Europas Krise der Grausamkeit

Zwischen den Verant­wort­li­chen der Migra­ti­ons­po­litik und den Menschen, die sie unmit­telbar trifft, liegt eine tiefe Kluft. Johanna Lier schreibt über Entfrem­dung, unsicht­bare Gewalt und fragt, welche soge­nannte Kata­strophe sich in Europa tatsäch­lich abspielt. 
Selbst die Welten derer, die am ehesten eine migrationsfreundliche Politik betreiben, und derjenigen, die davon betroffen sind, liegen meilenweit auseinander. (Illustration: Alain Schwerzmann)

Im Winter 2019 besuche ich Maryam N. im Pariser Vorort Auber­vil­liers. Im Zuge meiner Arbeit bei Watch The Med Alarm­phone war ich ihr in Marokko begegnet; wir blieben in Kontakt. Es gelang ihr, mit ihrer kleinen Tochter das Meer zu über­queren und über Spanien Paris zu errei­chen, wo ihr Bruder mit seiner Familie lebt. Ich fahre mit der Bahn in die Banlieue. 

Wir spazieren in der Kälte durch eine verwahr­loste, menschen­leere Sied­lung, das Haus ist herun­ter­ge­kommen, die Lift­türe heraus­ge­bro­chen, im Trep­pen­haus stinkt es. Wir sitzen auf dem einzigen Sofa, starren in den grossen Fern­seher und trinken Beuteltee. 

Auf die Frage nach seinen Erfah­rungen in Frank­reich gerät der Bruder meiner Bekannten ins Schwärmen. Er spricht von der „Krone der Zivi­li­sa­tion“. Von La Grande Nation. Von Napo­leon. De Gaulle. Der Demo­kratie. Von Menschen­rechten. Das Beste, das es gibt! 

Es steht mir nicht zu, die Einschät­zung dieses Mannes zu kriti­sieren, da ich seine Lebens­um­stände und Erfah­rungen vermut­lich nicht mal erahnen kann, und doch erfasst mich eine Art Schwindel. 

Ich betrachte die kahlen Wände und denke daran, wie Maryam – obdachlos in den Strassen von Tanger – beinahe verhun­gerte, an die vielen vergeb­li­chen Versuche, die es sie kostete, um mit dem Boot unter Lebens­ge­fahr die euro­päi­sche Seite des Meeres zu errei­chen. Ich schaue in die leere Küche und denke an das euro­päi­sche Asyl­sy­stem, die Schwie­rig­keiten, die diese Menschen erwarten. An die Gefahr, abge­schoben zu werden. An den Umstand, dass die Menschen­rechte – aber auch die inter­na­tio­nalen Rechte – nicht universal sind und für meine Gastgeber*innen nur in einer sehr einge­schränkten und will­kür­li­chen Form gelten.

Die eigent­liche euro­päi­sche Katastrophe

Am folgenden Tag feiern Ange­hö­rige der Sozia­li­sti­schen Partei eine Vernis­sage im Zentrum von Paris. Jemand stellt Aqua­rell­bilder aus. Eine Cello­spie­lerin trägt klas­si­sche Musik in verjazzter Form vor. Die Reden sind poli­tisch korrekt und soli­da­risch mit Leuten, wie es meine Bekannten in den Banlieues sind; die Loya­lität ist gross und aufrichtig. 

Die tiefe Kluft zwischen Migrant*innen und euro­päi­schen Zivil­ge­sell­schaften ist die eigent­liche Katastrophe.

Und immer wieder erfasst mich der Schwindel, wenn ich an die Familie in der Wohnung im Haus in Auber­vil­liers denke. Ich betrachte mich sozu­sagen von aussen, wie ich in diesen schönen Räumen herum­stehe, Prosecco trinke und in allen mögli­chen Spra­chen poli­ti­schen Small Talk betreibe. 

Ich erlebe es körper­lich als Schock: Die anwe­senden Leute sind dieje­nigen, die auf der Ebene der insti­tu­tio­nellen Politik noch am ehesten eine ethi­sche Migra­ti­ons­po­litik anstreben könnten; aber das Auber­vil­liers meiner Bekannten und das Paris dieser Vernis­sage sind, obwohl bloss wenige Bahn­sta­tionen entfernt, völlig getrennt voneinander. 

Es existiert kein gemein­sames Wissen. Die Erfah­rungen liegen zu weit ausein­ander. Ein Gefühl der totalen Entfremdung. 

Aus meiner Perspek­tive ist gerade diese tiefe Kluft die eigent­liche euro­päi­sche Kata­strophe – wenn denn über­haupt von Kata­strophe gespro­chen werden kann. 

Krise der Grausamkeit

Was hat es also auf sich mit diesem Begriff ange­sichts der Ereig­nisse, die sich Tag für Tag an den euro­päi­schen Grenzen abspielen? Liest man sich welt­weit durch Berichte, Artikel, Repor­tagen und Studien zum Thema, fliegt einem das Wort wie ein Insek­ten­schwarm um die Ohren. 

Gleich­gültig, ob es sich um die Zustände in den Lagern und auf den Flucht­routen rund ums Mittel­meer handelt, um die tödli­chen Dramen und die Gewalt auf dem Meer, um das Verhalten der euro­päi­schen Behörden, um die Bedin­gungen in euro­päi­schen Asyl­sy­stemen und in den Herkunfts­län­dern, die Bezeich­nung Kata­strophe ist allgegenwärtig. 

Wir sind für das, was an unseren Grenzen geschieht, voll­um­fäng­lich verantwortlich.

Proble­ma­tisch scheint mir daran, dass wir aufge­hört haben, die Bedin­gungen, unter denen Kata­stro­phen statt­finden, zu diffe­ren­zieren: Wer verur­sacht sie? Wen trifft sie? Wer defi­niert über­haupt, was eine Kata­strophe ist? Und wie sie sich kurz- und lang­fri­stig auswirkt? 

Unter Berück­sich­ti­gung einer solchen Diffe­ren­zie­rung behaupte ich, dass Migra­tion und Flucht für den euro­päi­schen Konti­nent keine Kata­strophe darstellen kann. Meiner Ansicht nach gebrau­chen wir den Begriff der Kata­strophe im Kontext von Flucht und Migra­tion, um eine Krise der Grau­sam­keit zu verbergen. Weisen wir unauf­hör­lich in undif­fe­ren­zierter Weise auf vermeint­liche Kata­stro­phen hin, muss die Über­zeu­gung und Furcht wachsen, dass uns gerade etwas Schlimmes passiert. 

Wir werden blind für die Tatsache, dass wir für das, was an unseren Grenzen geschieht, voll­um­fäng­lich verant­wort­lich sind. Wir werden taub gegen­über den Stimmen, die uns davor warnen, darüber hinweg­zu­sehen, dass wir eine tagtäg­liche Praxis der Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit hinnehmen, um einen wie auch immer gear­teten Grenz­schutz im Namen des Protek­tio­nismus der eigenen Lebens­hal­tung aufrechtzuerhalten. 

Scheinbar mit dem Rücken zur Wand

Die Konse­quenz einer solchen Haltung beschreibt Lizzi O., die seit Jahren auf Lesvos als poli­ti­sche Akti­vi­stin tätig ist, als zutiefst destruktiv. Ihrer Ansicht nach weckt das Bild der Kata­strophe diffuse Ängste, die sich in der Über­zeu­gung äussern, dass Migrant*innen sich nicht inte­grieren können, weil sie das mit der Demo­kratie, der Gleich­be­rech­ti­gung, der Bildung und dem Fleiss halt nicht kennten.

Scheinbar mit dem Rücken zur Wand wird argu­men­tiert: Ja, wir wollen sie nicht töten und auch keine Menschen­rechts­ver­let­zungen begehen, aber was sollen wir denn machen? Wir können sie ja nicht alle aufnehmen. Es gibt keine Lösung. Es gibt keine Alternative. 

Indem wir also den Begriff der Kata­strophe unhin­ter­fragt gebrau­chen, setzen wir dem Hass die Maske der Norma­lität auf.

Eine Haltung, die auch in linken Kreisen durchaus vorhanden ist, obwohl die Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema sich für eine Mehr­heit auf den Konsum von Medien beschränkt. Wer selbst betroffen ist oder die Bedin­gungen an den Grenzen kennt, empfindet ange­sichts solcher Aussagen, die ich als Teil der Krise der Grau­sam­keit sehe, eine grosse Wut und Hilf­lo­sig­keit. Denn aufgrund dieser Mecha­nismen wird eine Kata­strophe herauf­be­schwört, die für dieje­nigen, die sie für sich rekla­mieren, im Grunde nicht existiert. Gleich­zeitig werden die wirk­li­chen Kata­stro­phen verleugnet und die Stimmen der davon Betrof­fenen über­hört, ausge­blendet und verleugnet. 

Die Kluft zwischen dem, was die Wörter der einen im Unter­schied zu den Wörtern der anderen bedeuten, ist so breit, dass es erscheinen mag, als gehörten die Worte keiner bekannten Sprache mehr an.

Kata­stro­phismus oder die Norma­li­sie­rung von Gewalt

Das unab­hän­gige Online­ma­gazin Kraut­re­porter wider­legt wesent­liche Über­zeu­gungen, die durch die euro­päi­sche Öffent­lich­keit geistern und das poli­ti­sche Klima schaffen, das – gemessen an den Zahlen der Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa ihr Leben verlieren – die welt­weit tödlichste Grenze schafft.

Dabei wird eine Politik der Angst betrieben, welche die Furcht vor isla­mi­sti­schen Terror­an­schlägen mit anti­mus­li­mi­schen Vorur­teilen vermischt. Verstärkt durch den Neoli­be­ra­lismus der letzten Jahre und der damit einher­ge­henden Unsi­cher­heit und Abstiegs­angst wird diese Politik auf dem Rücken der Geflüch­teten ausge­tragen. Erzäh­lungen von einem Bevöl­ke­rungs­aus­tausch prägen den rechten Popu­lismus, und Inte­gra­tions- sowie Iden­ti­täts­de­batten beherr­schen das Klima bis in die linke Politik hinein.

Indem wir also, gedan­kenlos oder kalku­liert, den Begriff der Kata­strophe undif­fe­ren­ziert und unhin­ter­fragt gebrau­chen, setzen wir kollektiv der Aggres­sion und dem Hass die Maske der Norma­lität – oder der Legi­ti­ma­tion – auf.

Die eigent­li­chen Täter*innen der Macht bean­spru­chen eine Opfer­rolle: ein grau­samer Verschleierungsakt.

Es ist die Kluft der Entfrem­dung, die es uns leicht macht, darauf zu beharren, wir würden durch die Einwan­de­rung einer Kata­strophe ausge­setzt – da wir gar nicht wissen können/wollen, was auf der anderen Seite geschieht.

Ich möchte aber noch­mals auf die Grau­sam­keit zurück­kommen, die sich oft hinter der Maske versteckt, wenn es sich bei denje­nigen, die eine Opfer­rolle bean­spru­chen, eigent­lich um die Täter oder die Repräsentant*innen der Macht handelt. Denn Grau­sam­keit liegt eben­falls im Akt des Verschlei­erns. Die Verbre­chen der Macht sind auch dieje­nigen, die nie aufge­klärt, die nicht gericht­lich verfolgt und sank­tio­niert werden, die straflos bleiben. Und gerade das geschieht in der euro­päi­schen Grenz­po­litik.

Die Kata­strophe, die uns ereilt, ist – zynisch ausge­drückt – unsere Pflicht, Verbre­chen begehen zu müssen, um uns und die soge­nannten euro­päi­schen, zivi­li­sa­to­ri­schen Errun­gen­schaften zu schützen. Man könnte auch von einer dysfunk­tio­nalen Umkeh­rung spre­chen, wenn Auto­ri­täten ihren grossen Schmerz beschreiben ange­sichts ihrer „Pflicht“, andere bestrafen und/oder miss­han­deln zu müssen.

Eine nie gese­hene Zukunft

Es gibt jedoch Beispiele eines anderen Umgangs. Man denke beispiels­weise an die beinahe ausge­stor­bene südita­lie­ni­sche Stadt Riace, die dank dem Bürger­mei­ster Mimmo Lucano, der Geflüch­tete und Migrant*innen aufge­nommen hatte, wieder­be­lebt wurde. Oder an die unzäh­ligen univer­si­tären Insti­tute, an inter­na­tio­nale Netz­werke und konkrete Projekte, die sich mit dem Thema der globalen Mobi­lität ausein­an­der­setzen und neue Vorstel­lungen von post­ko­lo­nialer Gerech­tig­keit formulieren. 

Und im Zug von Black Lives Matter beginnen wir langsam damit, um eine Sprache zu ringen, die es uns möglich machen sollte, den histo­risch tief veran­kerten Rassismus und Kultu­ra­lismus zu reflek­tieren. Ein mühsames, lang­wie­riges Unter­fangen, das bei der Mehr­heit der Menschen (noch) erbit­terten Wider­stand hervorruft. 

Ich möchte trotzdem behaupten, dass wir uns in all unserer Unter­schied­lich­keit zusammen schliessen und eine Zukunft gestalten können, die die Welt noch nicht erdacht, geschweige denn je gesehen hat. Eine Utopie? Aber gründet die wahre Utopie der Geschichte nicht in ihrer Unge­wiss­heit und ihrer Unvorhersehbarkeit? 

Dieser Text von Johanna Lier entstand in Koope­ra­tion mit Rohullah Suroosh und erschien zuvor im Wider­spruch, Heft 78. Rohullah Surooshs Text „Flucht als Kata­strophe“ findet ihr hier.

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