Meistens sind wir froh, dass wir Gesetze haben und glücklich darüber, dass sich der Grossteil unserer Mitmenschen in den meisten Situationen daran hält. Doch es kommt vor, dass wir im Nachhinein froh sind um Menschen, die genau das nicht getan haben. Wie zum Beispiel im Fall der afroamerikanischen US-Bürgerin Rosa Parks. Obwohl es ihr damals verboten war, blieb sie im vorderen Teil des Busses sitzen, als weisse Passagiere, für die der Teil gesetzlich reserviert war, sie zum Gehen aufforderten. Das, was Rosa Parks damals machte, nennt man zivilen Ungehorsam. Und der wird auch von den KlimaaktivistInnen von Ende Gelände eingesetzt. Nicht, wie bei Parks, gegen Rassismus, sondern gegen die Braunkohle und für mehr Klimagerechtigkeit.
Und auch sonst gibt es wohl ein paar Unterschiede zwischen Parks und den Leuten von Ende Gelände. Während die vorwiegend weissen Deutschen von Ende Gelände den Schutz der Masse auf ihrer Seite wissen und höchstens eine Busse nach Hause kriegen werden, sass Parks als einzelne diskriminierte Schwarze in diesem Bus und musste – im schlimmsten Fall – mit physischer Gewalt rechnen. Trotzdem sind die zwei Aktionen von ihrem Grundmuster her gleich. Sowohl die TeilnehmerInnen von Ende Gelände wie auch Parks brechen bewusst geltendes Recht, um damit für ein höheres, gemeinwohlorientiertes Ziel einzustehen.
Laut eigenen Angaben ging es Rosa Parks nämlich nicht darum, dass sie nach einem anstrengenden Tag auf der Fahrt nach Hause lieber sitzen als stehen wollte. Genau wie den KlimaaktivistInnen ging es ihr bei ihrem Verstoss gegen das geltende Recht um mehr. Sie hatte es satt, dass sie als Afroamerikanerin von Gesetzes wegen – aber gegen die Verfassung – diskriminiert wurde. Mit ihrer Verweigerung, aufzustehen, wollte sie nicht ihren Sitzplatz verteidigen, sondern die ungleiche Behandlung von weissen und schwarzen US-AmerikanerInnen durch das Gesetz anprangern.
Ihr ziviler Ungehorsam löste die Busboykotte von Montgomery aus. Diese Boykotte gelten heute als einer der Anfänge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der zivile Ungehorsam von Rosa Parks ereignete sich am 1. Dezember 1955. Sie wurde daraufhin wegen Störung der öffentlichen Ruhe verhaftet und musste 10 Dollar Busse bezahlen. Vierzig Jahre später wurde sie von Präsident Clinton für ihren Ungehorsam mit einer Medaille geehrt.
Protestsitzen auf den Schienen der Kohlebahn
Auch die 6500 AktivistInnen von Ende Gelände harren an einem Ort aus, wo sie eigentlich nicht sein dürften. Und auch sie nehmen für sich in Anspruch, dies für eine gerechtere Welt zu tun. Doch anders als bei Rosa Parks findet ihr Protestsitzen nicht in einem Bus, sondern auf den Schienen der RWE-eigenen Hambachbahn statt. Diese sollte eigentlich sieben Tage die Woche die Brennöfen der Kohlekraftwerke mit frischer Braunkohle versorgen. Wird sie durch KlimaschützerInnen blockiert, geht das nicht mehr.
Damit können sich die BesetzerInnen wegen Hausfriedensbruch und, je nach Auslegung durch die RichterInnen, auch wegen Nötigung und Störung öffentlicher Betriebe strafbar machen. In der Theorie. In der Praxis haben die Amtsgerichte in Ost- und Westdeutschland, wo vergangene Aktionen von Ende Gelände stattfanden, stets festgestellt, dass das Betreten von Gruben, Baggern und Schienen keine Straftat darstellt, sondern nur eine Ordnungswidrigkeit – also lediglich eine geringfügige Verletzung der Rechtsregeln. Trotzdem: Wie können sich all diese Menschen sicher sein, dass sie das Richtige machen, auch wenn sie dabei das Gesetz brechen? Wir haben die Ungehorsamen gefragt.
„Hier profitieren ein paar wenige auf Kosten vieler”
Es ist die globale und generationenübergreifende Ungerechtigkeit, die Finn* (44) stört. Er engagiert sich bereits seit 2015 zusammen mit seiner Frau Tinka für den Kohleausstieg und freut sich darüber, dass die Teilnehmerzahl seit damals von 800 auf heute 6500 gestiegen ist (Angaben der OrganisatorInnen). Darauf angesprochen, wie er den zivilen Ungehorsam rechtfertigt, zitiert er einen Satz, den man hier öfters zu hören kriegt: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Hier profitieren ein paar wenige auf Kosten der Zukunft von vielen. Entweder durch billigen Strom oder, wie RWE, durch Milliardengewinne.“
Und tatsächlich: Die CO2-Emissionen, die bereits aus den RWE-Schornsteinen kamen, werden noch vielen Menschen das Leben schwer machen. Laut einem Artikel im Guardian geht ein Zweihundertstel aller industriell verursachten Klimagase auf das Konto von RWE. Oder anders ausgedrückt: 200 RWEs würden gleich viele Emissionen produzieren wie alle industriellen Betriebe weltweit seit 1988 zusammen. Profitieren tun ein paar deutsche Haushalte und ein Konzern. Während man von der Tundra über Hawaii bis nach Kapstadt die Folgen des klimaschädlichen Wirtschaftens von RWE zu spüren kriegt. Und das noch über eine sehr lange Zeit hinweg.
Die Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung sind gering
Der Maler Alexander (30) ist seit knapp einer Woche in den Protestcamps der KohlegegnerInnen. Er will hier aber nicht nur am zivilen Ungehorsam von Ende Gelände teilnehmen, sondern auch die landschaftlichen Eingriffe des Tagebaus auf seinen Bildern festhalten. Er wünscht sich, dass er durch seine Bilder Leute erreichen kann, die sich sonst nicht für den Kohleausstieg interessieren. Seiner Meinung nach gibt es eine starke Machtasymmetrie zwischen denjenigen, die die Interessen des Energiekonzerns RWE vertreten und denjenigen, die von Konzernen wie RWE geschädigt werden. „Die Möglichkeiten innerhalb des Gesetzes sind für die Unternehmen weit gesteckt. Für die Interessen der Gegenseite sind sie jedoch ziemlich eng. Diese starke Asymmetrie rechtfertigt eine starke Form des Widerstands“, erklärt Alexander.
Wenn man bedenkt, dass alle Betroffenen ausserhalb Deutschlands nicht einmal über ihren Stimmzettel Einfluss nehmen können auf die Entwicklung der deutschen Kohleindustrie und das Schicksal von RWE, kann man Alexander verstehen. Weder in der Tundra noch in Hawaii oder Kapstadt wird an den Bundestagswahlen eine Urne stehen für diejenigen, die von den Klimagasen eines deutschen Unternehmens geschädigt wurden.
Die akzeptierten Formen der politischen Teilhabe greifen nicht
Diese politischen Probleme und Herausforderungen des Klimawandels sind mittlerweile bestens bekannt. Sie entstehen durch den Konflikt zwischen nationaler Politik und globalen Auswirkungen. Besonders frustrierend daran: Die akzeptierten Formen der politischen Partizipation zielen ins Leere. Dies weiss Günter (75) aus eigener Erfahrung. Ich treffe ihn in seiner roten Regenjacke und mit Gehstock auf den besetzten Geleisen der Hambachbahn. „Wissen Sie“, setzt Günter durch seinen sehr gepflegten weissen Bart an, „ich habe wirklich schon vieles gemacht: Leserbriefe verfasst, Regierungsvertreter angeschrieben, Veranstaltungen organisiert und natürlich auch demonstriert. Passiert ist aber leider nicht viel. Was soll ich denn nun machen? Mich zurücklehnen und damit zufriedengeben, dass ich es ja immerhin versucht habe? Das will ich nicht. Und deshalb gehe ich hier nun einen Schritt weiter.“ Es gehe ihm schlichtweg um das Leben selbst. Natürlich nicht um sein eigenes, meint Günter mit einem leicht schelmischen Lächeln auf den Lippen. Aber um das von all denen, die noch kommen werden.
Ähnlich sieht das die viel jüngere Charlie (23). „Es ist halt unser letztes Mittel. Alle legalen Wege wurden bereits ausgereizt. Was wir jetzt noch machen können, ist, mit unseren Körpern die Bagger zu blockieren.“ Ob es wirklich stimmt, dass bereits alle Wege der legalen Einflussnahme ausprobiert worden sind, kann niemand so genau sagen – auch nicht die Pressestelle von Ende Gelände. Klar ist aber, dass die Möglichkeiten der legalen Einflussnahme in Deutschland kleiner sind als in der Schweiz.
So kennt die Bundesrepublik Deutschland keine Volksinitiative für Sachbegehren auf Bundesebene. Und auf dieser müsste ein landesweiter Ausstieg aus der Kohleverstromung verhandelt werden. Würde es dieses Instrument jedoch geben, hätte ein Volksbegehren für einen raschen Kohleausstieg wahrscheinlich keine schlechten Chancen. Eine kürzlich erschienene Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid im Auftrag des Kampagnennetzwerks Avaaz zeigt dies deutlich. Laut einem Artikel auf ZEIT ONLINE gaben in dieser Umfrage 73 Prozent der Deutschen an, dass sie sich einen Ausstieg aus der Kohleenergie bis zum Jahr 2030 oder früher wünschen.
Für einmal soll kein CO2 in die Atmosphäre gepustet werden
Am Abend bevor es los geht, lerne ich den Nachhaltigkeitsstudenten Max (26) kennen. Er sieht den zivilen Ungehorsam als eine logische Konsequenz von all den vergangenen Demonstrationen und legalen Versuchen, die klimaschädliche Kohleverstromung zu stoppen. „Hier geht es aber darum, dass wir über die Ebene des symbolischen Widerstands hinauswollen und es wirklich schaffen, dass zumindest einmal für einen Tag kein CO2 aus den Schornsteinen von RWE kommt.“ Wie Rosa Parks will er nicht nur dafür protestieren, dass sich die Umstände ändern, sondern er will die Änderung in der Welt realisieren.
Und wie rechtfertigt das ‚offizielle‘ Ende Gelände den Aufruf zur illegalen Aktion? „Der 1.5°C-Sonderbericht des Weltklimarats hat es deutlich gesagt: Es geht nur mit dem sofortigen Kohleausstieg. Wir lassen uns nicht länger hinhalten, sondern setzen den sofortigen Kohleausstieg selber um”, meint Selma Richter, Pressesprecherin von Ende Gelände. Und wenn die 91 AutorInnen dieses Sonderberichts nicht alle total daneben liegen mit ihren Berechnungen, dann wird die Geschichte mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den mutmasslichen GesetzesbrecherInnen von Ende Gelände viele kleine Rosa Parks machen.
PS: Wir haben nicht nur AktivistInnen gefragt, wie und unter welchen Umständen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist, sondern auch den Energieriesen RWE und einen Experten. Mehr über die kurze, aber vielsagende Antwort von RWE und was ein Philosoph zu den ganzen Aktionen sagt, erfährst du im nächsten Artikel.
*Um die InterviewpartnerInnen vor allfälligen juristischen Konsequenzen zu schützen, wurden die Namen der befragten Personen von der Redaktion geändert.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 29 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1768 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1015 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 493 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?