Wahrscheinlich ist der Sonderbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC; Weltklimarat), der Anfang Oktober publiziert wurde, bei vielen schon in Vergessenheit geraten. Zeitungsleser*innen, die mit einem guten Gedächtnis gesegnet sind, erinnern sich vielleicht, dass der Bericht das an der Klimakonferenz in Paris noch etwas vage formulierte Ziel von „deutlich unter zwei Grad Klimaerwärmung gegenüber der vorindustriellen Periode“ genauer eingrenzt. Das IPCC setzt nämlich eine Obergrenze: Eine maximal 1.5 Grad höhere Durchschnittstemperatur sei unbedingt einzuhalten. Aus dem Bericht geht auch hervor, dass, wenn wir so weitermachen wie bisher, diese Obergrenze bereits 2040 erreicht sei. Das bedeutet, dass Massnahmen für den Klimaschutz am besten gestern statt heute getroffen werden. Denn dieses halbe Grad weniger macht einen massgeblichen Unterschied für unser Ökosystem aus.
Die Wochenzeitung erklärt, dass bei 1.5 Grad Erwärmung statt 99 Prozent aller Korallen „nur“ 70 bis 90 Prozent sterben würden, 18 statt 6 Prozent aller Insekten und 8 statt 16 Prozent aller Pflanzenarten vom Aussterben bedroht wären. Ausserdem ist anzunehmen, dass Folgen wie stärkere Versalzung der Böden, längere Dürreperioden und tropische Wirbelstürme weniger häufig beziehungsweise weniger stark auftreten.
In einem „Echo der Zeit“-Beitrag spricht Philippe Thalmann, Umweltökonom der ETH Lausanne, davon, dass der Meeresspiegel sich bei zwei Grad Erwärmung kritisch erhöhen würde, was dazu führt, dass „dutzende Millionen mehr Menschen“ ihre wichtigste Lebensgrundlage verlieren: den Boden, auf und von dem sie leben. Was bei Thalmanns Beitrag auch klar wird: Es geht nicht darum, ob es in Zukunft klimabedingte Migration gibt, es geht um die Grössenordnung: „Dutzende Millionen mehr oder weniger“ im Vergleich zu den 19 Millionen Flüchtenden, 3 Millionen Asylsuchenden und fast 40 Millionen Binnenmigrant*innen 2017. Migration wird uns also weiter beschäftigen, insbesondere die regionalen und globalen Migrationsbewegungen hervorgerufen durch den Klimawandel.
Das Problem dabei ist, dass diese Migrant*innen bis jetzt kaum internationalen Schutz geniessen. Denn es gibt bis heute keine konkrete, international anerkannte Strategie zur Sicherung der Rechte von Menschen, die vor den Folgen des Klimawandels fliehen. Die UNO-Flüchtlingskonvention anerkennt Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, sozialer Gruppe oder politischer Anschauung, Gefährdung des Rechts auf Leben oder Freiheit und geschlechtsspezifischer Diskriminierung als Fluchtgrund an. Warum nimmt man Klimaveränderung nicht einfach in den Katalog auf?
-
- Weil man nicht vor der Klimaerwärmung, sondern vor deren Folgen flieht und diese nicht immer einfach zu bestimmen sind. Steigt der Meeresspiegel und lässt Boden verschwinden, ist eine — mindestens mittelfristige — Migration unumgänglich. Werden bestehende Umweltprobleme wie Dürreperioden vom Klimawandel verstärkt, ist die Situation weitaus schwieriger. Denn dadurch müssen Menschen nicht unmittelbar fliehen, und je nach sozioökonomischen und geografischen Bedingungen stehen völlig unterschiedlichen Alternativen für die Betroffenen offen. Während ein reiches Land die Folgen einer schlechten Ernte mit Importen abfedern kann, schwillt Armut in einem anderen mitunter bis zu einer schwerwiegenden humanitären Krise an.
- Weil entschieden werden muss, ob antizipierte klimatische Veränderungen bereits als Fluchtgrund ausreichen oder ob genaue Richtlinien über die Befugnis zur Flucht festgelegt werden müssen. Würden solche Richtlinien eingeführt, würden sie die unter Punkt drei genannte Problematik noch verstärken. Und die Möglichkeit, würdevoll zu fliehen, stünde vermehrt Besitzenden offen.
- Weil Klima keine isolierte Variable ist, sondern andere Fluchtgründe wie Krieg oder Verfolgung anfeuert. Das führt zu fehlender Trennschärfe bezüglich unterschiedlicher Fluchtgründe. Je nachdem, ob eine Praktik restriktiver wäre als die andere, könnte dies zu ungerechtfertigten Rückweisungen führen, wenn man den „falschen“ Asylgrund angibt.
- Weil der Klimawandel die Länder des globalen Südens am frühesten und stärksten trifft. Das Konzept des „Klimaflüchtlings“ läuft also Gefahr, sich über Armut zu definieren. Denn zusätzlich zur Tatsache, dass reiche Länder sich eher vor den Folgen des Klimawandels schützen können, haben ihre Bewohner*innen auch eher die Möglichkeit, regulär zu migrieren. Wenn nun Bewohner*innen des globalen Südens ihre Lebensgrundlage verlieren und auf das Wohlwollen von Asylpraktiken vom Westen angewiesen sind, verstärkt das das globale Machtgefälle.
All diese Einwände machen es schwierig, eine griffige Definition von Klimaflüchtlingen zu formulieren, die diese auch wirklich schützen. Es stellt sich also die Frage, ob klimabedingte Migration wirklich als traditioneller Fluchtgrund verstanden werden sollte, oder vielmehr nach einer eigenen Regelung verlangt. Denn das Risiko der politischen Instrumentalisierung ist beträchtlich. Nicht nur würden Staaten, die den Klimawandel verleugnen, eine restriktive Auslegung fordern, sie könnten damit auch die Dringlichkeit von Massnahmen gegen den Klimawandel unterminieren.
Der Klimawandel wird Menschen gewaltsam aus ihrem gewohnten Leben reissen, in das sie unter Umständen nie wieder zurückkehren können. Doch dieses Szenario muss nicht zu einer weiteren „Flüchtlingskrise“ führen. Es braucht Migrationsmöglichkeiten, die Menschen auch vor der Vernichtung ihrer Lebensgrundlage offenstehen. Migration sollte nicht als unerwünschte Folge von Klimawandel konzipiert werden; sie sollte vielmehr als präventives Instrument verstanden werden, um dessen fatale Folgen einzudämmen.
Doch davon sind wir weit entfernt. An der Klimakonferenz in Cancún 2010 hat die Staatengemeinschaft klimabedingte Migration zwar als Herausforderung anerkannt. Und an der Pariser Klimakonferenz wurde eine Task Force ins Leben gerufen, die konkrete Vorschläge zur „Katastrophenvorsorge“ erarbeiten soll. Die sogenannte Nansen-Initiative versucht, eine kohärente, internationale Antwort auf den fehlenden Schutz der Klimamigrant*innen zu geben.
Die 2016 gegründete Platform on Disaster Displacement ist die Nachfolgerin der Nansen-Initiative, die unter anderem systematisch Daten zu klimabedingter Migration sammelt, was bis anhin nicht gemacht wurde. Nur wie bei allen Massnahmen, die mit dem Klimaschutz zu tun haben, gilt auch hier: Sie werden viel zu langsam vorangetrieben.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 875 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 425 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?