Am Sonntag war dann alles vorbei: Mit Bussen des Energiekonzerns und Kohlegiganten RWE, die der Polizei freundlicherweise überlassen wurden, wurden die übriggebliebenen AktivistInnen weggefahren, nachdem die Sitzblockaden auf den Zulieferschienen zum RWE-Kohlekraftwerk aufgelöst worden waren.
Zu Beginn waren es rund 3000 Personen, welche die Schienen blockiert hatten. Nach über 24 Stunden in eisiger Kälte harrten nur noch einige Dutzend Hartgesottene aus, die zum Teil an den Schienen festgekettet waren – und schliesslich abgeführt wurden.
Die Räumung markierte das Ende der diesjährigen Aktion von Ende Gelände, der europaweit agierenden Anti-Kohle-Bewegung mit dem Motto „Kohleausstieg selber machen“. Ob die Aktion ein Erfolg war, ist eine Frage der Perspektive. Klar ist: Ende Gelände hatte eine kritische Infrastruktur, nämlich den Lieferweg für Kohle, über rund 24 Stunden hinweg blockiert. Auch in den Kohletagebau Inden waren einige der AktivistInnen eingedrungen, wenn auch nicht so viele wie erhofft. Die Besetzung war nicht geglückt.
Die Polizei konnte mit ihrem Einsatz wohl nicht vollends zufrieden sein. Zwar wurden rund 400 DemonstrantInnen unter anderem wegen Landfriedensbruch angezeigt und die Besetzung des Tagebaus konnte unterbunden werden. Dass aber fast 3000 Personen die zuvor blockierte A4 überqueren und die Schienen besetzen konnten — das schien bei einem Polizeieinsatz von diesem Ausmass und Kräfteverhältnis wenig erfreulich. Mehrere Hundert Beamtinnen und Beamte waren während der Aktion von Ende Gelände im Einsatz – bewaffnet mit Kampfmontur, Pfefferspray und Schlagstöcken. Ihnen hatten sich rund 6500 AktivistInnen entgegengestellt, in weissen Schutzanzügen, mit Strohballen und Schlafsäcken ausgerüstet, die Finger mit Glitzer gegen allfällige Identifikationen verklebt. Beide Seiten hatten sich vorbereitet.
„Wir sind friedlich! Was seid ihr?“
Ananas! Bratwürstchen! Goldenes Einhorn! Die Kreativität der Bezugsgruppennamen der AktivistInnen, mithilfe derer man sich im Aktionsgewirr anonymisiert wiederfinden kann, kennt keine Grenzen. Kurz vor acht Uhr früh formieren sich die einzelnen Finger – so werden die grösseren Zusammenschlüsse mehrerer Bezugsgruppen genannt – auf dem Gelände des Protestcamps. Es wird geschrien und gerufen, Kaffee getrunken und gelacht. „Wir haben einen langen Marsch vor uns, wer noch kein Frühstück hatte: Wir werden versuchen, unterwegs Brötchen nachzureichen“, klingt es aus den Lautsprechern.
Wären nicht alle TeilnehmerInnen in weisse Overalls und schichtenweise Kleidung eingepackt und würde die Sonne nicht gerade erst aufgehen – man könnte meinen, hier richte sich eine Menschengruppe für den ersten Tag des Festivalsommers ein. Das Gelände ist rappelvoll. Gold, Silber, Pink — unter den entsprechenden Fahnen sammeln sich die einzelnen Demonstrationsfinger, verketten die Arme, stimmen Singchöre und Parolen an.
Als der Zug sich in Bewegung setzt, geht gerade die Sonne auf. Es soll nach Morschenich gehen, wo mehrere NGO’s eine Anti-Kohle-Demonstration angemeldet haben. Am Horizont sieht man Windräder, die Polizei blockiert alle paar Meter die Route, weicht aber immer wieder zurück. Vom Lautsprecherwagen her dröhnt es auf Deutsch und Englisch. Tadzio Müller, ein Umweltaktivist und Wissenschaftler der Rosa-Luxemburg-Stiftung, plaudert mit dem Sprachwitz eines Radiomoderators gegen die Langeweile an. Als der Demonstrationszug das erste Dorf erreicht, wird die Musik leiser und friedlicher. „Wir wollen die Anwohnerinnen und Anwohner nicht beim Frühstück stören“, sagt Müller. „Hallo, liebe Bewohnerinnen und Bewohner, wir sind Ende Gelände und wir sind hier, um gegen die Braunkohle zu protestieren, die unsere Umwelt zerstört. Klingt logisch, oder?“ Als der Demonstrationszug an einem Feld mit Schafen vorbeigeht, wird die Musik vollends heruntergedreht. Die rücksichtsvollen KlimaextremistInnen wollen die Tiere nicht aufscheuchen.
Einige AnwohnerInnen sammeln sich an den Strassenecken, einige winken. Ein älterer Anwohner hält sich hinter seiner Fensterscheibe als Reaktion auf die vorbeiziehenden AktivistInnen den Zeigefinger an den Hals und macht eine Bewegung, als würde er sich die Luftröhre durchschneiden. Andere zeigen den Mittelfinger, viele filmen und fotografieren die vorbeilaufende Menge mit Handykameras.
Wir begleiten den Endzwanziger Finn aus Ostdeutschland. Seine Nervosität hält sich in Grenzen, schliesslich ist Finn bereits seit 2015 mit dabei, wenn es darum geht, eine kritische Infrastruktur für den Kohleabbau zu blockieren. „Wir können nicht auf den Kohleausstieg warten“, sagt er. „Deswegen machen wir ihn eben selber – wenn auch nur für wenige Stunden oder Tage. Während unserer Aktionen wird weniger CO2 freigesetzt.“
Auf die Stromversorgung haben solche Aktionen keinen Einfluss – zu kurz ist die Dauer, zu gross der Speicher und „der grösste Teil des Stroms wird ohnehin exportiert“, sagt Finn. Rund 30% Emissionen konnten die AktivistInnen bei bisherigen Aktionen während der Besetzungszeit drosseln. Das ist nicht viel. Aber den AktivistInnen geht es ohnehin primär darum, ein Zeichen zu setzen, sich zu positionieren – und zu erklären, warum ihrer Meinung nach dieser Ausstieg nicht warten kann.
Die Solidarität und das Verständnis der BewohnerInnen der umgebenden Dörfer – in vielen Familien findet sich jemand, der für RWE arbeitet oder gearbeitet hat – scheint den AktivistInnen wichtig zu sein. Immer wieder betonen sie: Wir sind auf der Seite der RWE-Angestellten, nicht gegen sie. Die Rede ist von Sozialplänen und einem sozialverträglichen Ausstieg. „Wir wollen niemandem den Job wegnehmen!“, ruft Müller durch den Lautsprecher. „Aber wir wollen auch nicht unseren Planeten zerstören!“ Diese Gespaltenheit äussern auch einige der beobachtenden AnwohnerInnen. „Natürlich ist die Waldabholzung schlimm“, sagt eine Anwohnerin, „aber mein Vater arbeitet bei RWE“. „Wir alle kennen Leute, die beim Konzern angestellt sind“, meint ihre Kollegin.
„Wir stehen immer wieder mit der Gewerkschaft IGBCE in Kontakt“, sagt Finn. Dort hätte man durchaus auch Sympathien, wenn auch längst nicht von allen. Auch RWE-Angestellte gingen in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Strasse
„Sie trampeln auf frischen Setzlingen rum — Sie untergraben die Authentizität Ihrer Kundgebung“
Der Demonstrationszug erreicht die nächste Ortschaft: Merzenich. Kurz ausserhalb von Merzenich ist dann Schluss: Ein riesiger Polizeikonvoi rollt an, kesselt den Demonstrationszug ein. Weiter geht es nicht – wegen der anvisierten Autobahnbrücke. Das sei zu gefährlich, sagt die Polizei. Der Anwalt der Veranstalter von Ende Gelände geht vor und verhandelt, schüttelt dabei energisch den Kopf. Es vergehen rund siebzig Minuten. Die Situation scheint sich intervallartig zu entspannen und wieder anzuspannen. „Wir sind friedlich! Was seid ihr?“, brüllen die DemonstrantInnen gegen die Polizeiwand. Einige der BeamtInnen lachen, andere scheinen selber keine Lust mehr zu haben.
Schliesslich wird eine alternative Route ausgehandelt, abseits der Autobahn. Über Feldwege soll sie führen. Der ohnehin schon lange Weg vom Klimacamp nach Morschenich wird damit noch länger. Der Demonstrationszug setzt sich in Bewegung, es kommt wieder Stimmung auf. Der Lautsprecherwagen spielt „People have the Power“ und Lieder von Ton Steine Scherben. Auf der linken Seite der DemonstrantInnen erstrecken sich Felder mit Setzlingen, dahinter liegt die stillgelegte Autobahn. Plötzlich wechselt die Musik – und 6500 Menschen rennen los. Quer über die Felder, geradewegs auf die stillgelegte Autobahn zu.
Die Polizei ist sichtlich überfordert. In den schweren Kampfmonturen rennen die BeamtInnen einzelnen Personen nach und versuchen sie umzuwerfen. Es kommt vereinzelt zu Handgemengen. Die PolizistInnen schlagen zu. Unbeirrt rennen die AktivistInnen im Zick-Zack-Kurs auf den Hang zu, brechen den Zaun in Sekundenschnelle nieder und erklimmen die Autobahn. Oben warten bereits weitere Einsatzkräfte mit Schlagstöcken und Pfefferspray, ein Wasserwerfer wird auf die Autobahn gefahren. Es kommt zu wüsten Szenen
Ein Mann, vielleicht um die Fünfzig, schreit die BeamtInnen in gebrochenem Deutsch an – tränenüberströmt wegen des Pfeffersprays: „Habt ihr auch Kinder?!“ Die BeamtInnen erwidern nichts. „Habt ihr auch Kinder?“, setzt der Mann wieder an. „Wir tun das doch nicht nur für uns, wir tun das auch für eure Kinder!“
Derweil hat sich die Polizei etwas gefangen und reorganisiert. „Verlassen Sie sofort das Feld!“, scheppert es aus dem Lautsprecherwagen. „Sie trampeln auf frischen Setzlingen rum. Sie zerstören die Ernte des Bauern. Sie untergraben die Authentizität Ihrer eigenen Kundgebung.“
„Das ist ein inakzeptables Verhalten, eine Machtdemonstration“
Rund 2500 Personen ist der Spurt über Wiese, Feld und Beton gelungen. Mithilfe von Wasserwerfern hat die Polizei versucht, einige von ihnen vom Überqueren der Autobahn abzuhalten – grösstenteils erfolglos. Diese AktivistInnen lassen sich jetzt auf den Schienen nieder, auf denen riesige Waggons tagein, tagaus Kohle zu einem RWE-Kraftwerk transportieren.
Auf der Wiese vor der Autobahn geht indes das Chaos weiter. Als eine Gruppe von rund 50 Personen an der Polizeiblockade vorbeirennen will, stellen sich ihnen knüppelschwingend mehrere Dutzend Beamte und Beamtinnen entgegen und sprühen Pfefferspray aus nächster Nähe. Beides verstösst gegen geltendes Recht. „Die Linke“-Abgeordnete Sylvia Gabelmann, welche als parlamentarische Beobachterin die Aktion begleitet, eilt heran und konfrontiert den Kompanieführer. Ein hitziges Gespräch entbrennt. „Sie wären sonst auf die Autobahn gerannt, da besteht akute Lebensgefahr“, meint der Polizist. „Die Autobahn ist ohnehin gesperrt! Das ist ein inakzeptables Verhalten, eine gefährliche Machtdemonstration“, erwidert die Beobachterin. „Sie lügen mich an, die Autobahn ist gesperrt!“
Irgendwann lassen sich die DemonstrantInnen auf dem schmalen Kiesweg nieder und verhaken sich ineinander, wie im Aktionstraining gelernt. Der Lautsprecherwagen der Polizei warnt immer und immer wieder. Jede Ankündigung zur Räumung des Geländes soll angeblich die letzte sein, aber es folgen immer weitere. Die Demonstration sei aufgelöst, scheppert es vom Lautsprecherwagen der Polizei: Unter Polizeibegleitung sollen die AktivistInnen den Weg zurück zum Camp gehen.
„Mein Alter ist von Vorteil — die Polizei schlägt mich weniger“
Rund zwei Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, auf der anderen Seite der Autobahn, liegen die besetzten Bahnschienen. Immer mehr Menschen treffen ein und lassen sich darauf nieder, einzelne kommen direkt von der Demonstration in Morschenich. Die Polizei scheint etwas ratlos – zu viele AktivistInnen sind da, als dass sie alle abführen könnte. Darunter befinden sich mittlerweile auch Kinder und ältere Personen, Schlafsäcke werden ausgerollt, Musik gespielt, es wird gegessen, gelacht, geredet und man bereitet sich vor: auf eine Nacht im Freien bei drei Grad.
Einer von ihnen ist der 75-jährige Günther. Munter erzählt er von den Aktionen, an denen er schon teilnahm, von den Festnahmen und dem Gefängnis. Er erinnert sich an Sophie Scholl und zitiert Hannah Arendt, erzählt von der Wichtigkeit von Widerstand und seinem Grossvater, der ein Nazi war. Ob sein Alter kein Hindernis für seinen Aktivismus sei, wollen wir zum Schluss noch wissen. Günther winkt ab: „Das ist sogar von Vorteil: Die Polizei schlägt mich weniger!“
Bei Tagesanbruch verlassen einige der AktivistInnen die Schienen, andere ketten sich daran fest. Am Ende des Tages greift die Polizei schliesslich durch und löst die Besetzung gewaltsam auf.
Am Tag nach der beendeten Besetzung verschickt das Pressekomitee von Ende Gelände eine Sondermitteilung an die Medienschaffenden. Es ist ein Faktencheck, denn bereits sind erste Agenturmeldungen und Schlagzeilen im Umlauf.
Bei der Schienenbesetzung etwa, sei zum Teil voreilig berichtet worden– und dies meist nicht zugunsten der AktivistInnen. Das zeigt sich zum Beispiel an der Meldung, dass am Freitag Züge der Deutschen Bahn aufgrund von Protesten nicht gefahren seien. Die Wahrheit ist: Die Züge fuhren wegen der Blockade des Sonderzugs mit AktivistInnen aus entfernteren Städten am Bahnhof Düren durch die Polizei nicht. Rund 1200 Personen wurden bis zu 10 Stunden am Bahnhof festgehalten. Die Schienen, die von den AktivistInnen am Samstag blockiert wurden, sind vollumfänglich im Privatbesitz der RWE und tangieren den öffentlichen Verkehr nicht.
Die RWE-Gleise wurden am Sonntag nach einer über 24 stündigen Blockade gewaltsam geräumt. Und die AktivistInnen von Ende Gelände werden wiederkommen – friedlich, aber renitent.
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