mittelmeer handelt, um die tödlichen Dramen und die Gewalt auf dem Meer, um das Verhalten der europäischen Behörden, um die Bedingungen in europäischen Asylsystemen und in den Herkunftsländern, die Bezeichnung Katastrophe ist allgegenwärtig.
Problematisch scheint mir daran, dass wir aufgehört haben, die Bedingungen, unter denen Katastrophen stattfinden, zu differenzieren: Wer verursacht sie? Wen trifft sie? Wer definiert überhaupt, was eine Katastrophe ist? Und wie sie sich kurz- und langfristig auswirkt?
Unter Berücksichtigung einer solchen Differenzierung behaupte ich, dass Migration und Flucht für den europäischen Kontinent keine Katastrophe darstellen kann. Meiner Ansicht nach gebrauchen wir den Begriff der Katastrophe im Kontext von Flucht und Migration, um eine Krise der Grausamkeit zu verbergen. Weisen wir unaufhörlich in undifferenzierter Weise auf vermeintliche Katastrophen hin, muss die Überzeugung und Furcht wachsen, dass uns gerade etwas Schlimmes passiert.
Wir werden blind für die Tatsache, dass wir für das, was an unseren Grenzen geschieht, vollumfänglich verantwortlich sind. Wir werden taub gegenüber den Stimmen, die uns davor warnen, darüber hinwegzusehen, dass wir eine tagtägliche Praxis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinnehmen, um einen wie auch immer gearteten Grenzschutz im Namen des Protektionismus der eigenen Lebenshaltung aufrechtzuerhalten.
Scheinbar mit dem Rücken zur Wand
Die Konsequenz einer solchen Haltung beschreibt Lizzi O., die seit Jahren auf Lesvos als politische Aktivistin tätig ist, als zutiefst destruktiv. Ihrer Ansicht nach weckt das Bild der Katastrophe diffuse Ängste, die sich in der Überzeugung äussern, dass Migrant*innen sich nicht integrieren können, weil sie das mit der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Bildung und dem Fleiss halt nicht kennten.
Scheinbar mit dem Rücken zur Wand wird argumentiert: Ja, wir wollen sie nicht töten und auch keine Menschenrechtsverletzungen begehen, aber was sollen wir denn machen? Wir können sie ja nicht alle aufnehmen. Es gibt keine Lösung. Es gibt keine Alternative.
Eine Haltung, die auch in linken Kreisen durchaus vorhanden ist, obwohl die Auseinandersetzung mit dem Thema sich für eine Mehrheit auf den Konsum von Medien beschränkt. Wer selbst betroffen ist oder die Bedingungen an den Grenzen kennt, empfindet angesichts solcher Aussagen, die ich als Teil der Krise der Grausamkeit sehe, eine grosse Wut und Hilflosigkeit. Denn aufgrund dieser Mechanismen wird eine Katastrophe heraufbeschwört, die für diejenigen, die sie für sich reklamieren, im Grunde nicht existiert. Gleichzeitig werden die wirklichen Katastrophen verleugnet und die Stimmen der davon Betroffenen überhört, ausgeblendet und verleugnet.
Die Kluft zwischen dem, was die Wörter der einen im Unterschied zu den Wörtern der anderen bedeuten, ist so breit, dass es erscheinen mag, als gehörten die Worte keiner bekannten Sprache mehr an.
Katastrophismus oder die Normalisierung von Gewalt
Das unabhängige Onlinemagazin Krautreporter widerlegt wesentliche Überzeugungen, die durch die europäische Öffentlichkeit geistern und das politische Klima schaffen, das – gemessen an den Zahlen der Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa ihr Leben verlieren – die weltweit tödlichste Grenze schafft.
Dabei wird eine Politik der Angst betrieben, welche die Furcht vor islamistischen Terroranschlägen mit antimuslimischen Vorurteilen vermischt. Verstärkt durch den Neoliberalismus der letzten Jahre und der damit einhergehenden Unsicherheit und Abstiegsangst wird diese Politik auf dem Rücken der Geflüchteten ausgetragen. Erzählungen von einem Bevölkerungsaustausch prägen den rechten Populismus, und Integrations- sowie Identitätsdebatten beherrschen das Klima bis in die linke Politik hinein.
Indem wir also, gedankenlos oder kalkuliert, den Begriff der Katastrophe undifferenziert und unhinterfragt gebrauchen, setzen wir kollektiv der Aggression und dem Hass die Maske der Normalität – oder der Legitimation – auf.
Es ist die Kluft der Entfremdung, die es uns leicht macht, darauf zu beharren, wir würden durch die Einwanderung einer Katastrophe ausgesetzt – da wir gar nicht wissen können/wollen, was auf der anderen Seite geschieht.
Ich möchte aber nochmals auf die Grausamkeit zurückkommen, die sich oft hinter der Maske versteckt, wenn es sich bei denjenigen, die eine Opferrolle beanspruchen, eigentlich um die Täter oder die Repräsentant*innen der Macht handelt. Denn Grausamkeit liegt ebenfalls im Akt des Verschleierns. Die Verbrechen der Macht sind auch diejenigen, die nie aufgeklärt, die nicht gerichtlich verfolgt und sanktioniert werden, die straflos bleiben. Und gerade das geschieht in der europäischen Grenzpolitik.
Die Katastrophe, die uns ereilt, ist – zynisch ausgedrückt – unsere Pflicht, Verbrechen begehen zu müssen, um uns und die sogenannten europäischen, zivilisatorischen Errungenschaften zu schützen. Man könnte auch von einer dysfunktionalen Umkehrung sprechen, wenn Autoritäten ihren grossen Schmerz beschreiben angesichts ihrer „Pflicht“, andere bestrafen und/oder misshandeln zu müssen.
Eine nie gesehene Zukunft
Es gibt jedoch Beispiele eines anderen Umgangs. Man denke beispielsweise an die beinahe ausgestorbene süditalienische Stadt Riace, die dank dem Bürgermeister Mimmo Lucano, der Geflüchtete und Migrant*innen aufgenommen hatte, wiederbelebt wurde. Oder an die unzähligen universitären Institute, an internationale Netzwerke und konkrete Projekte, die sich mit dem Thema der globalen Mobilität auseinandersetzen und neue Vorstellungen von postkolonialer Gerechtigkeit formulieren.
Und im Zug von Black Lives Matter beginnen wir langsam damit, um eine Sprache zu ringen, die es uns möglich machen sollte, den historisch tief verankerten Rassismus und Kulturalismus zu reflektieren. Ein mühsames, langwieriges Unterfangen, das bei der Mehrheit der Menschen (noch) erbitterten Widerstand hervorruft.
Ich möchte trotzdem behaupten, dass wir uns in all unserer Unterschiedlichkeit zusammen schliessen und eine Zukunft gestalten können, die die Welt noch nicht erdacht, geschweige denn je gesehen hat. Eine Utopie? Aber gründet die wahre Utopie der Geschichte nicht in ihrer Ungewissheit und ihrer Unvorhersehbarkeit?
Dieser Text von Johanna Lier entstand in Kooperation mit Rohullah Suroosh und erschien zuvor im Widerspruch, Heft 78. Rohullah Surooshs Text „Flucht als Katastrophe“ findet ihr hier.