Eigentlich sollte im Schweizer Gesundheitssystem niemand durch die Maschen fallen. Krankenkassen sind verpflichtet, alle Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz, unabhängig vom Aufenthaltsstatus, zu versichern. Wer sich die Prämien nicht leisten kann, hat Anspruch auf Prämienverbilligungen.
Die Realität sieht anders aus: Laut Schätzungen der Stadt sind zwischen 11 000 bis 14 000 Menschen in Zürich nicht krankenversichert. Für sie ist nur die Behandlung in einem Notfall gesichert. Die Gründe für die fehlende Versicherung sind vielfältig. Aus Angst davor, von den Migrationsbehörden entdeckt zu werden, schliessen nur ein Bruchteil der Sans-Papiers eine Krankenversicherung ab. Die hohen Prämien können sich Betroffene nicht leisten und die meisten ambulanten Behandlungen liegen sowieso im Selbstbehalt. Und wenn prekarisierte Personen trotzdem eine Versicherung abschliessen, dann mit einer so hohen Franchise, dass sie aus Angst vor einer Verschuldung keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.
Dafür, dass trotzdem ein Minimum an medizinischer Versorgung auch für Papierlose gewährleistet ist, sorgen niederschwellige Anlaufstellen, das städtische Ambulatorium an der Kanonengasse und ein Ärztenetzwerk. Bei Notfällen und stationären Fällen sind die Stadtspitäler Triemli und Waid zuständig. Jedoch ist oft nicht klar, wer die Kosten nach einer Behandlung übernehmen muss. Gerade zivilgesellschaftliche Organisationen, die für den Staat in die Bresche springen, bleiben auf den Kosten sitzen.
Ein Pilotprojekt, über das der Zürcher Gemeinderat voraussichtlich nächste Woche debattiert, soll das nun ändern. Mit dem auf drei Jahre ausgelegten Projekt, das auf eine dringliche Motion der AL-Fraktion zurückgeht, soll der Zugang für Menschen ohne Krankenversicherung zur Gesundheitsversorgung vereinfacht werden.
Konkrete Bedingungen noch nicht abschliessend geklärt
Kernstück des Zürcher Pilotprojekts ist eine Leistungsvereinbarung mit der medizinischen Anlaufstelle für Sans-Papiers Meditrina. Zudem will die Stadt die ungedeckten Kosten im Umfang von 470 000 Franken von Behandlungen bei der Meditrina sowie bei den Stadtspitälern übernehmen. Der Projektkredit beläuft sich auf 4,5 Millionen Franken.
Das Pilotprojekt verantwortet das Gesundheits- und Umweltdepartement von Stadtrat Andreas Hauri. Bei der Überweisung der AL-Motion 2018 lehnte der Grünliberale das Projekt noch ab, mit Verweis auf die bereits bestehende „qualitativ hochstehende medizinische Versorgung“ durch karitative Angebote. Den Gemeinderat überzeugte er damit nicht, die Mehrheit wollte die Verantwortung für die Gesundheit von Personen ohne Krankenversicherung nicht länger an NGO abschieben. Hauris Partei möchte aber weiterhin am Status quo festhalten: Zusammen mit der SVP lehnen die Grünliberalen das Projekt ab.
Jährlich bis zu 400 Patient:innen
Wie aber beurteilen die Institutionen selbst das Pilotprojekt? Ein Besuch während dem laufenden Betrieb ist bei der Meditrina nicht möglich, also gibt Leiterin Linda Stoll via E‑Mail Auskunft. Grundsätzlich unterstütze man das Pilotprojekt des Stadtrates, wobei die konkreten Bedingungen noch nicht abschliessend geklärt seien. „Mit dem vorgesehenen Beitrag könnte der Betrieb im aktuellen Umfang finanziert werden.“ Zusammen mit einem Arzt behandelt die Pflegefachfrau jährlich bis zu 400 Patient:innen in der Klinik an der Kronenstrasse, der grösste Teil ist unversichert.
Die Meditrina besteht seit 2010 und wird vom Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Zürich getragen. Die Papierlosen erfahren via Internet, über Mediator:innen an potenziellen Treffpunkten sowie über Mund-zu-Mund-Propaganda über das medizinische Angebot. Aber: „Personen, die mehrheitlich in Privathaushalten isoliert leben, sind auch für uns schwieriger zu erreichen.“
Eine Zielgruppe, die normalerweise nicht zur Gruppe der Sans-Papiers gezählt wird, sind Sexarbeiter:innen. Im Pilotprojekt des Stadtrates sind sie aber explizit erwähnt. Das begrüsst Beatrice Bänninger von der Beratungsstelle Isla Victoria. Selbst die Frauen, die im Meldeverfahren aus EU-Ländern in die Schweiz als Sexarbeiter:innen arbeiten kommen, seien oft nicht versichert. Sexarbeiter:innen seien im Gesundheitswesen zudem mit Vorurteilen konfrontiert. Etwa, wenn es um einen medizinischen Notfall geht. Zwar ist im Notfall die Versorgung laut Bundesverfassung auch ohne Krankenkasse garantiert. Nur: Was dann genau als Notfall gilt, liege im Ermessen der Spitäler. Sexarbeiter:innen würden oft wegen ihrer Arbeit für ihre Krankheit verantwortlich gemacht.
Bänninger kennt etwa den Fall einer unversicherten Sexarbeiterin, die mit einer Eileiterschwangerschaft in ein Spital im Kanton Zürich eingeliefert wurde. Das Spital stufte den Fall nicht als Notfall ein und wollte die Behandlung nur auf Vorzahlung durchführen, was die Sexarbeiterin nicht konnte. Zusammen mit der Isla Victoria konnte schliesslich eine Behandlung in einem Stadtspital arrangiert werden. Die Kosten übernahm nach langem Hin und Her das Stadtspital.
Chronische Krankheiten
Welche gesundheitlichen Folgen die Unterversorgung von Menschen ohne Krankenversicherung hat, verdeutlichen Zahlen zum Gesundheitszustand von Sans-Papiers: Rund 71 Prozent weisen mindestens eine chronische Erkrankung auf; jede:r fünfte gar drei oder mehr. Diese Zahlen stammen aus einer Studie aus Genf, jenem Kanton also, der schweizweit als vorbildlich in der Gesundheitsversorgung von Personen ohne Krankenkassen gilt. Studien zur Stadt Zürich fehlen bisher.
Das könnte sich nun ändern, denn während der Pilotphase sollen die städtischen Gesundheitsdienste wichtige Daten zur Gesundheitsversorgung von Papierlosen erheben. Aufgrund dieser Erkenntnisse will der Stadtrat das weitere Vorgehen bestimmen. Als eine mögliche Stossrichtung sieht er etwa eine kollektive Krankenversicherung für Sans-Papiers.
Weniger symptomorientiert wäre hingegen die Möglichkeit einer Regularisierung des Aufenthaltsstatus, damit Sans-Papiers ohne ständige Angst leben und arbeiten können. Doch die Kantonsregierung stellt sich bisweilen quer, zuletzt bei der unwürdigen Diskussion rund um die Züri-City-Card. Dabei wüsste es der Kanton eigentlich besser. Ein eigens in Auftrag gegebener Bericht hielt bereits letztes Jahr fest: Die Angst davor, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, vergeht aus Sicht von Expert:innen erst, wenn Sans-Papiers nicht mehr in die Illegalität getrieben werden.
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