Weltweit sassen lediglich 5% aller Menschen jemals in einem Flugzeug. Die Folgen davon spüren aber 100% aller Menschen: Inseln versinken im Meer, Permafrosthänge tauen auf und rutschen ins Tal, Wüsten breiten sich aus und verschlingen fruchtbares Ackerland. Eigentlich dürfte mensch maximal 1–2 Tonne(n) CO2 (Quelle: myclimate) pro Jahr in die Luft pusten. Ein Flug nach Neuseeland verursacht aber bereits vier Tonnen CO2 – one-way.
Auch den unbegnadetsten RechnerInnen muss klar sein, dass das nicht aufgeht. Fliegen liegt im heute gängigen Ausmass einfach nicht drin! Umso empörender ist es, dass die Klimaforschenden selber mit dem Flugzeug von Konferenz zu Konferenz jetten (das Lamm berichtete).
Der Wüste, dem Permafrost und den Inseln ist es egal, wer die CO2-Emissionen verantwortet, die ihr Schicksal besiegeln werden. Die Öffentlichkeit macht hier hingegen offensichtlich eine Unterscheidung: Die Empörung über fliegende Klimaforschende ist viel grösser als die Empörung über diejenigen, die für ein Shopping-Weekend nach New York fliegen.
Wieso das so ist und was das für den Kampf gegen den Klimawandel bedeutet, haben wir die Umweltpsychologin Vivian Frick gefragt.
Das Lamm: Wenn Klimaforschende fliegen, finden wir das weitaus empörender, als wenn Leute allein für ihr persönliches Vergnügen Flugmeilen zurücklegen. Wieso ist das so?
Vivian Frick: Während sich die FreizeitfliegerInnen nicht dazu bekennen, die Umwelt schützen zu wollen, ist dies den KlimaforscherInnen ein erklärtes Anliegen. Unser Gerechtigkeitssinn verlangt von anderen Menschen, dass sie sich gemäss ihren eigenen Werten verhalten – sonst werfen wir ihnen Heuchelei vor. Zudem können Klimaforschende, die zu weniger fliegen ermahnen, gleichzeitig aber selbst zu Konferenzen fliegen, Reaktanz auslösen. Authentizität und Glaubwürdigkeit sind daher gerade in einem moralisch so aufgeladenen Spannungsfeld extrem wichtig.
Was heisst Reaktanz?
Damit ist der Widerstand gegen Druck von aussen gemeint. Wenn mir jemand erzählen möchte, wie ich gewisse Dinge zu tun habe, kann das bei mir Reaktanz auslösen. Etwa dann, wenn die Person mir Druck macht, ich mich manipuliert oder erpresst fühle oder ich der Person kein Recht zuspreche, mir Vorschriften zu machen.
Von fliegenden KlimaforscherInnen wollen wir uns also nichts sagen lassen. Muss man selber ‚perfekt‘ sein, um andere kritisieren zu dürfen?
Ob man perfekt sein muss, um andere kritisieren zu dürfen, ist primär eine philosophische Frage. Natürlich kann jeder Mensch jedem Menschen sagen, was sie oder er möchte. Die Frage ist eher, ob es aus ökologischer Sicht etwas bringt, Menschen auf ihr Umwelt-‚Fehlverhalten‘ aufmerksam zu machen. Die psychologische Forschung deutet eher darauf hin, dass reine Informationsvermittlung und Ratschläge noch nicht zu Verhaltensveränderung führen.
Kurz gesagt: Von Leuten, die einen auf ökologisches Fehlverhalten aufmerksam machen, wollen wir uns nichts sagen lassen.
Genau. Dazu gab es auch eine interessante Studie, die untersuchte, wie Omnivore – also Menschen, die sich nicht vegetarisch ernähren – VegetarierInnen beurteilen. Das Fazit war: Menschen, die sich vegetarisch ernähren, wurden von Omnivoren negativer wahrgenommen: moralisierend, arrogant, beurteilend und selbstgerecht. Omnivore erwarten gemäss Studie, dass vegetarische Menschen sich selbst für moralisch integrer halten und ihnen Vorwürfe für ihren Fleischkonsum machen würden. Diese Vorwürfe müssen dafür gar nicht tatsächlich geäussert werden, sie werden von den Omnivoren antizipiert. Die Forschenden tauften dieses Phänomen „Do-Gooder Derogation“, also in etwa „Gutmenschen-Herabsetzung“. Wenn eine Minderheit ihre moralische Haltung in der Öffentlichkeit sichtbar macht, kann sie dafür schnell in Ungnade fallen.
Das Blöde daran ist, dass die Omnivoren so natürlich nicht davon überzeugt werden, selbst vegetarisch zu werden. Stattdessen können ungewollte Grabenkämpfe entstehen. Das lässt sich so vermutlich eins zu eins aufs Fliegen übertragen.
Wie kann man denn Kritik so äussern, dass keine solchen Grabenkämpfe entstehen?
Die Frage ist, was wir mit Kritik überhaupt erreichen können. Vielleicht sollten wir generell weniger auf ‚Kritik‘ setzen. Mit dem Finger zu zeigen, bringt niemandem etwas – ebenso wenig wie die Verantwortlichkeiten zwischen BürgerInnen, Politik und Unternehmen hin und her zu schieben. Was wir brauchen, ist mehr Kooperation beim Suchen und Testen von Lösungen.
Hast du hierfür ein Beispiel?
Mir gefällt der pragmatische Ansatz der 2000-Watt-Gesellschaft. Er wurde an der ETH Zürich entwickelt und wird heute unter anderem in der Stadt Zürich angewandt. Dieser Ansatz veranschlagt eine Tonne CO2 pro Kopf und Jahr. Wenn es dir gelingt, mit diesem Emissionsbudget durch die Welt zu jetten: bitte sehr! Bei dem krassen CO2-Ausstoss von Flugzeugen könnte das allerdings eine ziemliche Herausforderung werden. Selbst, wenn du dein Auto verkaufst, ins Tiny House ziehst und dich strikt regional-saisonal-vegan ernährst.
Dass es den Menschen in unseren Breitengraden so schwerfällt, aufs Fliegen zu verzichten, zeigt aber auch: Die Entscheidung, zu fliegen, ist kein rein individuelles Thema. Wir alle leben in sozialen und infrastrukturellen Kontexten, die uns das Fliegen als wünschenswert oder teilweise notwendig erscheinen lassen.
Was meinst du damit genau?
Umweltpsychologische Forschung zeigt immer wieder, dass eine umweltbewusste Einstellung allein den Lebensstil selten nachhaltiger macht. Umweltbewusste Menschen fliegen sogar am häufigsten. In unserer auf Konsum und Wirtschaftswachstum ausgelegten Gesellschaftsstruktur ist das ‚absolut nachhaltige Leben‘ fast ein Ding der Unmöglichkeit. So haben wir es etwa beim Fliegen mit einer extrem ungünstigen Anreizstruktur zu tun: Fliegen ist viel zu billig. Multinationale Unternehmen und Kerosin werden nicht angemessen besteuert und die Förderung fossiler Brennstoffe wird immer noch massiv subventioniert. Würde sich das ändern und vermehrt in umweltfreundlichere Verkehrsinfrastrukturen investiert, würden umweltbewusste Menschen vielleicht eher auf das Fliegen verzichten. Es geht also auch darum, einen gesellschaftlichen Wandel zu fördern. Und das geht weit über die individuelle Wahl des richtigen Transportmittels hinaus.
Im Gegensatz zu einem Shopping-Weekend sind die Klimakonferenzen wichtig für den Klimaschutz. Die Klimaforschenden fliegen also immerhin aus einem guten Grund. Wenn überhaupt noch jemand fliegen soll, dann sie. Kannst du dieser These zustimmen?
Ich sehe mich nicht in der Position, über die Legitimation von Flugreisen bestimmen zu können. Aber ja, ich denke, dass die Bekämpfung des Klimawandels neben vielen anderen gesellschaftlichen Zielen ein guter Grund ist, sich international zu verständigen. Die Wahrung von Frieden, die Bekämpfung von Ungleichheit und die Entwicklungszusammenarbeit würde ich neben verschiedenen Umweltproblematiken ebenfalls als ‚legitime‘ Gründe bezeichnen. Das gilt natürlich auch für gesellschaftliche oder politische Akteure, welche diese Ziele verfolgen.
Die eigentlich spannende Frage ist also, ob der Zweck die Mittel heiligt. Und diese Frage kann nicht abschliessend beantwortet werden. Die Lösung liegt wohl wie so oft irgendwo dazwischen. Aus eigener Erfahrung in der Forschung kann ich etwa sagen, dass der Besuch einiger wissenschaftlicher Konferenzen auf den zweiten Blick nicht notwendig gewesen wäre – auch wenn es dort um Nachhaltigkeitsforschung ging. Und dank der vielgepriesenen Digitalisierung sollten wir auch fähig sein, vermehrt Treffen übers Netz abzuhalten. Aber sollte der nächste Klimagipfel ein grösserer Erfolg sein als die vorherigen, so würde ich den ganzen PolitikerInnen und Klimaforschenden natürlich sofort persönlich die Flugtickets ins polnische Katowice buchen, wo der nächste Klimagipfel stattfindet!
Fliegst du selber?
Ich bin seit 2012 trocken.
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