Das Erste, was ich über die Serie Bridgerton erfahren habe, war ein Stück Gossip: Der Hauptdarsteller soll unglaublich gut aussehen. Meine Neugierde war geweckt.
Bridgerton ist eine historische Dramaserie, die auf den Romanen der US-amerikanischen Autorin Julia Quinn basiert. Sie lief im Dezember 2020 auf Netflix an und hat einen regelrechten Hype ausgelöst. Alle drei Staffeln, die bis jetzt veröffentlicht wurden, finden sich in der Top 10 der meist gesehenen Serien auf Netflix wieder und verzeichnen zusammen unglaubliche 310 Millionen Views. Und es stimmt tatsächlich: Der Duke sieht gut aus.
Die Serie spielt im London des frühen 19. Jahrhunderts und dreht sich um die romantischen und gesellschaftlichen Verstrickungen der wohlhabenden Bridgerton-Familie. Doch das zentrale Element ist die anonyme Klatschkolumnistin Lady Whistledown, die regelmässig eine kleine Zeitung mit Enthüllungen über das Privatleben der viktorianischen High Society herausgibt und für Aufruhr sorgt. Sie schreibt über Affären, deckt geheime Verbindungen auf und verbreitet Gerüchte, während ihre eigene Identität (vorerst) geheim bleibt. Das zentrale Element der Serie ist Gossip.
Gossip = Macht
Gossipen ist das informelle und oftmals spekulative Teilen von Informationen über andere Menschen oder Ereignisse. Es kann wie bei Bridgerton soziale Interaktionen beeinflussen und sowohl konstruktive als auch verheerende Auswirkungen haben. Die Enthüllungen von Lady Whistledown in Kolumnen-Form sind gut getimte und präzise Spitzen gegen das Dahinplätschern der viktorianischen Klassenordnung. Sie sorgen für einen gewissen Unsicherheitsfaktor, der die sonst vorhersehbare Serie etwas spannender macht. Man weiss nie, was für eine unvorhergesehene Wendung mit der nächsten Ausgabe des Klatschblättchens bevorsteht.
Ich muss gestehen, dass ich alle drei Staffeln geschaut habe. Nicht, weil die Storylines so packend, die Geschichten besonders gehaltvoll oder das Set-up kreativ wären. Es waren vielmehr die seichte Unterhaltung und die gleichzeitig „dramatischen“ Wendungen, die mich in den Bann zogen – ausgelöst durch die immer neuen Enthüllungen.
Es erinnerte mich stark an die Serie Gossip Girl (2007), die im New York der Jetztzeit spielt und wo ein anonymer Blog die Rolle von Lady Whistledown erfüllt. In beiden Serien nutzen die Kolumnist*innen Informationen, um das Verhalten und die Entscheidungen der Menschen um sie herum zu beeinflussen.
Und in beiden Serien wird deutlich: Über den richtigen Gossip zum richtigen Zeitpunkt zu verfügen, ist pure Macht. Als subtile Form der Kontrolle bringt er die bestehende Machtstrukturen ins Wanken. Das ist eine Leistung, zu der die Menschen hinter Lady Whistledown und Gossip Girl aufgrund ihrer Position in der gesellschaftlichen Ordnung nicht fähig gewesen wären. Gossip wird so als Werkzeug gegen die elitäre Gesellschaft eingesetzt, in der die jeweiligen Settings eingebettet sind.
Dennoch haftet Klatsch, Tratsch, Munkeln und Lästern oft einen negativen Beigeschmack an. Häufig verbreiten sich Informationen über andere ohne deren Zustimmung – und statt Fakten dienen Gerüchte und Halbwahrheiten als Quellen. Der moralisierende Charakter lässt sich kaum vermeiden, denn wer zur Zielscheibe für Tratsch wird, hat eine Norm verletzt oder Grenzen überschritten – doch unklar ist, wer überhaupt definiert, was das „richtige“ Verhalten ist, an das man sich halten muss, um Tratsch zu vermeiden.
Doch nicht jedes Teilen von informellen Informationen muss missgünstig sein. Der negative Beigeschmack ist nicht neu. Gossip wurde schon in der Vergangenheit oft als triviales Verhalten abgestempelt – insbesondere der informelle Austausch von Frauen und weiblichen Gemeinschaften, was sich beispielsweise in der stereotypen Bezeichnung „Klatschtante“ hält.
Gossip = Freiheit?
Auch Silvia Federici, die italienisch-amerikanische Schriftstellerin und feministische Aktivistin, geht dieser Verbindung nach. Sie beleuchtet in ihrem Buch „Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation“ (2004) die Rolle von Gossip im Kontext der sozialen Kontrolle und der Hexenverfolgungen. Sie beschreibt, wie Gossip ursprünglich eine Bezeichnung für die Freund*innenschaft von Frauen war, die bei wichtigen Ereignissen wie Geburten dabei waren.
Im frühen England hatte der Begriff positive emotionale Konnotationen und betonte die enge Bindung und Solidarität unter Frauen. Mit der Zeit – besonders im 16. Jahrhundert – wandelte sich die Bedeutung jedoch zum Negativen, um Frauen zu diffamieren und ihre sozialen Interaktionen als eitles Gerede abzustempeln. Diese Umdeutung der Idee von Gossip beschreibt Federici als ein Instrument, das die Solidarität und Netzwerke der Frauen schwächt, um patriarchalen und kapitalistischen Machtstrukturen Raum zu geben.
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buchdeckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzyklopädien im untersten Regalfach kann Wissen in ganz unterschiedlichen Formen kommen.
Doch was zählt überhaupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzyklopädie widmet sich Ann Mbuti den Wissensformen unserer Zeit. Mit kritischem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere individuellen Perspektiven und Erfahrungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesammelt und interpretiert wird.
Ann Mbuti ist unabhängige Autorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf künstlerische Projekte, die das Potenzial für soziale, politische oder ökologische Veränderungen haben. Derzeit beschäftigt sie sich mit Mythologien, mündlicher Geschichte, Science Fiction und der Verschmelzung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Professorin für Prozessgestaltung am HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.
Da wir sowieso gerade daran sind, das Patriarchat zu überwinden: Ist es nicht höchste Zeit, dem Klatsch wieder den ihm gebührenden Platz einzuräumen? Denn was wäre, wenn wir Gossip mehr zutrauen, als nur seichtes Gerede zu sein? Was, wenn er unsichtbare Verbindungen knüpft, die das System untergraben und sich als ein Werkzeug erweist, das Netzwerke stärkt und alternative Wissenssysteme schafft, fernab der Kontrolle patriarchaler Institutionen?
Diese Wissenssysteme könnten informelles, subversives Wissen über Ungerechtigkeiten, Missstände und die Brüche im gesellschaftlichen Gefüge vermitteln, das im öffentlichen Diskurs sonst keinen Platz findet. Statt über Skandälchen, Affären und Fehltritte zu berichten, könnte Gossip dazu beitragen, kollektive Erfahrungen und Widerstandserzählungen zu teilen, die soziale Hierarchien infrage stellen und solidarische Gemeinschaften stärken.
Klatsch könnte uns näher an eine gerechtere Gesellschaft bringen: Liberté, Egalité, Gossipé!
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