Ziviler Unge­horsam: Weshalb tut man das?

6500 Klima­ak­ti­vi­stInnen folgten am letzten Okto­ber­wo­chen­ende dem Aufruf des Akti­ons­bünd­nisses Ende Gelände zum zivilen Unge­horsam, legten für mehrere Stunden den Schie­nen­trans­port des Tagebau-Betrei­bers RWE lahm und forderten den sofor­tigen Kohle­aus­stieg. Wir haben die Unge­hor­samen vom Ende Gelände gefragt, wie sie diese extreme Form des Protests rechtfertigen. 
Ziviler Ungehorsam bedeutet, ganz bewusst das Gesetz zu brechen (Foto: Ehimetalor Akhere Unuabona / Unsplash)

Meistens sind wir froh, dass wir Gesetze haben und glück­lich darüber, dass sich der Gross­teil unserer Mitmen­schen in den meisten Situa­tionen daran hält. Doch es kommt vor, dass wir im Nach­hinein froh sind um Menschen, die genau das nicht getan haben. Wie zum Beispiel im Fall der afro­ame­ri­ka­ni­schen US-Bürgerin Rosa Parks. Obwohl es ihr damals verboten war, blieb sie im vorderen Teil des Busses sitzen, als weisse Passa­giere, für die der Teil gesetz­lich reser­viert war, sie zum Gehen auffor­derten. Das, was Rosa Parks damals machte, nennt man zivilen Unge­horsam. Und der wird auch von den Klima­ak­ti­vi­stInnen von Ende Gelände einge­setzt. Nicht, wie bei Parks, gegen Rassismus, sondern gegen die Braun­kohle und für mehr Klimagerechtigkeit.

Und auch sonst gibt es wohl ein paar Unter­schiede zwischen Parks und den Leuten von Ende Gelände. Während die vorwie­gend weissen Deut­schen von Ende Gelände den Schutz der Masse auf ihrer Seite wissen und höch­stens eine Busse nach Hause kriegen werden, sass Parks als einzelne diskri­mi­nierte Schwarze in diesem Bus und musste – im schlimm­sten Fall – mit physi­scher Gewalt rechnen. Trotzdem sind die zwei Aktionen von ihrem Grund­mu­ster her gleich. Sowohl die Teil­neh­me­rInnen von Ende Gelände wie auch Parks brechen bewusst geltendes Recht, um damit für ein höheres, gemein­wohl­ori­en­tiertes Ziel einzustehen.

Laut eigenen Angaben ging es Rosa Parks nämlich nicht darum, dass sie nach einem anstren­genden Tag auf der Fahrt nach Hause lieber sitzen als stehen wollte. Genau wie den Klima­ak­ti­vi­stInnen ging es ihr bei ihrem Verstoss gegen das geltende Recht um mehr. Sie hatte es satt, dass sie als Afro­ame­ri­ka­nerin von Gesetzes wegen – aber gegen die Verfas­sung – diskri­mi­niert wurde. Mit ihrer Verwei­ge­rung, aufzu­stehen, wollte sie nicht ihren Sitz­platz vertei­digen, sondern die ungleiche Behand­lung von weissen und schwarzen US-Ameri­ka­ne­rInnen durch das Gesetz anprangern.

Ihr ziviler Unge­horsam löste die Busboy­kotte von Mont­go­mery aus. Diese Boykotte gelten heute als einer der Anfänge der schwarzen Bürger­rechts­be­we­gung. Der zivile Unge­horsam von Rosa Parks ereig­nete sich am 1. Dezember 1955. Sie wurde daraufhin wegen Störung der öffent­li­chen Ruhe verhaftet und musste 10 Dollar Busse bezahlen. Vierzig Jahre später wurde sie von Präsi­dent Clinton für ihren Unge­horsam mit einer Medaille geehrt.

Protest­sitzen auf den Schienen der Kohlebahn

Auch die 6500 Akti­vi­stInnen von Ende Gelände harren an einem Ort aus, wo sie eigent­lich nicht sein dürften. Und auch sie nehmen für sich in Anspruch, dies für eine gerech­tere Welt zu tun. Doch anders als bei Rosa Parks findet ihr Protest­sitzen nicht in einem Bus, sondern auf den Schienen der RWE-eigenen Hambach­bahn statt. Diese sollte eigent­lich sieben Tage die Woche die Brenn­öfen der Kohle­kraft­werke mit frischer Braun­kohle versorgen. Wird sie durch Klima­schüt­ze­rInnen blockiert, geht das nicht mehr.

Damit können sich die Beset­ze­rInnen wegen Haus­frie­dens­bruch und, je nach Ausle­gung durch die Rich­te­rInnen, auch wegen Nöti­gung und Störung öffent­li­cher Betriebe strafbar machen. In der Theorie. In der Praxis haben die Amts­ge­richte in Ost- und West­deutsch­land, wo vergan­gene Aktionen von Ende Gelände statt­fanden, stets fest­ge­stellt, dass das Betreten von Gruben, Baggern und Schienen keine Straftat darstellt, sondern nur eine Ordnungs­wid­rig­keit – also ledig­lich eine gering­fü­gige Verlet­zung der Rechts­re­geln. Trotzdem: Wie können sich all diese Menschen sicher sein, dass sie das Rich­tige machen, auch wenn sie dabei das Gesetz brechen? Wir haben die Unge­hor­samen gefragt.

„Hier profi­tieren ein paar wenige auf Kosten vieler”

Es ist die globale und gene­ra­tio­nen­über­grei­fende Unge­rech­tig­keit, die Finn* (44) stört. Er enga­giert sich bereits seit 2015 zusammen mit seiner Frau Tinka für den Kohle­aus­stieg und freut sich darüber, dass die Teil­neh­mer­zahl seit damals von 800 auf heute 6500 gestiegen ist (Angaben der Orga­ni­sa­to­rInnen). Darauf ange­spro­chen, wie er den zivilen Unge­horsam recht­fer­tigt, zitiert er einen Satz, den man hier öfters zu hören kriegt: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Wider­stand zur Pflicht. Hier profi­tieren ein paar wenige auf Kosten der Zukunft von vielen. Entweder durch billigen Strom oder, wie RWE, durch Milliardengewinne.“

Und tatsäch­lich: Die CO2-Emis­sionen, die bereits aus den RWE-Schorn­steinen kamen, werden noch vielen Menschen das Leben schwer machen. Laut einem Artikel im Guar­dian geht ein Zwei­hun­dert­stel aller indu­striell verur­sachten Klima­gase auf das Konto von RWE. Oder anders ausge­drückt: 200 RWEs würden gleich viele Emis­sionen produ­zieren wie alle indu­stri­ellen Betriebe welt­weit seit 1988 zusammen. Profi­tieren tun ein paar deut­sche Haus­halte und ein Konzern. Während man von der Tundra über Hawaii bis nach Kapstadt die Folgen des klima­schäd­li­chen Wirt­schaf­tens von RWE zu spüren kriegt. Und das noch über eine sehr lange Zeit hinweg.

Die Möglich­keiten zur poli­ti­schen Mitbe­stim­mung sind gering

Der Maler Alex­ander (30) ist seit knapp einer Woche in den Protest­camps der Kohle­geg­ne­rInnen. Er will hier aber nicht nur am zivilen Unge­horsam von Ende Gelände teil­nehmen, sondern auch die land­schaft­li­chen Eingriffe des Tage­baus auf seinen Bildern fest­halten. Er wünscht sich, dass er durch seine Bilder Leute errei­chen kann, die sich sonst nicht für den Kohle­aus­stieg inter­es­sieren. Seiner Meinung nach gibt es eine starke Macht­asym­me­trie zwischen denje­nigen, die die Inter­essen des Ener­gie­kon­zerns RWE vertreten und denje­nigen, die von Konzernen wie RWE geschä­digt werden. „Die Möglich­keiten inner­halb des Gesetzes sind für die Unter­nehmen weit gesteckt. Für die Inter­essen der Gegen­seite sind sie jedoch ziem­lich eng. Diese starke Asym­me­trie recht­fer­tigt eine starke Form des Wider­stands“, erklärt Alexander.

Wenn man bedenkt, dass alle Betrof­fenen ausser­halb Deutsch­lands nicht einmal über ihren Stimm­zettel Einfluss nehmen können auf die Entwick­lung der deut­schen Kohle­indu­strie und das Schicksal von RWE, kann man Alex­ander verstehen. Weder in der Tundra noch in Hawaii oder Kapstadt wird an den Bundes­tags­wahlen eine Urne stehen für dieje­nigen, die von den Klima­gasen eines deut­schen Unter­neh­mens geschä­digt wurden.

Die akzep­tierten Formen der poli­ti­schen Teil­habe greifen nicht

Diese poli­ti­schen Probleme und Heraus­for­de­rungen des Klima­wan­dels sind mitt­ler­weile bestens bekannt. Sie entstehen durch den Konflikt zwischen natio­naler Politik und globalen Auswir­kungen. Beson­ders frustrie­rend daran: Die akzep­tierten Formen der poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion zielen ins Leere. Dies weiss Günter (75) aus eigener Erfah­rung. Ich treffe ihn in seiner roten Regen­jacke und mit Gehstock auf den besetzten Geleisen der Hambach­bahn. „Wissen Sie“, setzt Günter durch seinen sehr gepflegten weissen Bart an, „ich habe wirk­lich schon vieles gemacht: Leser­briefe verfasst, Regie­rungs­ver­treter ange­schrieben, Veran­stal­tungen orga­ni­siert und natür­lich auch demon­striert. Passiert ist aber leider nicht viel. Was soll ich denn nun machen? Mich zurück­lehnen und damit zufrie­den­geben, dass ich es ja immerhin versucht habe? Das will ich nicht. Und deshalb gehe ich hier nun einen Schritt weiter.“ Es gehe ihm schlichtweg um das Leben selbst. Natür­lich nicht um sein eigenes, meint Günter mit einem leicht schel­mi­schen Lächeln auf den Lippen. Aber um das von all denen, die noch kommen werden.

Ähnlich sieht das die viel jüngere Charlie (23). „Es ist halt unser letztes Mittel. Alle legalen Wege wurden bereits ausge­reizt. Was wir jetzt noch machen können, ist, mit unseren Körpern die Bagger zu blockieren.“ Ob es wirk­lich stimmt, dass bereits alle Wege der legalen Einfluss­nahme auspro­biert worden sind, kann niemand so genau sagen – auch nicht die Pres­se­stelle von Ende Gelände. Klar ist aber, dass die Möglich­keiten der legalen Einfluss­nahme in Deutsch­land kleiner sind als in der Schweiz.

So kennt die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land keine Volks­in­itia­tive für Sach­be­gehren auf Bundes­ebene. Und auf dieser müsste ein landes­weiter Ausstieg aus der Kohle­ver­stro­mung verhan­delt werden. Würde es dieses Instru­ment jedoch geben, hätte ein Volks­be­gehren für einen raschen Kohle­aus­stieg wahr­schein­lich keine schlechten Chancen. Eine kürz­lich erschie­nene Umfrage des Meinungs­for­schungs­in­sti­tuts TNS Emnid im Auftrag des Kampa­gnen­netz­werks Avaaz zeigt dies deut­lich. Laut einem Artikel auf ZEIT ONLINE gaben in dieser Umfrage 73 Prozent der Deut­schen an, dass sie sich einen Ausstieg aus der Kohle­en­ergie bis zum Jahr 2030 oder früher wünschen.

Für einmal soll kein CO2 in die Atmo­sphäre gepu­stet werden

Am Abend bevor es los geht, lerne ich den Nach­hal­tig­keits­stu­denten Max (26) kennen. Er sieht den zivilen Unge­horsam als eine logi­sche Konse­quenz von all den vergan­genen Demon­stra­tionen und legalen Versu­chen, die klima­schäd­liche Kohle­ver­stro­mung zu stoppen. „Hier geht es aber darum, dass wir über die Ebene des symbo­li­schen Wider­stands hinaus­wollen und es wirk­lich schaffen, dass zumin­dest einmal für einen Tag kein CO2 aus den Schorn­steinen von RWE kommt.“ Wie Rosa Parks will er nicht nur dafür prote­stieren, dass sich die Umstände ändern, sondern er will die Ände­rung in der Welt realisieren.

Und wie recht­fer­tigt das ‚offi­zi­elle‘ Ende Gelände den Aufruf zur ille­galen Aktion? „Der 1.5°C-Sonder­be­richt des Welt­kli­ma­rats hat es deut­lich gesagt: Es geht nur mit dem sofor­tigen Kohle­aus­stieg. Wir lassen uns nicht länger hinhalten, sondern setzen den sofor­tigen Kohle­aus­stieg selber um”, meint Selma Richter, Pres­se­spre­cherin von Ende Gelände. Und wenn die 91 AutorInnen dieses Sonder­be­richts nicht alle total daneben liegen mit ihren Berech­nungen, dann wird die Geschichte mit hoher Wahr­schein­lich­keit aus den mutmass­li­chen Geset­zes­bre­che­rInnen von Ende Gelände viele kleine Rosa Parks machen.

PS: Wir haben nicht nur Akti­vi­stInnen gefragt, wie und unter welchen Umständen ziviler Unge­horsam gerecht­fer­tigt ist, sondern auch den Ener­gie­riesen RWE und einen Experten. Mehr über die kurze, aber viel­sa­gende Antwort von RWE und was ein Philo­soph zu den ganzen Aktionen sagt, erfährst du im näch­sten Artikel.

*Um die Inter­view­part­ne­rInnen vor allfäl­ligen juri­sti­schen Konse­quenzen zu schützen, wurden die Namen der befragten Personen von der Redak­tion geändert.

 


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