August 2021, die Taliban erobern in Afghanistan Stadt um Stadt: 13. August, die zweitgrösste Stadt Kandahar wird von den Taliban erobert; 14. August, Mazar‑i Sharif fällt; am 15. August schliesslich fällt auch Kabul.
Währenddessen sitzen in der Schweiz 176 Geflüchtete, die auf eine mögliche Ausschaffung warten. Ohne zu wissen, ob morgen, in einer Woche oder einem Monat die Nachricht kommt, dass ihr Flug bereit steht.
Es sind Tage der Angst. Während Geschichten über Kriegsverbrechen und die neue Herrschaft der Taliban über die Bildschirme von Handys, Computern und Fernsehern flattern, warten die Geflüchteten in Ungewissheit.
Chronik einer angekündigten Katastrophe
Doch die Macht der Taliban, der Fall der Regierung und der Bürgerkrieg, der mit der Eroberung von Kabul durch die Taliban endete, war vorhersehbar. Schon Mitte Mai 2021 prophezeite die NZZ in einer Reportage eine zukünftige Herrschaft der Taliban.
Die Situation verschlimmerte sich von Woche zu Woche.
Am 8. Juli, mehr als einen Monat vor der Eroberung Kabuls, baten deshalb die afghanischen Behörden die europäischen Staaten, auch die Schweiz, alle Ausschaffungen auszusetzen. Deutschland und Österreich strichen deshalb einen Flug, der auf Anfang August angesetzt gewesen war. Nicht so die Schweiz.
Warum, fragte dann die Republik am 22. Juli, plane die Schweiz weiterhin Ausschaffungen nach Afghanistan? Das Staatssekretariat für Migration (SEM) antwortete damals, man prüfe jeden Fall genau und man würde sowieso nur in die sicheren Städte Kabul, Herat und Mazar‑i Sharif ausschaffen.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 86 Prozent des afghanischen Territoriums von den Taliban kontrolliert.
Doch eine Entscheidung des SEM blieb aus. Auf Anfrage von das Lamm weicht die entsprechende Medienstelle aus, die Nachricht der afghanischen Regierung habe „eine unmittelbare Reaktion des SEM auf operativer Ebene ausgelöst“. Sie schreibt, man habe damals „die Vorbereitungen getroffen, um allfällig geplante Rückführungen vorsichtshalber zu sistieren“. Doch diese Aussage deckt sich nicht mit Medienaussagen und internen Dokumenten aus der Zeit, denn bis Ende Juli hiess es offiziell, weitere Ausschaffungen könnten in die besagten Städte durchgeführt werden.
Lea Hungerbühler von der Asylrechtsberatungsstelle Asylex sagt: „Die Situation für die Betroffenen ist Tag für Tag schlimmer geworden.“ Die medienwirksame Ankündigung wenige Monate zuvor, wieder Ausschaffungen durchzuführen, habe ein Klima der Angst geschaffen. „Während die Menschen Schreckensnachrichten von ihren Bekannten in Afghanistan bekamen, mussten sie hier jeden Tag mit einer Festnahme zwecks Ausschaffung rechnen“, so Hungerbühler.
Keine baldige Eroberung Kabuls erwartet
Eigentlich wollte das SEM noch im Juni 2021 einen Abschiebeflug durchführen. Doch dies war nicht möglich, „weil die betroffene Person nicht mehr auffindbar war“. So steht es in einem internen Bericht, den das Lamm per Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat. Dort wird auch die Bitte der afghanischen Behörden an das SEM erwähnt.
In dem entsprechenden Dokument heisst es: „Am 8. Juli 2021 teilten die afghanischen Behörden der Schweiz sowie den europäischen Staaten ihren Beschluss mit, die nicht freiwillige Rückkehr aufgrund der Entwicklung der Lage vor Ort um drei Monate (8. Juli 2021 — 8. Oktober 2021) zu verschieben“ [Übersetzt aus dem Französisch]
Danach folgt im Dokument eine Analyse der Lage vor Ort, ausgeführt vom SEM. Die Lage habe sich in Folge des Abzugs der US-amerikanischen Truppen verschlechtert. Zudem hätten die Taliban bereits grössere Teile des Landes erobert, was auch die Städte verunsichern könne.
Trotzdem: Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass Ausschaffungen unter gewissen Umständen in die grösseren Städte weiterhin möglich seien. Das Urteil stammt vom 14. Juni 2021 – zwei Monate vor der Eroberung Kabuls.
Die Schlussfolgerung des internen Dokumentes lautet: „Es gibt somit keine Anzeichen dafür, dass das BVGer den Wegweisungsvollzug nach Afghanistan trotz der jüngsten Entwicklungen grundsätzlich in Frage stellen würde.“ Man wolle trotz des Entscheids der afghanischen Behörden vorerst an der geltenden Asylpraxis festhalten, weitere Informationen sammeln und im September an einer Sitzung der Geschäftsleitung des SEM weiter über die Zukunft beraten.
Zum geplanten endgültigen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan am 11. September 2021 sollten Vor- und Nachteile einer Änderung der Asylpraxis in einem Dokument gegenübergestellt und der Geschäftsleitung vorgestellt werden.
Doch dann verliess das US-Militär am 31. August Hals über Kopf den Flughafen von Kabul.
Die Vor- und Nachteile wurden gemäss Protokoll nie abgewogen, die entsprechende Sitzung fand nicht statt.
Das SEM plante langsam, man nahm sich Zeit. Im Dokument von Ende Juli heisst es noch: „Sollten die Taliban wider Erwarten innert kürzester Zeit auch die drei Städte einnehmen, so würde der DB Asyl die notwendigen Massnahmen einleiten. Mit Stand Ende Juli 2021 erweist sich dies (noch) nicht als notwendig.“
Weitere Dokumente – beispielsweise vom Verteidigungsdepartement –, die genaue Informationen zur Lageeinschätzung vor Ort beinhalten, gibt der Bund aus geheimdienstlichen Gründen nicht heraus. Gemäss einem Gesetz aus dem Jahr 2015 ist der Geheimdienst ausdrücklich aus dem Öffentlichkeitsgesetz ausgeschlossen.
Da das SEM sich offiziell auf diese Berichte stützt, dürfte die Einschätzung der Lage in Afghanistan zu diesem Augenblick nicht sonderlich anders gewesen sein. Die offizielle Schweiz rechnete Ende Juli nicht mit einem schnellen Fall der afghanischen Regierung.
Fünfzehn Tage vor der Einnahme Kabuls.
Die Mühlen der Bürokratie
Am Ende ist es doch notwendig, schnell zu handeln. Am 11. August, vier Tage vor der Eroberung Kabuls, kommt der Entscheid des SEM, vorerst auf die Anordnung von Wegweisungsvollzügen zu verzichten. Kurz: Es werden keine weiteren Ausschaffungen durchgeführt oder geplant.
Plötzlich kommt Bewegung ins Feld und mehrmals die Woche werden Sitzungen einberufen. Die Protokolle liegen das Lamm vor.
Es werden spezielle Taskforces gebildet. Eine der Wichtigsten mit wöchentlichen Reports ist die „Task-Force Bürgeranfragen Afghanistan auf Amtsstufe“. Von Ende August bis Mitte September gehen über 6’000 Anfragen per Mail ein, die meisten werden mit Standardnachrichten beantwortet.
Ende August wird die Aufnahme von lokalem Personal behandelt – weiterreichende Forderungen, wie die von den Nationalrät:innen Fabian Molina und Samira Marti, 10’000 Geflüchtete aufzunehmen, werden nicht besprochen. Es geht um ehemalige Angestellte plus Familien, 240 Menschen sollen kommen. Am Ende sind es 167 Personen, die in einem ersten Flug in die Schweiz gebracht und auf verschiedene Bundesasylzentren verteilt werden.
Zusammen mit anderen Flügen reisen insgesamt 219 ehemalige Arbeiter:innen und deren enge Familienangehörige in die Schweiz ein. Dazu kommen 75 Personen mit Schweizer Pass oder Aufenthaltsbewillung und weitere 93 Personen, die Angehörige von Personen mit regulärem Aufenthalt in der Schweiz sind oder „humanitäre Einzelfälle“ – Personen, die in den Augen des SEM genügend gefährdet sind, um ein Visum für die Schweiz zu bekommen. Gesamtzahl Mitte November: 387 Personen.
Derweil werde die Schweizer Botschaft in Islamabad, Pakistan, die auch für Afghanistan zuständig ist, mit Anfragen zum Asyl „überflutet“, so das SEM. Es werden erste Interviewtermine für die Ausgabe von Visa vor Ort vereinbart. Das SEM rechnet am 27. August damit, dass das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten um die Entsendung von spezialisiertem Personal bitten wird.
„Ab September wurden insgesamt 3 Personen für je drei Wochen nach Islamabad entsandt“, so das SEM auf Anfrage. Man habe dort 61 Anträge für humanitäre Visa bearbeitet, in 28 Fällen wurde positiv entschieden.
Vor allem stellte die Geschäftsleitung des SEM am 31. August folgendes fest: Die „Standard-Antwort wird angepasst, um klarer auf Aussichtslosigkeit von Gesuchen ohne CH-Bezug einzugehen“. Die Schweiz hat kein Interesse daran, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen.
Die Menschen im Stich gelassen
Die Rechtsanwältin Hungerbühler überraschen diese Enthüllungen nicht. Das SEM, der Bund und die europäischen Staaten hätten die Lage in Afghanistan vollkommen verkannt. Die Reaktion des SEM zeige zudem die harte Position des Bundes in Fragen des Asyls – „man gibt einfach nicht nach“.
Dabei hätte die Schweizer Politik eine Verantwortung, insbesondere gegenüber der afghanischen Diaspora in der Schweiz. „Das sind Menschen, die Teil der Schweizer Gesellschaft geworden sind, die Familienangehörige in Afghanistan haben und nun unter den Taliban leiden“, so Hungerbühler.
„Es ist beschämend. Man hätte helfen können, aber hat stattdessen die kalte Schulter gezeigt.“
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