Sans-Papiers – Angst macht krank

Mit einem Pilot­pro­jekt möchte der Zürcher Stadtrat die Gesund­heits­ver­sor­gung für Personen ohne Kran­ken­ver­si­che­rung sicher­stellen. Ein wich­tiger Bestand­teil davon ist die Zusam­men­ar­beit mit zivil­ge­sell­schaft­li­chen Organisationen. 
Laut Schätzungen der Stadt sind zwischen 11 000 bis 14 000 Menschen in Zürich nicht krankenversichert. (Foto: Nguyễn Hiệp / Unsplash)

Eigent­lich sollte im Schweizer Gesund­heits­sy­stem niemand durch die Maschen fallen. Kran­ken­kassen sind verpflichtet, alle Menschen mit Wohn­sitz in der Schweiz, unab­hängig vom Aufent­halts­status, zu versi­chern. Wer sich die Prämien nicht leisten kann, hat Anspruch auf Prämienverbilligungen.

Die Realität sieht anders aus: Laut Schät­zungen der Stadt sind zwischen 11 000 bis 14 000 Menschen in Zürich nicht kran­ken­ver­si­chert. Für sie ist nur die Behand­lung in einem Notfall gesi­chert. Die Gründe für die fehlende Versi­che­rung sind viel­fältig. Aus Angst davor, von den Migra­ti­ons­be­hörden entdeckt zu werden, schliessen nur ein Bruch­teil der Sans-Papiers eine Kran­ken­ver­si­che­rung ab. Die hohen Prämien können sich Betrof­fene nicht leisten und die meisten ambu­lanten Behand­lungen liegen sowieso im Selbst­be­halt. Und wenn preka­ri­sierte Personen trotzdem eine Versi­che­rung abschliessen, dann mit einer so hohen Fran­chise, dass sie aus Angst vor einer Verschul­dung keine medi­zi­ni­sche Hilfe in Anspruch nehmen.

Dafür, dass trotzdem ein Minimum an medi­zi­ni­scher Versor­gung auch für Papier­lose gewähr­lei­stet ist, sorgen nieder­schwel­lige Anlauf­stellen, das städ­ti­sche Ambu­la­to­rium an der Kano­nen­gasse und ein Ärzte­netz­werk. Bei Notfällen und statio­nären Fällen sind die Stadt­spi­täler Triemli und Waid zuständig. Jedoch ist oft nicht klar, wer die Kosten nach einer Behand­lung über­nehmen muss. Gerade zivil­ge­sell­schaft­liche Orga­ni­sa­tionen, die für den Staat in die Bresche springen, bleiben auf den Kosten sitzen.

Ein Pilot­pro­jekt, über das der Zürcher Gemein­derat voraus­sicht­lich nächste Woche debat­tiert, soll das nun ändern. Mit dem auf drei Jahre ausge­legten Projekt, das auf eine dring­liche Motion der AL-Frak­tion zurück­geht, soll der Zugang für Menschen ohne Kran­ken­ver­si­che­rung zur Gesund­heits­ver­sor­gung verein­facht werden.

Konkrete Bedin­gungen noch nicht abschlies­send geklärt

Kern­stück des Zürcher Pilot­pro­jekts ist eine Leistungs­ver­ein­ba­rung mit der medi­zi­ni­schen Anlauf­stelle für Sans-Papiers Medit­rina. Zudem will die Stadt die unge­deckten Kosten im Umfang von 470 000 Franken von Behand­lungen bei der Medit­rina sowie bei den Stadt­spi­tä­lern über­nehmen. Der Projekt­kredit beläuft sich auf 4,5 Millionen Franken.

Das Pilot­pro­jekt verant­wortet das Gesund­heits- und Umwelt­de­par­te­ment von Stadtrat Andreas Hauri. Bei der Über­wei­sung der AL-Motion 2018 lehnte der Grün­li­be­rale das Projekt noch ab, mit Verweis auf die bereits bestehende „quali­tativ hoch­ste­hende medi­zi­ni­sche Versor­gung“ durch kari­ta­tive Ange­bote. Den Gemein­derat über­zeugte er damit nicht, die Mehr­heit wollte die Verant­wor­tung für die Gesund­heit von Personen ohne Kran­ken­ver­si­che­rung nicht länger an NGO abschieben. Hauris Partei möchte aber weiterhin am Status quo fest­halten: Zusammen mit der SVP lehnen die Grün­li­be­ralen das Projekt ab.

Jähr­lich bis zu 400 Patient:innen

Wie aber beur­teilen die Insti­tu­tionen selbst das Pilot­pro­jekt? Ein Besuch während dem laufenden Betrieb ist bei der Medit­rina nicht möglich, also gibt Leiterin Linda Stoll via E‑Mail Auskunft. Grund­sätz­lich unter­stütze man das Pilot­pro­jekt des Stadt­rates, wobei die konkreten Bedin­gungen noch nicht abschlies­send geklärt seien. „Mit dem vorge­se­henen Beitrag könnte der Betrieb im aktu­ellen Umfang finan­ziert werden.“ Zusammen mit einem Arzt behan­delt die Pfle­ge­fach­frau jähr­lich bis zu 400 Patient:innen in der Klinik an der Kronen­strasse, der grösste Teil ist unversichert.

Die Medit­rina besteht seit 2010 und wird vom Schwei­ze­ri­schen Roten Kreuz Kanton Zürich getragen. Die Papier­losen erfahren via Internet, über Mediator:innen an poten­zi­ellen Treff­punkten sowie über Mund-zu-Mund-Propa­ganda über das medi­zi­ni­sche Angebot. Aber: „Personen, die mehr­heit­lich in Privat­haus­halten isoliert leben, sind auch für uns schwie­riger zu erreichen.“

Eine Ziel­gruppe, die norma­ler­weise nicht zur Gruppe der Sans-Papiers gezählt wird, sind Sexarbeiter:innen. Im Pilot­pro­jekt des Stadt­rates sind sie aber explizit erwähnt. Das begrüsst Beatrice Bänninger von der Bera­tungs­stelle Isla Victoria. Selbst die Frauen, die im Melde­ver­fahren aus EU-Ländern in die Schweiz als Sexarbeiter:innen arbeiten kommen, seien oft nicht versi­chert. Sexarbeiter:innen seien im Gesund­heits­wesen zudem mit Vorur­teilen konfron­tiert. Etwa, wenn es um einen medi­zi­ni­schen Notfall geht. Zwar ist im Notfall die Versor­gung laut Bundes­ver­fas­sung auch ohne Kran­ken­kasse garan­tiert. Nur: Was dann genau als Notfall gilt, liege im Ermessen der Spitäler. Sexarbeiter:innen würden oft wegen ihrer Arbeit für ihre Krank­heit verant­wort­lich gemacht.

Bänninger kennt etwa den Fall einer unver­si­cherten Sexar­bei­terin, die mit einer Eilei­ter­schwan­ger­schaft in ein Spital im Kanton Zürich einge­lie­fert wurde. Das Spital stufte den Fall nicht als Notfall ein und wollte die Behand­lung nur auf Vorzah­lung durch­führen, was die Sexar­bei­terin nicht konnte. Zusammen mit der Isla Victoria konnte schliess­lich eine Behand­lung in einem Stadt­spital arran­giert werden. Die Kosten über­nahm nach langem Hin und Her das Stadtspital.

Chro­ni­sche Krankheiten

Welche gesund­heit­li­chen Folgen die Unter­ver­sor­gung von Menschen ohne Kran­ken­ver­si­che­rung hat, verdeut­li­chen Zahlen zum Gesund­heits­zu­stand von Sans-Papiers: Rund 71 Prozent weisen minde­stens eine chro­ni­sche Erkran­kung auf; jede:r fünfte gar drei oder mehr. Diese Zahlen stammen aus einer Studie aus Genf, jenem Kanton also, der schweiz­weit als vorbild­lich in der Gesund­heits­ver­sor­gung von Personen ohne Kran­ken­kassen gilt. Studien zur Stadt Zürich fehlen bisher.

Das könnte sich nun ändern, denn während der Pilot­phase sollen die städ­ti­schen Gesund­heits­dienste wich­tige Daten zur Gesund­heits­ver­sor­gung von Papier­losen erheben. Aufgrund dieser Erkennt­nisse will der Stadtrat das weitere Vorgehen bestimmen. Als eine mögliche Stoss­rich­tung sieht er etwa eine kollek­tive Kran­ken­ver­si­che­rung für Sans-Papiers.

Weniger symptom­ori­en­tiert wäre hingegen die Möglich­keit einer Regu­la­ri­sie­rung des Aufent­halts­status, damit Sans-Papiers ohne stän­dige Angst leben und arbeiten können. Doch die Kantons­re­gie­rung stellt sich bisweilen quer, zuletzt bei der unwür­digen Diskus­sion rund um die Züri-City-Card. Dabei wüsste es der Kanton eigent­lich besser. Ein eigens in Auftrag gege­bener Bericht hielt bereits letztes Jahr fest: Die Angst davor, medi­zi­ni­sche Hilfe in Anspruch zu nehmen, vergeht aus Sicht von Expert:innen erst, wenn Sans-Papiers nicht mehr in die Ille­ga­lität getrieben werden.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Flucht als Katastrophe

In Europa wird Migration oft als Katastrophe dargestellt, die das Leben der Europäer*innen betrifft, während das tatsächliche Leid der Geflüchteten nebensächlich bleibt. Rohullah Suroosh, geflüchteter Journalist aus Kabul, berichtet von den wahren Katastrophen der Flucht.

Europas Krise der Grausamkeit

Zwischen den Verantwortlichen der Migrationspolitik und den Menschen, die sie unmittelbar trifft, liegt eine tiefe Kluft. Johanna Lier schreibt über Entfremdung, unsichtbare Gewalt und fragt, welche sogenannte Katastrophe sich in Europa tatsächlich abspielt.