Science Fiction: Eman­zi­pa­to­ri­sche Zukunft statt Weltuntergang

Die meisten Science-Fiction-Geschichten sind dysto­pisch, prophe­zeien düstere Zukunfts­aus­sichten – und werden von Männern geschrieben. Doch das Genre kann auch dazu beitragen, drin­gend notwen­dige sozi­al­re­vo­lu­tio­näre Visionen zu entwerfen, wie femi­ni­sti­sche Autor*innen zeigen. 
Science-Fiction muss nicht immer den Weltuntergang zeigen, sondern kann eine emanzipatorische Zukunft skizzieren. (Bild: Kira Kynd/Midjourney)

In der Netflix-Serie Black Mirror hat die Prot­ago­ni­stin Lacie Pound eine Bewer­tung von 4,2 Sternen. Das Rating bezieht sich nicht auf ihren Airbnb-Account, sondern auf ihren Charakter. In der Serie tragen alle Menschen ein Implantat, mit dem sie ihrem Gegen­über eine Bewer­tung geben: Freund­li­ches Grüssen gibt Extra­punkte, den Park­platz wegschnappen, Abzug. Die Bewer­tung zwischen 1 und 5 entscheidet, welche Orte man besu­chen, welche Dinge man kaufen und welche Menschen man spre­chen kann.

Die Folge wirft Fragen zu unserem realen Alltag auf, der schon stark von der algo­rith­mi­schen Kontrolle geprägt ist. Als Black Mirror im Dezember 2011 erst­mals ausge­strahlt wurde, war ich besessen. Die Rating-Kultur, die Lacie Pound zum Verhängnis wird, ist nur eines von vielen Gedan­ken­ex­pe­ri­menten in der Serie. In einer Folge wirft sie etwa die Frage auf, welche ethi­schen Impli­ka­tionen das Klonen einer Person mit sich bringt. Oder das digi­tale Kopieren eines geliebten Menschen, wenn dieser stirbt. Black Mirror stellt aber nicht nur Fragen, sondern malt die Konse­quenzen der Szena­rien detail­liert aus.

Die oft dysto­pi­schen Endzeit­ge­schichten, in denen der Unter­gang der Mensch­heit gross und bild­ge­waltig insze­niert wird, kamen mir zu sehr wie Kata­stro­phen­pornos vor.

Das eman­zi­pa­to­ri­sche Poten­tial von Sci-Fi

Genau darin liegt die Kraft guter Geschichten: Sie bieten nicht nur eine kurze Flucht aus der Realität – sie setzen ihre Grenzen neu. Science-Fiction beson­ders, denn das Genre verführt dazu, die Auswir­kungen des Heute auf das Morgen zu reflek­tieren. Welche Zukunft wollen wir schaffen – und welche verhin­dern? 

Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buch­deckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzy­klo­pä­dien im unter­sten Regal­fach kann Wissen in ganz unter­schied­li­chen Formen kommen. 

Doch was zählt über­haupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzy­klo­pädie widmet sich Ann Mbuti den Wissens­formen unserer Zeit. Mit kriti­schem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere indi­vi­du­ellen Perspek­tiven und Erfah­rungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesam­melt und inter­pre­tiert wird.

Ann Mbuti ist unab­hän­gige Autorin mit Schwer­punkt auf zeit­ge­nös­si­scher Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzen­triert sich auf künst­le­ri­sche Projekte, die das Poten­zial für soziale, poli­ti­sche oder ökolo­gi­sche Verän­de­rungen haben. Derzeit beschäf­tigt sie sich mit Mytho­lo­gien, münd­li­cher Geschichte, Science Fiction und der Verschmel­zung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Profes­sorin für Prozess­ge­stal­tung am Hyper­Werk der Hoch­schule für Gestal­tung und Kunst in Basel.

Ich liebe es, so über unsere kollek­tive nahe Zukunft nach­zu­denken – und trotzdem habe ich Sci-Fi-Serien, ‑Bücher und ‑Filme lange gemieden. Die oft dysto­pi­schen Endzeit­ge­schichten, in denen der Unter­gang der Mensch­heit gross und bild­ge­waltig insze­niert wird, kamen mir zu sehr wie Kata­stro­phen­pornos vor. Zu oft habe ich schon im Trailer die Skyline von New York in einer Wand aus Eis, einer riesigen Welle oder einer Feuers­brunst verschwinden sehen. Zu oft ging es dabei um die Perspek­tive des Helden – meistens männ­lich –, der sich in einer zerfal­lenden Welt behauptet, die nur er retten kann. Nicht nur redun­dant, sondern in der Eindi­men­sio­na­lität auch lang­weilig. Das hat mit der Geschichte des Genres zu tun.

Moderne Science-Fiction begann schon im 19. Jahr­hun­dert, beispiels­weise durch Werke wie Mary Shel­leys Fran­ken­stein (1818). Darin thema­ti­sierte die Autorin die Gefahren unge­brem­sten wissen­schaft­li­chen Fort­schritts. Das Buch gilt als eines der ersten Science-Fiction-Werke. Im 20. Jahr­hun­dert erlebte das Genre mit Autoren wie H.G. Wells (The War of the Worlds (1898)) und Jules Verne (20.000 Meilen unter dem Meer (1870)) einen Boom. Mit dem rasanten tech­ni­schen Fort­schritt kamen Speku­la­tionen über Zeit­reisen, das Weltall und unbe­kannte Dimen­sionen auf. Doch auch akute gesell­schaft­liche Ängste vor den Gefahren des Krieges, der Atom­energie und sozialer Isola­tion prägten bekannte Sci-Fi-Werke.

Octavia Butler beschreibt das Ende einer Zivi­li­sa­tion nicht als das endgül­tige Ende der Mensch­heit, sondern als eine Gele­gen­heit zur Veränderung.

Das erste Magazin, das sich ausschliess­lich der Science-Fiction widmete und damit das Genre nach­haltig prägte, war Amazing Stories. 1926 von Hugo Gerns­back gegründet, bot es eine Platt­form für visio­näre Autor*innen und festigte das Prinzip der „Scien­ti­fic­tion“, das bewusst mit der Über­schnei­dung von Wissen­schaft und Fiktion arbei­tete. Später domi­nierten im US-ameri­ka­ni­sche Sci-Fi aller­dings männ­liche Helden und Weltrettungsgeschichten.

Eman­zi­pa­to­ri­sche Zukunfts­vi­sionen statt Weltuntergang

Femi­ni­sti­sche Kriti­ke­rinnen wie Donna Haraway und Judith Butler beschreiben dieses eintö­nige Verständnis von Unter­gang und Wieder­aufbau als syste­ma­ti­sche Ausblen­dung einer anderen Zukunft. Eine, die von komple­xeren Erzäh­lungen um Geschlechter, Herkunft und unter­schied­li­chen sozialen Perspek­tiven geprägt ist. In den letzten Jahr­zehnten haben viel­fäl­ti­gere Perspek­tiven und Erzähl­formen glück­li­cher­weise mehr Raum bekommen.

Erst als ich auf die Werke von Autorinnen wie Octavia Butler, Ursula K. Le Guin, N.K. Jemisin und Nnedi Okorafor aufmerksam wurde, wuchs mein Inter­esse an Sci-Fi. In ihren alter­na­tiven Narra­tiven spielen nicht nur die männ­li­chen Helden eine Rolle. Anstelle von wissen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Über­le­gungen stehen die sozialen und kultu­rellen Folgen davon im Mittel­punkt – genau wie bei Black Mirror. Frauen*, Vertreter*innen nicht-west­li­cher Kulturen und margi­na­li­sierte Stimmen kommen bei ihnen nicht nur als passiv Betrof­fene, sondern als aktive Akteur*innen der Zukunfts­ge­stal­tung vor.

Vor allem das Werk von Octavia Butler, der Science-Fiction-Autorin, die ihre femi­ni­sti­sche, afro­ame­ri­ka­ni­sche Perspek­tive in ihrem Werk verar­beitet, behan­delt den Zerfall der etablierten Ordnung. Sie beschreibt das Ende einer Zivi­li­sa­tion nicht als das endgül­tige Ende der Mensch­heit, sondern als eine Gele­gen­heit zur Veränderung.

Wenn wir es schaffen, verschie­dene Sci-Fi-Denker*innen in diese Über­le­gungen einzu­be­ziehen, wird aus dem lite­ra­ri­schen Genre ein philo­so­phi­sches Werk­zeug, das uns erlaubt, neue erzäh­le­ri­sche Perspek­tiven auf die Realität zu entwerfen.

Fiktive Geschichten können eine Blau­pause für die Realität sein. Das zeigt Butlers Roman Parable of the Talents von 1998, der kürz­lich unrühm­liche Bekannt­heit erlangte. Sie beschreibt darin eine dysto­pi­sche Zukunft der USA, in der die Gesell­schafts­ord­nung zusam­men­ge­bro­chen ist und eine christ­lich-natio­na­li­sti­sche Bewe­gung und ihr extre­mi­sti­scher Präsi­denten regieren. Ihr Slogan: „Make America Great Again“ – lange bevor Donald Trump diesen in seiner Präsi­dent­schafts­kam­pagne populär machte. In Butlers Roman steht dieser Slogan für eine reak­tio­näre Ideo­logie, die sich nach einer vermeint­lich besseren Vergan­gen­heit sehnt, dabei aber Unter­drückung, reli­giösen Fana­tismus, Verskla­vung und Gewalt fördert. Gruselig, oder?

Doch die Dystopie steht im Buch nicht für ein drama­ti­sches Ende mit krassen Unter­gangs­szenen, sondern für die Notwen­dig­keit einer neuen Form der Existenz. Statt einer Held*innengeschichte ist es eine Erzäh­lung von Trans­for­ma­tion, die nicht durch eine*n messianische*n Erlöser*in, dafür aber durch kollek­tive Anpas­sung und oft schmerz­hafte Verän­de­rungen geschieht. Eine Geschichte, aus der wir lernen können, selbst wenn sie (bisher) nur fiktiv ist.

Sci-Fi als Denkschule

Speku­la­tionen wie die von Octavia Butler sind nicht nur dann kraft­voll, wenn sie unseren Lebens­rea­li­täten gefähr­lich nah kommen. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Science-Fiction mit ihren speku­la­tiven Szena­rien komplexe soziale, poli­ti­sche und ethi­sche Fragen der Gegen­wart aufgreift. Es ist diese Verbin­dung von Wissen­schaft, Speku­la­tion und Gesell­schaft, dieser sweet spot, der Science-Fiction so hoch­ak­tuell macht.

Ursula K. Le Guin brachte es in einer Rede auf den Punkt: „Es kommen schwere Zeiten auf uns zu, in denen wir die Stimmen von Schriftsteller*innen brau­chen werden, die Alter­na­tiven zu unserer jetzigen Lebens­weise sehen und durch unsere von Angst geprägte Gesell­schaft und ihre zwang­haften Tech­no­lo­gien hindurch andere Wege des Seins erkennen und sich sogar echte Anlässe zur Hoff­nung vorstellen können. Wir werden Schriftsteller*innen brau­chen, die sich an Frei­heit erin­nern können – Dichter*innen, Visionär*innen, die Realist*innen einer grös­seren Realität.“

Sci-Fi eignet sich hervor­ra­gend als Spiegel für die Ängste und Hoff­nungen einer Gesell­schaft ange­sichts ihrer Zukunft. Und wenn wir es schaffen, verschie­dene Sci-Fi-Denker*innen in diese Über­le­gungen einzu­be­ziehen, wird aus dem lite­ra­ri­schen Genre eine hoch­ak­tu­elle Art des Denkens und ein philo­so­phi­sches Werk­zeug, das uns erlaubt, neue erzäh­le­ri­sche Perspek­tiven auf die Realität und ihre Entwick­lung zu entwerfen.


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