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Wider­stand gegen Isola­tion im Ferienparadies

Mutmass­lich ille­gale Push­backs und tote Geflüch­tete: Chiasso ist ein Symbol für die immer restrik­ti­vere Schweizer Migra­ti­ons­po­litik. Zugleich enga­gieren sich Aktivist*innen, die der poli­ti­schen Kälte ihre Soli­da­rität entge­gen­setzen. Eine Repor­tage von der Grenze. 
Grenzkontrollen am Bahnhof Chiasso: Das Örtchen ist zum Symbol Schweizer Migrationspolitik geworden. (Bild: Federica Bonalumi)

An einem sonnigen Tag im Juni 2024 tritt Hassan Chabbi, der eigent­lich anders heisst, aus einem Raum am Bahnhof Chiasso. In der Hand hält er einen Zettel. Darauf steht: „You must leave Switz­er­land” – Sie müssen die Schweiz verlassen. Auf einem weiteren Zettel sind seine Daten fest­ge­halten. Alter: 18. Natio­na­lität: Tune­sien. Sprache: Englisch.

Vor zehn Jahren begann in Europa der soge­nannte Sommer der Migra­tion, im Zuge dessen Tausende Menschen, viele von ihnen aus Syrien, nach Europa flohen. Viele nahmen den Weg über das Mittel­meer, quer durch Italien und die Schweiz bis nach Deutsch­land oder noch weiter in den Norden.

Doch im Früh­jahr 2016 blockierte die Schweiz unter der Ägide des damals ober­sten Grenz­schüt­zers Ueli Maurer ihre Grenze zu Italien und unter­brach so eine der wich­tig­sten Flucht­routen. Tausende stran­deten im italie­ni­schen Grenzort Como, weil sie die Schweiz nicht betreten durften. Es entstanden Zelt­städte inmitten des Luxus-Feri­en­pa­ra­dieses am Comersee.

Das Örtchen Chiasso auf der Schweizer Seite der Grenze wurde in den Jahren danach zum Symbol der Schweizer Migra­ti­ons­po­litik. Bis heute ist es der Ort, an den Bundesrät*innen reisen, wenn sie eine Verschär­fung verkünden wollen. Zuletzt kam Beat Jans im Februar 2024 nach Chiasso, um neue Mass­nahmen anzu­kün­digen, die Menschen aus nord­afri­ka­ni­schen Ländern davon abhalten sollten, in der Schweiz Asyl zu beantragen.

Denn der Ruf nach einer Eindäm­mung der Migra­tion ist heute wieder lauter, und er kommt längst nicht mehr nur von der poli­ti­schen Rechten.

Doch seit jenem Früh­jahr vor neun Jahren bildet sich inmitten der erzka­tho­li­schen Täler rundum die schwei­ze­risch-italie­ni­sche Grenze auch ein Netz­werk aus Aktivist*innen und soli­da­ri­schen Struk­turen. Sie setzen sich bis heute für die Rechte und die Würde von Menschen ein, die auf ihrer Suche nach einem besseren Leben in Sicher­heit und Frei­heit dort landen.

Es war wie Krieg

Auf der italie­ni­schen Seite der Grenze, acht Kilo­meter weiter südlich von Chiasso, liegt ein Innenhof mit Blick auf einen Garten und einen Hühner­stall. Das Gebäude gehört zur Dorf­kirche in Rebbio, einem Stadt­teil von Como.

Dort sitzt an manchen Tagen der Dorf­pfarrer Don Giusto Della Valle in der Sonne, in ausge­latschten Sandalen und verwa­schenem Karo­hemd. Als im Sommer 2016 Tausende Geflüch­tete in der Touri­sten­de­sti­na­tion am Comersee stran­deten, wurde Della Valle für viele von ihnen zur ersten Anlaufstelle.

Seit 2011 setzt sich der Pfarrer Della Valle für Geflüch­tete in der Grenz­re­gion ein (Bild: Fede­rica Bonalumi).

Er erin­nere sich gut an diesen Sommer: „Die Schweizer Behörden über­wachten die Grenze mit Drohnen, überall standen Polizist*innen. Es war, als wären wir im Krieg.” Della Valle vernetzte sich damals mit Aktivist*innen in der Schweiz, um Essen, Schlaf­plätze und Klei­dung zu orga­ni­sieren. Es entstand ein impro­vi­siertes Camp im Park. Dieses wurde nach kurzer Zeit jedoch geräumt, die Menschen in Unter­künften des Roten Kreuzes zusammengepfercht.

Einige kamen statt­dessen bei Della Valle unter. Das Gebäude der Pfarrei in Rebbio war schon seit 2011 eine Unter­kunft für Menschen auf der Flucht. Doch wegen der geschlos­senen Grenze war es im Sommer 2016 plötz­lich doppelt so voll als zuvor. „Manche versuchten zehn Mal, die Grenze zur Schweiz zu über­winden und kamen immer wieder hierher zurück, weil sie abge­fangen wurden”, erzählt Della Valle.

Rechts­extreme Parteien greifen Della Valle immer wieder direkt an.

Noch immer landen Menschen bei ihm, die nachts von der Schweizer Grenz­wache aufge­griffen und nach Italien zurück­ge­bracht wurden – aber das passiere nur noch selten. Viele der jetzigen Bewohner*innen haben es gar nicht erst versucht, die Grenze zur Schweiz zu über­winden, sondern gleich ein Asyl- oder Nieder­las­sungs­ge­such in Italien gestellt. Sie wollen hierbleiben.

Etwa die drei Jugend­li­chen, die auf weissen Plastik­stühlen im Hof sitzen. Sie kommen aus Tune­sien und Marokko, reisten während Monaten durch unzäh­lige Länder und über das Mittel­meer nach Italien. Seit drei Monaten sind sie hier in Rebbio.

Provo­ka­tion eines Pfarrers

Dass viele gar nicht mehr versu­chen, die Grenze bei Chiasso zu über­queren, ist ganz im Inter­esse der Schweiz. Sie setzt alles daran, Geflüch­tete abzu­schrecken, hält am Dublin-Abkommen fest wie kaum ein anderer euro­päi­scher Staat und schickt Flüch­tende nach wie vor in das EU-Land zurück, in das sie als erstes einen Fuss setzten. Zudem gibt die Schweiz Geld aus, um Flüch­tende fern­zu­halten. 2024 etwa sprach das SEM 20 Millionen Franken für die Unter­brin­gung von minder­jäh­rigen Geflüch­teten in Italien.

In Como selbst gibt es kaum noch Unter­künfte für Asyl­su­chende. Die meisten seien nach 2016 von den Behörden geschlossen worden und stünden heute leer, sagt Della Valle. „Weil die Regie­rung der Bevöl­ke­rung Sicher­heit verspro­chen hat und sich mit der Aufnahme von Geflüch­teten und Armen keine Stimmen gewinnen lassen.”

Mittag­essen in der Pfarrei von Rebbio (Foto: Fede­rica Bonalumi).

Im Herbst 2023 schrieb Della Valle in einem provo­ka­tiven Leit­ar­tikel für ein Prie­ster­ma­gazin, er würde Obdach­losen dabei helfen, die leer­ste­henden Häuser zu besetzen: Er werde ihnen „die Liste der leer­ste­henden Gemein­de­woh­nungen aushän­digen”, beim „Einzug behilf­lich sein” und den Papst um Almosen bitten, falls der Strom ausfallen sollte.

Vor allem rechts­extreme Parteien greifen Della Valle wegen seines kampf­lu­stigen Auftre­tens und seiner Arbeit immer wieder direkt an. Auch der partei­lose Bürger­mei­ster von Como warf ihm unlängst vor, die kirch­liche Gemeinde käme nicht mehr zur Messe, weil sich Della Valle nur noch um die Geflüch­teten kümmere. „Die Leute tun so, also wäre das hier keine Grenz­stadt, als hätten wir nichts mit Migra­tion zu tun”, sagt Della Valle. Dabei hätte gerade Como eine Verant­wor­tung, Menschen auf ihrer gefähr­li­chen Reise einen sicheren Ort zu bieten.

Beat Jans wider­spricht SEM

Zurück im schwei­ze­ri­schen Chiasso verschränken zwei Schweizer Grenz­wächter die Arme, als ein Zug auf Gleis 4 im Bahnhof einfährt. Sie steigen ein, schreiten den ganzen Zug ab. Wer jung, männ­lich und nicht weiss ist, dieser Eindruck drängt sich beim Beob­achten auf, muss Ausweis und Einrei­se­er­laubnis vorweisen.

Wer das nicht kann, muss den Grenz­wäch­tern in einen Raum im Bahn­hofs­ge­bäude folgen. Dort werden persön­liche Daten inklu­sive Finger­ab­drücke aufge­nommen und die Grenz­be­amten führen eine kurze Befra­gung durch. Dieses Proze­dere – Züge durch­su­chen, Menschen ohne Einrei­se­be­wil­li­gung abfer­tigen – wieder­holen die Beamten alle halbe Stunde. Aus dem Raum treten dann nach und nach Menschen mit einem Zettel in der Hand, der sie dazu anhält, die Schweiz zu verlassen. Einer von ihnen ist Hassan Chabbi. Er steht nun verloren auf dem Bahn­steig und wägt ab, wohin er als näch­stes gehen kann.

„Nach meiner Einschät­zung sind Push­backs keine Einzelfälle.”

Rechts­an­wältin Lea Hungerbühler

Wer im Raum am Bahnhof zum Ausdruck bringt, ein Asyl­ge­such stellen zu wollen, muss gemäss geltendem Recht zu einem einge­zäunten Gebäude zwischen dem Poli­zei­re­vier und den Gleisen geführt werden. Hier dienen aufein­an­der­ge­sta­pelte Container als eines von zwei Bundes­asyl­zen­tren des Kantons Tessin.

Doch Berichte legen nahe, dass die Grenz­be­amten das nicht immer einhalten. Die NGO Asylex doku­men­tierte in den Jahren 2020 und 2021 zwei Fälle, in denen Menschen explizit zum Ausdruck brachten, dass sie Asyl bean­tragen wollen. Trotzdem wurden sie inhaf­tiert und dann von der Grenz­wache zurück nach Italien gebracht. Die Rechts­an­wältin Lea Hunger­bühler und Präsi­dentin von Asylex ist der Meinung, dass es sich dabei um ille­gale Push­backs handelte und hat in einem der Fälle eine Straf­an­zeige gegen die Grenz­wächter einge­reicht. Das Verfahren ist noch hängig. Hunger­bühler geht davon aus, dass solche Push­backs keine Einzel­fälle sind. 

Die Grenz­wache kontrol­liert jeden Zug aus Italien, der in Chiasso einrollt (Foto: Fede­rica Bonalumi).

Das SEM bezeich­nete dieses Vorgehen damals auf Anfrage von Asylex als rechts­kon­form: Italien habe zahl­reiche Abkommen zum Schutz der Menschen­rechte unter­zeichnet und die Abwei­sung an der Grenze würde daher keine Verlet­zung des Non-Refou­le­ment Gebots darstellen. Zu einem anderen Schluss kam vor Kurzem Beat Jans beim selben Vorgehen der deut­schen Behörden. Er kriti­sierte diese dafür, dass sie Asyl­su­chende an der Grenze abweisen und zurück in die Schweiz schicken. Dieses Vorgehen sei, so der Justiz­mi­ni­ster, völkerrechtswidrig.

In den Bundes­asyl­zen­tren im Tessin prüfen die Behörden auch, ob die Schweiz für ein Gesuch zuständig ist oder die Person gemäss Dublin-Abkommen zurück nach Italien über­stellt werden kann. Doch in Italien nimmt man sie sowieso nicht auf, das Land hat das Dublin-Abkommen längst ausge­setzt. Daher sitzen aktuell rund 1500 Geflüch­tete in der Schweiz fest. Sie befinden sich im Limbo, können weder vor noch zurück. Ein Jahr lang müssen sie in diesem Zustand ausharren, bevor die Schweiz formal für ihr Asyl­ge­such zuständig wird. Diese Frist wurde vor Kurzem erst verdoppelt.

Gegen die Isolation

Im April 2025 steht Willy Lubrini auf dem Friedhof von Balerna, einem Nach­bar­dorf von Chiasso. Um ihn herum stehen Menschen, die sich an diesem regne­ri­schen Tag versam­melt hatten, um zu trauern. Ein Foto von der Feier zeigt Lubrini, wie er ein Blatt Papier in die Höhe hält, darauf stehen vier Buch­staben: Aziz. So nannte sich der Jugend­liche, der im Bundes­asyl­zen­trum Pasture bei Balerna lebte. Zwei andere Geflüch­tete fanden seinen toten Körper in einem Fluss hinter dem Zentrum.

„Er lag abseits aller Fuss­gän­ger­wege und Strassen”, sagt Lubrini einige Wochen später, als er im Hinter­raum eines Cafés sitzt, gemeinsam mit Mauro Stanga. Beide sind in dieser Region gross­ge­worden. Im Herbst 2023 haben die weiss­haa­rigen Männer den Verein „Mend­ri­siotto Regione Aperta” gegründet.

Im Sommer desselben Jahres schrieben Zeitungen in der ganzen Schweiz über das angeb­liche „Asyl­chaos” im „Pulver­fass” Chiasso, dem „Lampe­dusa der Schweiz”. Die Bevöl­ke­rung sei veräng­stigt und fürchte sich vor zuneh­mender Krimi­na­lität. „Wir leben seit Jahr­zehnten hier und wir wussten daher, dass das nicht stimmt”, sagt Stanga. Er und Lubrini wollten sich gegen diese falsche Darstel­lung wehren. Zunächst machten sie eine Umfrage in den Strassen von Chiasso. Das Resultat: Die meisten Menschen sehen die Asyl­zen­tren nicht als Problem für die Sicher­heit. Viel eher haben die Medien mit ihren Berichten über die Forde­rungen der rechts­po­pu­li­sti­schen Lega dei Tici­nesi oder der SVP die Stim­mung erst aufgeheizt.

Die Geflüch­teten dürfen in einer Sendung für das lokale freie Radio nur Musik senden und nicht über ihre Flucht­er­fah­rung spre­chen. Das war die Bedin­gung des SEM.

„Die Geflüch­teten können sich gegen die Angriffe der Rechten nicht wehren. Sie erfahren nicht einmal davon, weil sie vom Rest der Gesell­schaft abge­schnitten sind”, sagt Stanga. „Das wollten wir ändern.” Also orga­ni­sierten sie gemein­same Wande­rungen, Koch­nach­mit­tage und Kino­abende mit den Bewohner*innen der Asylzentren.

Denn die Isola­tion in den Zentren ist gewollt, sind sich beide sicher: „Es ist kein Zufall, dass Aziz von zwei anderen Bewoh­nern des Camps gefunden wurde”, sagt Lubrini. „Niemand sonst läuft je an diesem Ort vorbei.” Das im Früh­jahr 2024 neu eröff­nete Bundes­asyl­zen­trum Pasture ist ein langer grauer Betonbau und steht zwischen einer Auto­bahn, Indu­strie­hallen und Feldern. Hier lebte auch Aziz. „Die Leute aus dem Camp fragten mich: Wo wohnt ihr denn alle? Wir sehen nirgends Wohn­häuser”, so Stanga.

Die absicht­liche Tren­nung der Geflüch­teten vom Rest der Gesell­schaft will der Verein um Lubrini und Stanga aufbre­chen. Die Gruppe erstritt etwa, dass die Geflüch­teten um 21 Uhr anstatt schon um 18 Uhr abends zurück im Zentrum sein müssen, dass Jugend­liche eine lokale Schule besu­chen können und selbst­ge­machtes Essen von draussen ins Zentrum mitge­nommen werden kann. „Es sind nur kleine Verbes­se­rungen – aber immerhin”, seufzt Lubrini.

Parti­sa­nen­lieder verboten

Selbst die Migra­ti­ons­be­hörden seien in manchen Fällen froh, dass jemand diese Ände­rungen anstösst. „Manche unserer Forde­rungen wollen sie sowieso umsetzen, aber sie trauen sich nicht, das zu sagen. Weil sie Angst haben, dass es poli­tisch auf sie zurückfällt.”

Das Thema Migra­tion ist im Tessin ein heisses Eisen, niemand will damit in Verbin­dung gebracht werden. „Wer etwas sagt, wird in der näch­sten Ausgabe der Mattino della dome­nica, der Zeitung der rechten Lega dei Tici­nesi, ange­feindet”, so Stanga.

Selbst Harm­loses kann zur poli­ti­schen Angriffs­fläche werden. Ein Beispiel: Ein junger Mann sang im Bundes­asyl­zen­trum das anti­fa­schi­sti­sche Parti­sa­nen­lied „Bella Ciao”, das er bei einer Wande­rung mit dem Verein gelernt hatte. Ein Secu­rity-Mitar­beiter im BAZ wies ihn an, das zu unter­lassen. Ein weiteres Beispiel: Jede Woche produ­zieren Geflüch­tete eine Sendung für das lokale freie Radio. Aber sie dürfen dort nur Musik senden und nicht über ihre Flucht­er­fah­rung spre­chen. Das war die Bedin­gung des SEM.

2024 eröff­nete das neue BAZ in Balerna zwischen Bahn­gleisen und Feldern. (Foto: Fede­rica Bonalumi).

Und selbst das Gedenken an den Tod eines Jugend­li­chen schien den Behörden zu poli­tisch. Als Lubrini die beiden Gemeinden, die im Tessin Asyl­zen­tren betreiben, anfragte, ob sie eine Gedenk­ver­an­stal­tung für Aziz machen würden, winkten sie ab. Der Junge sei in der Verant­wor­tung des SEM gewesen, nicht in ihrer. Also orga­ni­sierte Mend­ri­siotto Regione Aperta die Gedenkfeier.

Bis heute ist die genaue Todes­ur­sache von Aziz unge­klärt. Das SEM lässt ledig­lich verlauten: „Aus Gründen des Daten- und Persön­lich­keits­schutzes äussert sich das SEM nicht zu Einzel­fällen”. Klar sei, dass es keine „Fremd­ein­wir­kung” gegeben habe.

Für Lubrini und Stanga zeigt der Tod deut­lich, wie gefähr­lich es ist, dass jungen Geflüch­teten im Bundes­asyl­zen­trum kein beson­derer Schutz geboten wird. Und wie sehr das Lager­sy­stem die Menschen in die Verzweif­lung treibt.

Die Zeit gibt ihnen recht, denn wenige Wochen später stirbt ein weiterer junger Asyl­su­chender in Balerna. Auch zu ihm geben die Behörden keine Infor­ma­tionen bekannt.

Würde­vol­lere Unterbringung

Im Örtchen Vezia, 26 Kilo­meter nörd­lich von Chiasso entfernt, steht ein hell­gelber Bau, davor Palmen und ein Schild mit einem verblassten roten Schriftzug: Hotel Vezia. Die Kantine drinnen sieht aus wie ein ameri­ka­ni­sches Diner aus den 60ern: Eine runde Theke, knall­rote Stühle, Fliesen auf dem Boden und eine grosse Fensterfront.

Im Februar 2023 kamen hier rund 140 Geflüch­tete unter, viele davon Kurd*innen aus der Türkei, Syrien und dem Irak. Der Besitzer Markus Wilke stellte das Haus dem Roten Kreuz und der Gemeinde zur Verfü­gung und wandelte es in ein „Soli­da­ri­täts­hotel” um, wie er selbst sagt.

Das „Soli­da­ri­täts­hotel” Vezia musste im Sommer 2024 seine Türen schliessen (Foto: Fede­rica Bonalumi).

Die Kinder gingen in dieser Zeit in der Region zur Schule und fanden neue Freund*innen, berichtet Wilke im Gespräch. Vier der Bewohner*innen wurden bei einem lokalen Cate­ring einge­stellt, das täglich das umge­nutzte Hotel belieferte.

Es hätte ein posi­tiver Gegen­ent­wurf zu den isolie­renden und über­füllten kanto­nalen Unter­künften für Geflüch­tete sein können.

Doch all das endete im Sommer 2024.

Denn dann beschloss der Kanton Tessin, das Projekt einzu­stellen. Die Bewohner*innen wurden von den Behörden abge­holt und in andere Zentren gebracht. Und das, obwohl Hotel­be­sitzer Wilke sein „Soli­da­ri­täts­hotel” weiter­führen möchte.

Der Kanton begrün­dete die Schlies­sung damit, dass man Kosten sparen wolle. „Das ergibt keinen Sinn”, sagt Wilke. „Bei uns kostet die Unter­kunft pro Person und Tag 5–10 Franken weniger als in anderen Unter­künften.” Das Hotel Vezia könnte dem Kanton also sogar helfen, Kosten zu sparen. Einen anderen Grund nannten die Behörden für ihre Entschei­dung nicht.

Markus Wilke hätte das Hotel gerne länger als Unter­kunft zur Verfü­gung gestellt (Foto: Fede­rica Bonalumi).

„Meiner Meinung nach wird das, was wir hier aufge­baut haben, aus poli­ti­schen Gründen unter­bunden”, sagt Wilke. „Wir hatten nie Probleme, es gab keine Konflikte, keinerlei Gewalt.” Aber gerade, weil es so gut funk­tio­niert hat, habe der Kanton die Zusam­men­ar­beit beendet. „Was wir hier gezeigt haben, läuft der Erzäh­lung der krimi­nellen Flücht­lingen zuwider, die der Stadtrat aufrecht­erhalten will.”

Den Geflüch­teten wurde verspro­chen, dass sie aus dem Hotel abge­holt werden, damit sie in eine Wohnung umziehen können. Entgegen diesen Verspre­chen würden die Leute nun aber in andere Asyl­un­ter­künfte im ganzen Tessin gebracht. „Für sie ist das ein Rück­schritt”, so Wilke.

Schon gar nicht erst angekommen

Nachdem Chabbi in Chiasso im Juni 2024 den Raum der Grenz­wache am Bahnhof verlässt, mit seinem Wegwei­sungs­ent­scheid in der Hand, setzt er sich in ein Café auf dem Bahn­hofs­platz. Er spricht kaum ein Wort Englisch, obwohl der Zettel, den er in der Hand hält, das behauptet. Ob er Asyl in der Schweiz bean­tragen wollte?

„Asyl, was ist das?”, fragt er einen anderen Mann auf Arabisch, den er auf dem Bahn­steig kennen­ge­lernt hat und der auch einen Wegwei­sungs­ent­scheid in den Händen hält. Möglich ist, dass Chabbi die Fragen der Grenz­wächter gar nicht verstand. An vielen Tagen ist kein*e Übersetzer*in anwesend.

Als Tune­sier wäre Chabbis Chance auf Asyl in der Schweiz sehr klein. Seit Beat Jans bei seinem letzten Besuch in Chiasso ein paar Monate zuvor das soge­nannte 24-Stunden-Verfahren etwa für Menschen aus den Maghreb­staaten einge­führt hat, werden Anträge mit stati­stisch schlechten Aussichten ohne vertiefte Prüfung des Einzel­falls abgelehnt.

Er werde nun versu­chen, nach Frank­reich zu gelangen, sagt Chabbi. Kurze Zeit später steht er im italie­ni­schen Como am Bahnhof und schaut auf die Anzei­ge­tafel der abfah­renden Züge. 

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