Warum Mädchen nicht wissen müssen, wie man einen Fahr­rad­reifen repariert.

Das ist natür­lich absurd. Und gefähr­lich. Trotzdem setzt das soge­nannte Gender-Marke­ting auf genau solche Botschaften, um möglichst viele neue Produkte spezi­fisch an den Mann oder an die Frau zu bringen. Das Lamm fragt sich: Was hat das Geschlecht in der Suppe zu suchen? 
Schon in frühem Alter werden Rollenbilder zementiert (Foto: Alesia Kazantceva / Unsplash)

Mein Göttibub durfte sich sein Weih­nachts­ge­schenk selbst aussu­chen – also ging ich mit ihm in die nächst­ge­le­gene Buch­hand­lung. Die Entschei­dung war nicht schwer: Seine Wahl fiel auf das Buch 100 Dinge, die ein Junge wissen muss.

Verständ­lich, das Buch ist cool. Es wird darin kinder­ge­recht erklärt, wie man eine geheime Botschaft versendet, sich eine Holun­der­pfeife baut oder einen Fahr­rad­reifen repa­riert. Gleich daneben lag noch ein weiteres Buch desselben Verlags mit dem Titel 100 Dinge, die ein Mädchen wissen muss: eine Samm­lung von Rezepten, Schön­heits­tipps und Deko-Ideen. Ich stutzte und schrieb sogleich den Bücher-Gross­händler mit der Bitte an, mir zu erklären, wieso seiner Meinung nach Jungen und Mädchen so funda­mental unter­schied­liche Dinge „wissen müssen“. Leider erhielten wir von Orell Füssli keine Stellungnahme.

Viele Kinder malen gerne aus. Mädchen am lieb­sten das „wunder­schöne Mädchen-Malbuch“ mit Torten und Schmet­ter­lingen, Jungen hingegen das „bril­li­ante Buben-Malbuch“ mit Wikin­ger­helmen und Raum­schiffen. Was war wohl zuerst: Das unter­schied­liche Grund­in­ter­esse oder das doppelte Verkaufs­po­ten­zial? (Screen­shot Amazon)

Suppen für Glamour-Queens und Champions

Das Buch, das sich mein Göttikind ausge­sucht hat, ist kein Einzel­fall. Zahl­reiche Produkte, die wir einkaufen können, werden geschlech­ter­spe­zi­fisch vermarktet. So kann man etwa Gurken für Mädchen im rosa und für Jungs im blauen Glas kaufen. Es gibt rosa Mädchen­bat­te­rien oder einen Atlas in rosa Fassung für Mädchen, in blauer für Jungs. Man spricht hierbei von Gender-Marketing.

Für ein beson­ders absurdes Beispiel zeigt sich die Migros verant­wort­lich: Sie bietet neu die vegane „Glamour Queen Soup“ in pinker Verpackung, mit dürrer, kronen­tra­gender Königin für Mädchen und die fleisch­hal­tige „Cham­pion Soup“ mit einem Fuss­baller auf blauem Hinter­grund für Jungen an.

In den sozialen Medien sorgte dieser vermeint­liche Migros-Genie­streich für viel Kopf­schüt­teln. Die Firma zeigt sich dennoch unein­sichtig. (Screen­shot migros.ch)

Was soll das? Wieso sollten Mädchen und Jungs unter­schied­liche Suppen gern mögen? Wir haben bei der Migros nach­ge­fragt. Sie erklärt das so:

Wir haben zwei Suppen für ältere Kinder entwickelt, da wir bei den Suppen gene­rell eine Über­al­te­rung der Kund­schaft haben. Wir haben bereits eine „Tierli-Suppe“ im Sorti­ment, welche sich aber aufgrund der Teig­wa­ren­fi­guren und der Comics auf der Verpackung eher an klei­nere Kinder richtet. Dort haben wir jedoch fest­ge­stellt, dass dieses Produkt sehr gut verkauft wird […] und im Falle der Glamour- und Cham­pion-Suppe den Eltern hilft, die Kinder zu über­zeugen, eine gesunde Suppe gerne zu essen.

Wenn man versucht, Produkte für ältere Kinder zu entwickeln, kommt man sehr rasch in eine solche gender­spe­zi­fi­sche Thematik rein. Wir haben jeden­falls kein glaub­wür­diges (und auch mit einer Suppe umsetz­bares) Thema gefunden, das ältere Jungs und Mädchen gleich­zeitig ange­spro­chen hätte. Vermut­lich kann man in jedem Spiel­wa­ren­ge­schäft eine ähnliche Schluss­fol­ge­rung ziehen.

Wir haben nicht speziell darauf geachtet, dass wir für die Glamour-Suppe eine vegane Rezeptur verwendet haben – wir streben bei allen unseren Suppen an, wenn immer möglich darauf hin zu arbeiten, sie vegan oder vege­ta­risch zu gestalten und dies so zu kenn­zeichnen, sofern dies im Rahmen des Konzeptes keine Auswir­kungen auf den Geschmack oder die Textur hat.

Da die bereits bestehende „Tierli-Suppe“ eine Gemü­se­bouillon mit Teig­wa­ren­ein­lage ist, wurde entschieden, für die Cham­pion-Suppe eine Hühner­bouillon zu verwenden, damit es nicht eine 1:1 gleiche Suppen­grund­lage mit Teig­wa­ren­ein­lage darstellt und so eine Geschmacks­va­rietät gibt.

Wir gehen solche Themen relativ entspannt an. Die Produkte, die wir entwickeln, gehen vor der Einfüh­rung durch einige Hände und werden auch in den Fami­lien der betei­ligten Personen begut­achtet und verko­stet. Wenn sie dann auf Anklang stossen, wird von einem Gremium von Regio­nen­ver­tre­tern und ‑vertre­te­rinnen entschieden, ob die Produkte so ins Sorti­ment einge­führt werden können.

Wir möchten mit unseren Produkten keine Politik machen oder State­ments abgeben. Wir bilden nur die Wünsche und Bedürf­nisse unserer Kund­schaft ab und verkaufen, was nach­ge­fragt wird. Sollten diese zwei  Suppen wider Erwarten nicht gut abver­kauft werden, verschwinden sie relativ rasch wieder von der Bildfläche.

Die Migros schiebt die Verant­wor­tung also bequem an die Konsu­men­tInnen ab – und bezeichnet ihre Marke­ting­mass­nahme als apolitisch.

Uta Brandes, bis 2015 Profes­sorin für Gender und Design an der Kölner Inter­na­tional School of Design, sieht das anders. „Geschlecht­lich reflek­tiertes Design“ sei immer auch poli­ti­sches Design, sagt sie gegen­über der Website Design Made in Germany. Denn „wenn die Gestal­tung von Produkten, Zeichen, Dienst­lei­stungen gender­sen­sibel wäre, dann würden sich ja auch Verhal­tens- und Umgangs­weisen von Nutze­rinnen und Nutzern ändern; das wiederum würde auch ihre Einstel­lungen lang­fri­stig tangieren/verändern“. Die Gestal­tung von Produkten habe also einen Einfluss auf die Gesell­schaft und sei deshalb poli­tisch. Wenn die Migros behauptet, nur die Wünsche und Bedürf­nisse der Kund­schaft abzu­bilden, macht sie es sich zu einfach: Das Thema ist komplizierter.

Gender-Marke­ting bei Kindern

Mit dem Gender-Marke­ting für Kinder, wie es etwa von der Migros betrieben wird, werden die Kinder von früh auf mit den gängigen Klischees der ihnen zuge­schrie­benen Geschlech­ter­rolle konfron­tiert – und sie iden­ti­fi­zieren sich mit der Botschaft auf der scheinbar auf sie zuge­schnit­tenen Ware. Die Rollen­bilder werden zemen­tiert, und so trägt die Prin­zes­sin­nen­suppe ihren Teil dazu bei, dass den Kindern die Möglich­keit geraubt wird, sich frei nach ihren persön­li­chen Inter­essen zu entwickeln.

Proble­ma­tisch ist aber nicht nur, dass die Kinder sich schon von klein auf mit Gender­normen über­haupt iden­ti­fi­zieren müssen. Proble­ma­tisch sind auch die Normen selbst: Während bei den ‚Buben-Produkten‘ oft charak­ter­liche Eigen­schaften hervor­ge­hoben werden wie zum Beispiel bei einem Duschgel von duschdas für „mutige“ Jungs, schäumen sich Mädchen mit dem „wunderschön“-Gel ein. Die Chan­cen­gleich­heit wird ihnen somit sorg­fältig und sanft abge­schrubbt und verrinnt im Abfluss.

In der T‑Shirt-Abtei­lung haben die Mädchen die Wahl zwischen Drucken mit den Worten „cute“, „prin­cess“ oder „supers­weet“, während die blauen T‑Shirts mit Wörtern wie „strong“, „cool“ oder „hero“ glänzen. Oder eben nicht glänzen. Die Blauen haben ja keinen Glitzer drauf.

Bei Lebens­mit­teln wie der Migros-Suppe ist das beson­ders verhee­rend: Während es für Männer oft deftig, kräftig, würzig sein darf, gibt es für Frauen die kalo­rien­arme, leichte Alternative.

Welche darf es denn sein? Kräftig oder lieb­lich? Das gegen­derte Gurken­glas nimmt uns die Entschei­dung gleich selbst ab: Kräftig für Buben, lieb­lich (und rosa) für Mädchen. Das ist im Kleinen viel­leicht lächer­lich und dumm, als eigener Wirt­schafts­zweig jedoch proble­ma­tisch. (© Lisa, Deut­sches Kinderhilfswerk)

Wir-Gefühl und Zugehörigkeit

In der brei­teren Öffent­lich­keit werden mehr Frauen in Kader­po­si­tionen gefor­dert. Derweil wird ihnen von klein auf einge­trich­tert, alles, was sie zu sein brau­chen, sei süss, schlank, rosa gekleidet und mit Glitzer bespren­kelt. Dass nega­tive Erwar­tungen zu schlech­teren Ergeb­nissen führen, ist bewiesen. Trotzdem hört man ein Leben lang, Männer seien nun mal einfach besser im Lampen-Montieren, in Mathe­matik oder darin, eine Firma zu leiten. Der Auftrag, den Kindern zu vermit­teln, worauf es grund­sätz­lich ankommt, wird damit klar verfehlt. Dieser würde lauten: Das Geschlecht ist im Hinblick auf deine Inter­essen, Fähig­keiten oder Ziele ebenso egal wie deine Haut­farbe, deine Grösse oder Herkunft.

Statt­dessen führt die stän­dige Tren­nung der zwei Geschlechter dazu, dass inner­halb der Gruppe ein Wir-Gefühl entsteht. Sich dem zu entziehen, ist prak­tisch unmög­lich: Gegen­derte Ware ist allge­gen­wärtig; bei den unbe­deut­sam­sten Einkäufen wird man dazu gezwungen, sich auf eine Seite zu stellen und sich damit von der anderen und ihren jewei­ligen Vorlieben zu distan­zieren. So befeuert Gender-Marke­ting die Iden­ti­fi­ka­tion mit den jewei­ligen Geschlech­ter­ka­te­go­rien und sorgt gleich­zeitig für deren starres Weiterbestehen.

Das hat Folgen: Unser Selbst­wert­ge­fühl hängt stark mit der Gruppe zusammen, mit der wir uns iden­ti­fi­zieren. Wie zuge­hörig zur Gruppe „Frau“ bin ich also noch, wenn ich mir die Beine nicht göttin­nen­gleich in einem Natur­pool rasiere, ich nicht immer nach Veil­chen rieche und sich an meinem Bauch Rollen bilden, wenn ich mich setze? Indem Gender-Marke­ting diese Iden­ti­fi­ka­tion fördert, wird den Normen mehr Nach­druck verliehen.

Die ökono­mi­sche (Un)vernunft

Diese erzwun­gene Iden­ti­fi­ka­tion kann sodann ökono­misch ausge­schlachtet werden. Zum Beispiel bei den Rasier­ap­pa­raten: Während die Ausstat­tung sich nur minim unter­scheidet, sind Rasierer „für Frauen“ deut­lich teurer als jene „für Männer“. „Pink Tax“ nennt sich diese unsicht­bare Steuer. Das kann man sich erlauben, schliess­lich kann davon ausge­gangen werden, dass die Käufe­rInnen trotzdem das Produkt kaufen, das für dieje­nige Gruppe vorge­sehen ist, mit der sie sich iden­ti­fi­zieren. Da Frauen gene­rell auch noch weniger verdienen als Männer, ist das doppelt unfair.

Der Rasierer ist nur ein Beispiel: Es gibt zahl­reiche weitere Produkte, bei denen ohne ersicht­li­chen Grund ein Unter­schied zwischen weib­li­cher und männ­li­cher Anwen­dung gemacht – und für die ‚Frau­en­ver­sion‘ deut­lich mehr verrechnet wird. Aber natür­lich ist es auch ohne die pinke Steuer für die Firmen lukrativ, auf Gender-Marke­ting zu setzen: Es lohnt sich, gleich zwei Produkte auf den Markt bringen zu können. Für den kleinen Max war es damals schliess­lich auch nicht dasselbe Leselern­buch wie für Klein-Made­leine, wieso sollten sie sich dann als Erwach­sene mit demselben Rasierer (sprich: in Plastik einge­las­sene Metall­klingen zur Haar­ent­fer­nung) oder demselben Duschgel (sprich: Seifen­lö­sung zur Körper­hy­giene) zufriedengeben?

 


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