An einem sonnigen Tag im Juni 2024 tritt Hassan Chabbi, der eigentlich anders heisst, aus einem Raum am Bahnhof Chiasso. In der Hand hält er einen Zettel. Darauf steht: „You must leave Switzerland” – Sie müssen die Schweiz verlassen. Auf einem weiteren Zettel sind seine Daten festgehalten. Alter: 18. Nationalität: Tunesien. Sprache: Englisch.
Vor zehn Jahren begann in Europa der sogenannte Sommer der Migration, im Zuge dessen Tausende Menschen, viele von ihnen aus Syrien, nach Europa flohen. Viele nahmen den Weg über das Mittelmeer, quer durch Italien und die Schweiz bis nach Deutschland oder noch weiter in den Norden.
Doch im Frühjahr 2016 blockierte die Schweiz unter der Ägide des damals obersten Grenzschützers Ueli Maurer ihre Grenze zu Italien und unterbrach so eine der wichtigsten Fluchtrouten. Tausende strandeten im italienischen Grenzort Como, weil sie die Schweiz nicht betreten durften. Es entstanden Zeltstädte inmitten des Luxus-Ferienparadieses am Comersee.
Das Örtchen Chiasso auf der Schweizer Seite der Grenze wurde in den Jahren danach zum Symbol der Schweizer Migrationspolitik. Bis heute ist es der Ort, an den Bundesrät*innen reisen, wenn sie eine Verschärfung verkünden wollen. Zuletzt kam Beat Jans im Februar 2024 nach Chiasso, um neue Massnahmen anzukündigen, die Menschen aus nordafrikanischen Ländern davon abhalten sollten, in der Schweiz Asyl zu beantragen.
Denn der Ruf nach einer Eindämmung der Migration ist heute wieder lauter, und er kommt längst nicht mehr nur von der politischen Rechten.
Doch seit jenem Frühjahr vor neun Jahren bildet sich inmitten der erzkatholischen Täler rundum die schweizerisch-italienische Grenze auch ein Netzwerk aus Aktivist*innen und solidarischen Strukturen. Sie setzen sich bis heute für die Rechte und die Würde von Menschen ein, die auf ihrer Suche nach einem besseren Leben in Sicherheit und Freiheit dort landen.
Es war wie Krieg
Auf der italienischen Seite der Grenze, acht Kilometer weiter südlich von Chiasso, liegt ein Innenhof mit Blick auf einen Garten und einen Hühnerstall. Das Gebäude gehört zur Dorfkirche in Rebbio, einem Stadtteil von Como.
Dort sitzt an manchen Tagen der Dorfpfarrer Don Giusto Della Valle in der Sonne, in ausgelatschten Sandalen und verwaschenem Karohemd. Als im Sommer 2016 Tausende Geflüchtete in der Touristendestination am Comersee strandeten, wurde Della Valle für viele von ihnen zur ersten Anlaufstelle.

Er erinnere sich gut an diesen Sommer: „Die Schweizer Behörden überwachten die Grenze mit Drohnen, überall standen Polizist*innen. Es war, als wären wir im Krieg.” Della Valle vernetzte sich damals mit Aktivist*innen in der Schweiz, um Essen, Schlafplätze und Kleidung zu organisieren. Es entstand ein improvisiertes Camp im Park. Dieses wurde nach kurzer Zeit jedoch geräumt, die Menschen in Unterkünften des Roten Kreuzes zusammengepfercht.
Einige kamen stattdessen bei Della Valle unter. Das Gebäude der Pfarrei in Rebbio war schon seit 2011 eine Unterkunft für Menschen auf der Flucht. Doch wegen der geschlossenen Grenze war es im Sommer 2016 plötzlich doppelt so voll als zuvor. „Manche versuchten zehn Mal, die Grenze zur Schweiz zu überwinden und kamen immer wieder hierher zurück, weil sie abgefangen wurden”, erzählt Della Valle.
Rechtsextreme Parteien greifen Della Valle immer wieder direkt an.
Noch immer landen Menschen bei ihm, die nachts von der Schweizer Grenzwache aufgegriffen und nach Italien zurückgebracht wurden – aber das passiere nur noch selten. Viele der jetzigen Bewohner*innen haben es gar nicht erst versucht, die Grenze zur Schweiz zu überwinden, sondern gleich ein Asyl- oder Niederlassungsgesuch in Italien gestellt. Sie wollen hierbleiben.
Etwa die drei Jugendlichen, die auf weissen Plastikstühlen im Hof sitzen. Sie kommen aus Tunesien und Marokko, reisten während Monaten durch unzählige Länder und über das Mittelmeer nach Italien. Seit drei Monaten sind sie hier in Rebbio.
Provokation eines Pfarrers
Dass viele gar nicht mehr versuchen, die Grenze bei Chiasso zu überqueren, ist ganz im Interesse der Schweiz. Sie setzt alles daran, Geflüchtete abzuschrecken, hält am Dublin-Abkommen fest wie kaum ein anderer europäischer Staat und schickt Flüchtende nach wie vor in das EU-Land zurück, in das sie als erstes einen Fuss setzten. Zudem gibt die Schweiz Geld aus, um Flüchtende fernzuhalten. 2024 etwa sprach das SEM 20 Millionen Franken für die Unterbringung von minderjährigen Geflüchteten in Italien.
In Como selbst gibt es kaum noch Unterkünfte für Asylsuchende. Die meisten seien nach 2016 von den Behörden geschlossen worden und stünden heute leer, sagt Della Valle. „Weil die Regierung der Bevölkerung Sicherheit versprochen hat und sich mit der Aufnahme von Geflüchteten und Armen keine Stimmen gewinnen lassen.”

Im Herbst 2023 schrieb Della Valle in einem provokativen Leitartikel für ein Priestermagazin, er würde Obdachlosen dabei helfen, die leerstehenden Häuser zu besetzen: Er werde ihnen „die Liste der leerstehenden Gemeindewohnungen aushändigen”, beim „Einzug behilflich sein” und den Papst um Almosen bitten, falls der Strom ausfallen sollte.
Vor allem rechtsextreme Parteien greifen Della Valle wegen seines kampflustigen Auftretens und seiner Arbeit immer wieder direkt an. Auch der parteilose Bürgermeister von Como warf ihm unlängst vor, die kirchliche Gemeinde käme nicht mehr zur Messe, weil sich Della Valle nur noch um die Geflüchteten kümmere. „Die Leute tun so, also wäre das hier keine Grenzstadt, als hätten wir nichts mit Migration zu tun”, sagt Della Valle. Dabei hätte gerade Como eine Verantwortung, Menschen auf ihrer gefährlichen Reise einen sicheren Ort zu bieten.
Beat Jans widerspricht SEM
Zurück im schweizerischen Chiasso verschränken zwei Schweizer Grenzwächter die Arme, als ein Zug auf Gleis 4 im Bahnhof einfährt. Sie steigen ein, schreiten den ganzen Zug ab. Wer jung, männlich und nicht weiss ist, dieser Eindruck drängt sich beim Beobachten auf, muss Ausweis und Einreiseerlaubnis vorweisen.
Wer das nicht kann, muss den Grenzwächtern in einen Raum im Bahnhofsgebäude folgen. Dort werden persönliche Daten inklusive Fingerabdrücke aufgenommen und die Grenzbeamten führen eine kurze Befragung durch. Dieses Prozedere – Züge durchsuchen, Menschen ohne Einreisebewilligung abfertigen – wiederholen die Beamten alle halbe Stunde. Aus dem Raum treten dann nach und nach Menschen mit einem Zettel in der Hand, der sie dazu anhält, die Schweiz zu verlassen. Einer von ihnen ist Hassan Chabbi. Er steht nun verloren auf dem Bahnsteig und wägt ab, wohin er als nächstes gehen kann.
„Nach meiner Einschätzung sind Pushbacks keine Einzelfälle.”
Rechtsanwältin Lea Hungerbühler
Wer im Raum am Bahnhof zum Ausdruck bringt, ein Asylgesuch stellen zu wollen, muss gemäss geltendem Recht zu einem eingezäunten Gebäude zwischen dem Polizeirevier und den Gleisen geführt werden. Hier dienen aufeinandergestapelte Container als eines von zwei Bundesasylzentren des Kantons Tessin.
Doch Berichte legen nahe, dass die Grenzbeamten das nicht immer einhalten. Die NGO Asylex dokumentierte in den Jahren 2020 und 2021 zwei Fälle, in denen Menschen explizit zum Ausdruck brachten, dass sie Asyl beantragen wollen. Trotzdem wurden sie inhaftiert und dann von der Grenzwache zurück nach Italien gebracht. Die Rechtsanwältin Lea Hungerbühler und Präsidentin von Asylex ist der Meinung, dass es sich dabei um illegale Pushbacks handelte und hat in einem der Fälle eine Strafanzeige gegen die Grenzwächter eingereicht. Das Verfahren ist noch hängig. Hungerbühler geht davon aus, dass solche Pushbacks keine Einzelfälle sind.

Das SEM bezeichnete dieses Vorgehen damals auf Anfrage von Asylex als rechtskonform: Italien habe zahlreiche Abkommen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet und die Abweisung an der Grenze würde daher keine Verletzung des Non-Refoulement Gebots darstellen. Zu einem anderen Schluss kam vor Kurzem Beat Jans beim selben Vorgehen der deutschen Behörden. Er kritisierte diese dafür, dass sie Asylsuchende an der Grenze abweisen und zurück in die Schweiz schicken. Dieses Vorgehen sei, so der Justizminister, völkerrechtswidrig.
In den Bundesasylzentren im Tessin prüfen die Behörden auch, ob die Schweiz für ein Gesuch zuständig ist oder die Person gemäss Dublin-Abkommen zurück nach Italien überstellt werden kann. Doch in Italien nimmt man sie sowieso nicht auf, das Land hat das Dublin-Abkommen längst ausgesetzt. Daher sitzen aktuell rund 1500 Geflüchtete in der Schweiz fest. Sie befinden sich im Limbo, können weder vor noch zurück. Ein Jahr lang müssen sie in diesem Zustand ausharren, bevor die Schweiz formal für ihr Asylgesuch zuständig wird. Diese Frist wurde vor Kurzem erst verdoppelt.
Gegen die Isolation
Im April 2025 steht Willy Lubrini auf dem Friedhof von Balerna, einem Nachbardorf von Chiasso. Um ihn herum stehen Menschen, die sich an diesem regnerischen Tag versammelt hatten, um zu trauern. Ein Foto von der Feier zeigt Lubrini, wie er ein Blatt Papier in die Höhe hält, darauf stehen vier Buchstaben: Aziz. So nannte sich der Jugendliche, der im Bundesasylzentrum Pasture bei Balerna lebte. Zwei andere Geflüchtete fanden seinen toten Körper in einem Fluss hinter dem Zentrum.
„Er lag abseits aller Fussgängerwege und Strassen”, sagt Lubrini einige Wochen später, als er im Hinterraum eines Cafés sitzt, gemeinsam mit Mauro Stanga. Beide sind in dieser Region grossgeworden. Im Herbst 2023 haben die weisshaarigen Männer den Verein „Mendrisiotto Regione Aperta” gegründet.
Im Sommer desselben Jahres schrieben Zeitungen in der ganzen Schweiz über das angebliche „Asylchaos” im „Pulverfass” Chiasso, dem „Lampedusa der Schweiz”. Die Bevölkerung sei verängstigt und fürchte sich vor zunehmender Kriminalität. „Wir leben seit Jahrzehnten hier und wir wussten daher, dass das nicht stimmt”, sagt Stanga. Er und Lubrini wollten sich gegen diese falsche Darstellung wehren. Zunächst machten sie eine Umfrage in den Strassen von Chiasso. Das Resultat: Die meisten Menschen sehen die Asylzentren nicht als Problem für die Sicherheit. Viel eher haben die Medien mit ihren Berichten über die Forderungen der rechtspopulistischen Lega dei Ticinesi oder der SVP die Stimmung erst aufgeheizt.
Die Geflüchteten dürfen in einer Sendung für das lokale freie Radio nur Musik senden und nicht über ihre Fluchterfahrung sprechen. Das war die Bedingung des SEM.
„Die Geflüchteten können sich gegen die Angriffe der Rechten nicht wehren. Sie erfahren nicht einmal davon, weil sie vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten sind”, sagt Stanga. „Das wollten wir ändern.” Also organisierten sie gemeinsame Wanderungen, Kochnachmittage und Kinoabende mit den Bewohner*innen der Asylzentren.
Denn die Isolation in den Zentren ist gewollt, sind sich beide sicher: „Es ist kein Zufall, dass Aziz von zwei anderen Bewohnern des Camps gefunden wurde”, sagt Lubrini. „Niemand sonst läuft je an diesem Ort vorbei.” Das im Frühjahr 2024 neu eröffnete Bundesasylzentrum Pasture ist ein langer grauer Betonbau und steht zwischen einer Autobahn, Industriehallen und Feldern. Hier lebte auch Aziz. „Die Leute aus dem Camp fragten mich: Wo wohnt ihr denn alle? Wir sehen nirgends Wohnhäuser”, so Stanga.
Die absichtliche Trennung der Geflüchteten vom Rest der Gesellschaft will der Verein um Lubrini und Stanga aufbrechen. Die Gruppe erstritt etwa, dass die Geflüchteten um 21 Uhr anstatt schon um 18 Uhr abends zurück im Zentrum sein müssen, dass Jugendliche eine lokale Schule besuchen können und selbstgemachtes Essen von draussen ins Zentrum mitgenommen werden kann. „Es sind nur kleine Verbesserungen – aber immerhin”, seufzt Lubrini.
Partisanenlieder verboten
Selbst die Migrationsbehörden seien in manchen Fällen froh, dass jemand diese Änderungen anstösst. „Manche unserer Forderungen wollen sie sowieso umsetzen, aber sie trauen sich nicht, das zu sagen. Weil sie Angst haben, dass es politisch auf sie zurückfällt.”
Das Thema Migration ist im Tessin ein heisses Eisen, niemand will damit in Verbindung gebracht werden. „Wer etwas sagt, wird in der nächsten Ausgabe der Mattino della domenica, der Zeitung der rechten Lega dei Ticinesi, angefeindet”, so Stanga.
Selbst Harmloses kann zur politischen Angriffsfläche werden. Ein Beispiel: Ein junger Mann sang im Bundesasylzentrum das antifaschistische Partisanenlied „Bella Ciao”, das er bei einer Wanderung mit dem Verein gelernt hatte. Ein Security-Mitarbeiter im BAZ wies ihn an, das zu unterlassen. Ein weiteres Beispiel: Jede Woche produzieren Geflüchtete eine Sendung für das lokale freie Radio. Aber sie dürfen dort nur Musik senden und nicht über ihre Fluchterfahrung sprechen. Das war die Bedingung des SEM.

Und selbst das Gedenken an den Tod eines Jugendlichen schien den Behörden zu politisch. Als Lubrini die beiden Gemeinden, die im Tessin Asylzentren betreiben, anfragte, ob sie eine Gedenkveranstaltung für Aziz machen würden, winkten sie ab. Der Junge sei in der Verantwortung des SEM gewesen, nicht in ihrer. Also organisierte Mendrisiotto Regione Aperta die Gedenkfeier.
Bis heute ist die genaue Todesursache von Aziz ungeklärt. Das SEM lässt lediglich verlauten: „Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes äussert sich das SEM nicht zu Einzelfällen”. Klar sei, dass es keine „Fremdeinwirkung” gegeben habe.
Für Lubrini und Stanga zeigt der Tod deutlich, wie gefährlich es ist, dass jungen Geflüchteten im Bundesasylzentrum kein besonderer Schutz geboten wird. Und wie sehr das Lagersystem die Menschen in die Verzweiflung treibt.
Die Zeit gibt ihnen recht, denn wenige Wochen später stirbt ein weiterer junger Asylsuchender in Balerna. Auch zu ihm geben die Behörden keine Informationen bekannt.
Würdevollere Unterbringung
Im Örtchen Vezia, 26 Kilometer nördlich von Chiasso entfernt, steht ein hellgelber Bau, davor Palmen und ein Schild mit einem verblassten roten Schriftzug: Hotel Vezia. Die Kantine drinnen sieht aus wie ein amerikanisches Diner aus den 60ern: Eine runde Theke, knallrote Stühle, Fliesen auf dem Boden und eine grosse Fensterfront.
Im Februar 2023 kamen hier rund 140 Geflüchtete unter, viele davon Kurd*innen aus der Türkei, Syrien und dem Irak. Der Besitzer Markus Wilke stellte das Haus dem Roten Kreuz und der Gemeinde zur Verfügung und wandelte es in ein „Solidaritätshotel” um, wie er selbst sagt.

Die Kinder gingen in dieser Zeit in der Region zur Schule und fanden neue Freund*innen, berichtet Wilke im Gespräch. Vier der Bewohner*innen wurden bei einem lokalen Catering eingestellt, das täglich das umgenutzte Hotel belieferte.
Es hätte ein positiver Gegenentwurf zu den isolierenden und überfüllten kantonalen Unterkünften für Geflüchtete sein können.
Doch all das endete im Sommer 2024.
Denn dann beschloss der Kanton Tessin, das Projekt einzustellen. Die Bewohner*innen wurden von den Behörden abgeholt und in andere Zentren gebracht. Und das, obwohl Hotelbesitzer Wilke sein „Solidaritätshotel” weiterführen möchte.
Der Kanton begründete die Schliessung damit, dass man Kosten sparen wolle. „Das ergibt keinen Sinn”, sagt Wilke. „Bei uns kostet die Unterkunft pro Person und Tag 5–10 Franken weniger als in anderen Unterkünften.” Das Hotel Vezia könnte dem Kanton also sogar helfen, Kosten zu sparen. Einen anderen Grund nannten die Behörden für ihre Entscheidung nicht.

„Meiner Meinung nach wird das, was wir hier aufgebaut haben, aus politischen Gründen unterbunden”, sagt Wilke. „Wir hatten nie Probleme, es gab keine Konflikte, keinerlei Gewalt.” Aber gerade, weil es so gut funktioniert hat, habe der Kanton die Zusammenarbeit beendet. „Was wir hier gezeigt haben, läuft der Erzählung der kriminellen Flüchtlingen zuwider, die der Stadtrat aufrechterhalten will.”
Den Geflüchteten wurde versprochen, dass sie aus dem Hotel abgeholt werden, damit sie in eine Wohnung umziehen können. Entgegen diesen Versprechen würden die Leute nun aber in andere Asylunterkünfte im ganzen Tessin gebracht. „Für sie ist das ein Rückschritt”, so Wilke.
Schon gar nicht erst angekommen
Nachdem Chabbi in Chiasso im Juni 2024 den Raum der Grenzwache am Bahnhof verlässt, mit seinem Wegweisungsentscheid in der Hand, setzt er sich in ein Café auf dem Bahnhofsplatz. Er spricht kaum ein Wort Englisch, obwohl der Zettel, den er in der Hand hält, das behauptet. Ob er Asyl in der Schweiz beantragen wollte?
„Asyl, was ist das?”, fragt er einen anderen Mann auf Arabisch, den er auf dem Bahnsteig kennengelernt hat und der auch einen Wegweisungsentscheid in den Händen hält. Möglich ist, dass Chabbi die Fragen der Grenzwächter gar nicht verstand. An vielen Tagen ist kein*e Übersetzer*in anwesend.
Als Tunesier wäre Chabbis Chance auf Asyl in der Schweiz sehr klein. Seit Beat Jans bei seinem letzten Besuch in Chiasso ein paar Monate zuvor das sogenannte 24-Stunden-Verfahren etwa für Menschen aus den Maghrebstaaten eingeführt hat, werden Anträge mit statistisch schlechten Aussichten ohne vertiefte Prüfung des Einzelfalls abgelehnt.
Er werde nun versuchen, nach Frankreich zu gelangen, sagt Chabbi. Kurze Zeit später steht er im italienischen Como am Bahnhof und schaut auf die Anzeigetafel der abfahrenden Züge.
Diese Veröffentlichung wurde mit Unterstützung durch JournaFONDS realisiert.

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