Bahnbillette sind teuer, für Asylsuchende zu teuer. Deshalb sitzt Okan Manav im Mietauto und fährt von Zürich nach Luchsingen ins Glarnerland. Er wird dort etwas tun, das der Kanton Glarus sinnvoll findet und der Kanton Zürich überflüssig: Er wird in ein Asylzentrum gehen und den Asylsuchenden erklären, wie das Schweizer Asylsystem funktioniert. Manav, und das ist vielleicht noch merkwürdiger, tut dies nicht als Angestellter des Staates, sondern als NGO-Mitarbeiter. Er arbeitet für die Regionalstelle Zürich des Hilfswerks Evangelische Kirchen Schweiz (kurz: HEKS) und leitet dort das Projekt infoRefugees. Mit Inkrafttreten des neuen Asylverfahrens – voraussichtlich 2019 – soll diese Aufgabe dann vom Bund übernommen werden. Bis dato aber sind Asylsuchende auf die Unterstützung von Leuten wie Manav angewiesen.
An der heutigen Veranstaltung verfolgt Manav zwei Ziele: Erstens kämen viele Asylbewerberinnen und ‑bewerber zum falschen Zeitpunkt in die individuelle Rechtsberatung. Entweder zu früh, noch bevor sie überhaupt rechtliche Massnahmen ergreifen können, oder aber sie haben die Rekursfrist bereits verpasst. Und zweitens würden häufig die gleichen Fragen gestellt, vor allem hinsichtlich des Familiennachzugs. „Sie sehen“, gesteht er unumwunden ein, „unser Ausflug ist nicht ganz selbstlos. Wir versuchen auch, unsere Arbeit effizienter zu gestalten.“
Zu lange und komplizierte Asylverfahren
Bei der Mehrzweckhalle in Luchsingen erwartet uns Robert Schmid, der Leiter der kantonalen Asylzentren. Der Aufenthaltsraum ist innert weniger Minuten bis auf den letzten Platz besetzt: Asylsuchende, kantonale MitarbeiterInnen – aber auch freiwillige HelferInnen aus dem Dorf, die mehr über das Asylverfahren lernen möchten. Manav schliesst schnell den Laptop an und legt los. Zunächst erklärt er die einzelnen Schritte des Asylverfahrens, dann, was es mit den verschiedenen Asylentscheiden und dem Aufenthaltsstatus auf sich hat. Für den Schluss spart sich Manav das Thema Familiennachzug auf. Nach zwei, drei Sätzen legt er jeweils eine kurze Pause ein, damit die DolmetscherInnen die Präsentation in fünf Sprachen (Arabisch, Tamil, Persisch, Kurdisch (Sorani) und Englisch) übersetzen können.
Die Erklärungen Manavs klingen logisch. Aber in der darauffolgenden Fragerunde wird schnell klar: Was auf dem Papier noch halbwegs nachvollziehbar scheint, entpuppt sich in der Praxis als Farce. Ein junger Somalier möchte wissen, wie lange man auf einen Asylentscheid warten müsse. Manav antwortet ihm, dass das Verfahren eigentlich innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein sollte. Ausserdem sollte zwischen der ersten Befragung, in der das zuständige Aufnahmeland im Schengen-Raum ermittelt wird, und der zweiten, in der die Asylgründe angehört werden, nicht mehr als ein Jahr verstreichen. Als die ÜbersetzerInnen diese Information weitergeben, wird es unruhig im Saal. Der grösste Teil der Anwesenden wartet bereits länger auf das Verdikt des Staatssekretariats für Migration. Verwirrt fragen einige, welche Massnahmen sie denn nun ergreifen könnten. Für diese Fälle empfiehlt Manav, die individuelle Rechtsberatung zu konsultieren.
Warten bis zum Wahnsinn
Eine Präsentation über die Grundlagen des Schweizer Asylverfahrens – das ist nett und gut, aber hilft das den Flüchtlingen wirklich weiter? Murtaza, ein junger Mann, sitzt in einer Gruppe von AfghanInnen und schüttelt den Kopf. Er hat bereits zwei Mal einen negativen Asylentscheid erhalten. An die Veranstaltung kam er mit der Erwartung, jemand könne ihm hier weiterhelfen. Die Übersetzerin findet das tragisch und fügt an: „Wir können auch nicht mehr machen, als die Leute hier über das Asylverfahren zu informieren.“
Aber nicht alle sind Murtazas Meinung. Zum Beispiel Safi Hameedullah. Er befindet sich noch in einem laufenden Verfahren: 2015 kam er in die Schweiz, seit 21 Monaten wartet er auf die zweite Befragung. Nun kenne er die Fristen und wisse, dass er sich in Bern über den Stand des Verfahrens erkundigen könne. Ähnlich sieht es der Somalier Mohamed Abdullaahi Abdi. Er sei schon seit bald zweieinhalb Jahren hier. Vor sechs Monaten habe er die zweite Befragung gehabt. Seitdem habe er nichts mehr gehört. „Here I have nothing to do – only 90 minutes German lesson per week.“
90 Minuten Deutsch-Lektionen pro Woche in einem 598-Seelen-Dorf im Kanton Glarus als einzige Beschäftigung – „das macht selbst die Stärksten hier psychisch kaputt”, sagt auch der Iraker Hussein Faghe Harem. Er kam vor etwa zwei Jahren in die Schweiz und hatte etwas Glück: Die vergangenen vier Monate konnte er im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms in einer Gärtnerei arbeiten. Dieses laufe aber nur noch bis im Herbst, dann gehe das Warten wieder von vorne los. Robert Schmid, der Leiter der kantonalen Asylzentren, sagt, man versuche dieses Angebot an Beschäftigungsprogrammen auszubauen. Dazu brauche es allerdings Zeit, denn die neu angebotenen Stellen dürfen das lokale Gewerbe nicht konkurrenzieren und müssen vom kantonalen Arbeitsamt abgesegnet werden.
Der Kanton Zürich verweigert den Zutritt
Der Anlass war beeindruckend. Manav hat es geschafft, in nur 90 Minuten zumindest oberflächlich die Struktur des Asylverfahrens zu erläutern. Für Leute, die weder Deutsch noch Englisch sprechen und die sich täglich in diesem juristischen Labyrinth zurechtfinden müssen, ist das viel wert.
Umso merkwürdiger scheint da, dass das kantonale Sozialdepartement Zürich Manav und dessen Team den Zutritt zu den Durchgangszentren verweigert. Wieso will Zürich nichts von dieser Hilfe wissen?
Ruedi Hofstetter, Amtschef des Zürcher Sozialdepartements, sagt, man regle den Zugang zu den Durchgangszentren seit Jahren zurückhaltend. Würde man die unzähligen Anfragen berücksichtigen, könne man den normalen Betrieb nicht mehr gewährleisten. Zudem gelte es, die Persönlichkeitsrechte der BewohnerInnen zu beachten und zu respektieren. Schliesslich sei noch anzuführen, „dass die Betreiber der kantonalen Durchgangszentren das von Ihnen [gemeint ist das HEKS, Anm. d. Red.] angebotene Informationsprogramm bereits abdecken. Es gilt also auch, Doppelspurigkeiten zu vermeiden.“
Doppelspurigkeit, das ergibt wirklich wenig Sinn. Daher wollte ich von den beiden Betreibern der Asylzentren, den Unternehmen ORS und AOZ wissen, inwiefern sich ihre Informationsangebote mit jenen des HEKS überschneiden. Antwort: Gar nicht!
Erstere schreibt: „Die ORS bietet keine Rechtshilfe in den von uns betreuten kantonalen Durchgangszentren an.“ Dies gelte auch für generelle Informationsveranstaltungen zum Asylverfahren. Die ORS habe einen Auftrag vom Kanton erhalten und verhalte sich dabei politisch und religiös neutral. Die Betreuungsarbeit werde daher strikt von der Beratung zum Asylverfahren getrennt. Rechtsberatungen für Asylsuchende würden im Kanton Zürich „beispielsweise von der HEKS-Beratungsstelle für Asylsuchende, der Freiplatzaktion Zürich oder der Rechtsauskunft Anwaltskollektiv angeboten.“
Ähnliches lässt die AOZ verlauten: „Grundsätzlich besteht das Informationsangebot der AOZ-Mitarbeitenden darin, die Bewohnerinnen und Bewohner auf Gratis-Beratungsangebote in Zürich aufmerksam zu machen, wie beispielsweise die Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende ZBA oder die Freiplatzaktion.“ Und weiter: „Soweit uns bekannt ist, hat das Hilfswerk HEKS im letzten Jahr angedacht, mobil in Durchgangszentren anwesend zu sein und so Rechtsberatungen vor Ort anzubieten.“ Diese hätten aber bis anhin nicht stattgefunden.
Zusammengefasst heisst das also: Das HEKS kann in den Zürcher Durchgangszentren keine Informationsveranstaltungen zur Rechtslage im Asylverfahren durchführen, weil das kantonale Sozialdepartement unter anderem glaubt, die beiden Betreiberinnen der Asylzentren, ORS und AOZ, würden bereits solche Beratungen durchführen. Diese aber sagen, sie beschränkten sich darauf, auf Angebote Dritter wie jene des HEKS zu verweisen. Das HEKS kann aber nicht, da das Sozialdepartement ihm den Zutritt verweigert. Irgendwie geht das nicht auf.
Wie bringt man den Kanton Zürich zum Einlenken?
Auf diese Unstimmigkeiten angesprochen, schreibt Hofstetter: „Ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen schon geschrieben habe,“ und führt wiederum den eingeschränkten Betrieb sowie die Persönlichkeitsrechte an. Gerade letzteres Argument bleibt wenig überzeugend. Schliesslich hat der Kanton die Betreuung der Asylzentren schon an Dritte abgegeben und dafür eine Regelung über die Persönlichkeitsrechte finden müssen. Eine solche Vereinbarung, welche die Persönlichkeitsrechte regelt, könnte auch mit dem HEKS getroffen werden. Und wenn ORS und AOZ schon auf die Angebote des HEKS verweisen, könnte diesbezüglich sicherlich auch eine bilaterale Einigung über den Zutritt und die Nutzung getroffen werden.
Immerhin behauptet Hofstetter nicht mehr, der Kanton würde das Angebot des HEKS abdecken. Deshalb fragte ich ihn, „ob Sie nun – da Sie mittlerweile wissen, dass die Betreiber der Durchgangszentren entgegen Ihrer erster Annahme vom 12.9. keine Informationsangebote durchführen – so ein Angebot in Rücksprache mit der AOZ oder ORS zukünftig anbieten werden?“ Nein, das sei nicht ihre politische Aufgabe, erklärt mir Hofstetter per Telefon. Es gebe genügend andere Angebote und Räume. Zudem trete ja bald die Asylrevision in Kraft, dort sei dies geregelt. „Bald“ ist wie so oft relativ zu verstehen. In diesem Fall bedeutet „bald“ frühestens 2019.
Ende Jahr geht Hofstetter in Pension. Die Hoffnung liegt dann auf seiner Nachfolgerin Andrea Lübberstedt. Denn eine allgemeine und koordinierte Informationsveranstaltung zu Beginn des Asylverfahrens bündelt die Ressourcen der NGOs, verhindert Leerläufe und Doppelspurigkeiten. Für das Projekte infoRefugees kommt diese Personalrochade allerdings zu spät. Das HEKS versenkt den Zürcher Teil seines Projektes nächstes Jahr in der Limmat. „Der logistische und finanzielle Aufwand ist zu gross“, sagt Manav. „Wir haben auch nur begrenzte Ressourcen und müssen mit denen die grösstmögliche Wirkung erzielen.“ Für die AsylbewerberInnen in Zürich heisst das, dass sie sich im Asylverfahrensdschungel künftig wieder selber einen Ausweg suchen müssen.
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