Die CSD-Saison geht dem Ende zu. In den meisten deutschen Städten, in denen die Pride-Demos stattgefunden haben, geschah dies in einer überwiegend wohlwollenden, unterstützenden Atmosphäre.
Die direkte öffentliche Abwertung von queeren Menschen ist in Deutschland – bis auf aggressive Transfeind*innen – eine Ausnahme geworden; die Zustimmungswerte der Bevölkerung zur „Ehe für alle“ und queeren Lebensentwürfen befinden sich auf einem historischen Hoch.
Für Jüngere ist das fast schon selbstverständlich – ältere Queers erinnern sich daran, dass das Klima noch in den Nullerjahren keineswegs so liberal und verständnisvoll war; homophobe und queerfeindliche Witze gehörten zum Standardrepertoire von TV-Comedy-Produktionen, und das Händchenhalten in der Öffentlichkeit war für queere Personen ein grösseres Risiko als heute.
Diese hohe Zustimmung zu queerem Leben macht es queerfeindlichen Organisationen und Einzelpersonen schwer, ihre hetzerischen Botschaften direkt zu artikulieren: Viele wählen heute Formen der „Umwegskommunikation“, indem sie zum Beispiel darüber sprechen, die „traditionelle Familie“ aufwerten oder Kinder vor „Frühsexualisierung“ oder „Gender-Indoktrination“ schützen wollen.
Die Rhetorik transfeindlicher Organisationen wird ständig schriller – befeuert von transfeindlichen Prominenten wie der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling oder Tesla-Chef Elon Musk. In der Anonymität von Social Media wird der Hass offen artikuliert – regressive Männlichkeitsvorstellungen definieren sich nach wie vor über antiqueere Abwertung, sei es auf X, YouTube oder TikTok.
Entpolitisierung der Pride
Demgegenüber stehen die Pride-Demos als öffentliche Selbstfeier einer sich liberal und aufgeklärt wähnenden Mitte. Die ursprünglich radikal emanzipatorischen Botschaften sind den Demos oft abhandengekommen. Zu Prides gehen weisse Heterofamilien wie zu einem Stadtteilfest oder Karnevalsumzug. Die Familienfreundlichkeit der Veranstaltungen geht so weit, dass die Anwesenheit von Fetisch-Communities wie den maskierten „Puppies“, früher selbstverständlicher Teil der Demos, inzwischen immer öfter infrage gestellt wird – wie soll man das denn den Kindern erklären?!
Statt den queeren Selbstausdruck zu unterstützen, geben die sogenannten Allies immer häufiger den Takt vor; heteronormative Muster drücken den Veranstaltungen ihren Stempel auf. Unverbindliche, weichgespülte Mottos nach der Bauart „Liebe für alle“ machen die Aufmärsche zum begehrten Vehikel kommerzieller Werbeinteressen wie auch parteipolitischer Selbstdarstellung. Internationale Airlines und Investmentbanken, die eben noch der Trump-Kampagne gespendet haben, inszenieren sich hier als Freund*innen der queeren Community.
Ähnliches bei den Parteien: In Deutschland, wo die SPD über Jahrzehnte hinweg die „Ehe für alle“ auf die lange Bank geschoben hatte, gehört ein Partywagen der Sozialdemokrat*innen zur Standardausstattung. Ebenso die CDU, die sich hier feiern lässt, um am Tag nach der Pride in den Parlamenten gegen „Gender-Gaga“ und das Selbstbestimmungsgesetz zu wettern (das trans Menschen seit kurzem eine einfache Änderung des Personenstands erlaubt). Die Veranstalter*innen stellen das meist nicht infrage, sind sie doch oft selbst mit der örtlichen Parteienlandschaft verwoben oder durch Sponsoring-Verträge verpflichtet.
Dass diese durchweg „mittigen“, nahezu entpolitisierten Veranstaltungen seit neuestem selbst wieder stärker ins Fadenkreuz der Rechten geraten, also von ihren Feind*innen repolitisiert werden, ist dabei bittere Ironie.
Rechte Angriffe und bürgerliche Verharmlosung
In der sächsischen Stadt Bautzen konnte in diesem Sommer beispielsweise eine „Gegendemo“ aus Nazis und Rechtsextremen ungestört hinter der CSD-Parade herlaufen – selbst als das „Sylt-Lied“ gesungen wurde, also die bekannte rassistische Neudichtung von Gigi d’Agostinos „L’Amour toujours“, schritt die Polizei nicht ein. Besucher*innen berichten von bedrohlichen Situationen; die Abschlussveranstaltung musste abgesagt werden – die Sicherheit sei nicht mehr zu gewährleisten.
Vor dem CSD Leipzig versammelten sich die Rechtsextremen im Hauptbahnhof und zeigten offen verfassungsfeindliche Symbole – hier erschreckt vor allem, wie viele Jugendliche unter den Rechtsextremen waren. In beiden Fällen hatten rechtsextreme Gruppen zuvor zur Teilnahme mobilisiert – ähnlich wie in Köln, Berlin, Gifhorn und Essen.
Die Pride-Märsche scheinen in diesem Jahr ein besonderer Anziehungspunkt für Rechte zu sein – in diesem Ausmass sind organisierte „Gegenveranstaltungen“ zu CSDs ein neues Phänomen in der Szene. Vergleichbar sind nur die „Demos für alle“, die besonders in den 2010er-Jahren aktiv waren, sich gegen sexuelle Diversität in den Lehrplänen richteten und ultrareligiöse Abtreibungsgegner*innen mit Rechtsradikalen verbanden.
Ohne Zweifel wurde der Trend in der digitalen Sphäre begründet. Schon länger lässt sich beobachten, dass rechte Influencer*innen und Video-Blogger gezielt Pride-Veranstaltungen aufsuchen, um in „Interviews“ Queers blosszustellen, als „krank“ und „unnormal“ zu markieren. Besonders im Fokus stehen dabei trans und nicht-binäre Personen. Den Trend, der zuerst in der amerikanischen Alt-Right-Bewegung aufkam, vertritt in Deutschland zum Beispiel der rechte Influencer „Ketzer der Neuzeit“.
Mit den CSDs attackieren die Rechten bewusst ein Demo-Format der politischen Mitte, das bis in konservative Kreise hinein Sympathien hat. Neu ist die offene Polarisierung gegen geschlechtliche Vielfalt und queeres Leben, die sich gar nicht explizit gegen links richtet, sondern auch unpolitische Botschaften von Diversität und Offenheit attackiert. Attraktiv ist für Rechte auch, dass ihr „Gegenprotest“ im Umfeld von CSDs meist eine grosse Medienöffentlichkeit hat. Die bunten Demos mit ihren betont versöhnlichen Botschaften sind ein krasser Kontrast zu den martialisch auftretenden Rechten, die Diversität und Vielfalt als Bedrohung deutscher Familien zeichnen.
Boshaft liesse sich sagen: Neben Konzernen und Parteien nutzen jetzt auch Rechtsradikale die Prides zur Eigenwerbung. Die Bedrohung für queere Menschen ist jedoch real und darf nicht verharmlost werden.
Zumal Politik und Öffentlichkeit auf diese Bedrohung keine Antwort haben. Bedauerlich ist die Verharmlosung in bürgerlichen Kreisen: Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer (CDU) verlor zu Bautzen zunächst kein Wort. Erst nach Rückfragen verurteilte er die Bedrohungslage – nicht jedoch ohne die Pride-Demo als eine „Party … dieser Leute“ abzuwerten. Hier spielt der CDU-Politiker das Spiel der Rechten mit: Er spricht von „diesen Leuten“, als seien es nicht seine eigenen Bürger*innen, und wertet die Demo als eine Party ab.
CSDs sind politische Demonstrationen, bei denen für grundsätzliche Menschenrechte gekämpft wird – dass sie inzwischen sogar trotz Polizeibewachung bedroht werden können, müsste eigentlich alle Demokrat*innen alarmieren. Ob Konservative mit ihren Polemiken gegen das Gendern und das Selbstbestimmmungsgesetz nicht zur Problemlage beitragen, ist eine ganz andere Frage.
Kulturkampf und Repolitisierung
Viel spricht dafür, dass die Angriffe auf CSDs strategischer Natur sind, zu einer rechtsextremen Kampagne gehören. Queeres Leben soll aus der Mitte der Gesellschaft verschwinden, queere Symbolik keine Selbstverständlichkeit mehr sein; queere Menschen sollen wieder mit Angst auf solche Demos gehen. Gleichzeitig soll ein Keil zwischen die bürgerliche Mitte und die queere Community getrieben werden: Es soll eben nicht mehr selbstverständlich sein, als Heteropaar mit Kindern zu solchen Veranstaltungen zu gehen.
Die Politisierung der CSDs wird mit der Gefahr zunehmen, damit aber zugleich ihre Akzeptanz bei Akteur*innen der Mitte sinken. Schon mehren sich die Stimmen derer, die grundsätzlich davor warnen, solche Veranstaltungen in ostdeutschen Provinzstädten mit hohem AfD-Wähler*innenanteil wie Bautzen abzuhalten – provoziert man damit nicht noch zusätzlich? Auch diese Logik arbeitet den Rechten zu: Queersein soll wieder „Privatsache“ werden, keine Öffentlichkeit erhalten. Gleichzeitig wird die Bevölkerung einer Stadt wie Bautzen automatisch schon abgeschrieben, die Solidarität mit den dort lebenden Queers stillschweigend aufgekündigt.
Währenddessen gibt es von queerer Seite Versuche zur Repolitisierung der queeren Proteste. Initiativen wie “Pride Soli Ride” versuchen, CSD-Demos in kleinen ostdeutschen Städten zu organisieren, um die örtlichen Communities zu stärken und die kulturelle Hegemonie der AfD zu brechen. Mit dem Durchbruch der AfD bei den Landtagswahlen im Osten scheinen Initiativen wie diese gleichzeitig wichtiger und gefährlicher zu werden.
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