1962 eröffnete in Zürich Altstetten der Baumeisterverband die Wohnbaracken des heutigen Juch-Areals. Im Zuge des Wirtschaftswachstums der damaligen Jahre brauchte die Schweiz dringend Arbeitskräfte. „Ohne Gastarbeiter*innen wäre der Wirtschaftsaufschwung und der Aufstieg vieler Schweizer Arbeiter*innen in die Mittelschicht nicht möglich gewesen“, sagt der Migrations- und Rassismusforscher Rohit Jain. Untergebracht wurden die Arbeiter*innen aus Italien an allen möglichen Orten – in Häusern, die kurz vor dem Abriss standen, oder in baufälligen Holzbaracken.
Schon damals wurde Kritik an dieser Praxis geäussert. Etwa vom Politiker Hans Hilfiker vom Landesring der Unabhängigen, den die Neuen Zürcher Nachrichten bei der Eröffnung der Baracken zitierten. Er kritisierte die strikte Trennung nach Nationalität der Arbeiter*innen. Während für Schweizer*innen genossenschaftlicher und kommunaler Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde, mussten migrierte Arbeiter*innen in Notlösungen und Abbruchhäusern unterkommen. Eine dieser Unterkünfte waren die Baracken auf dem Juch-Areal.
Ausländische Arbeiter*innen wurden nicht als Teil der Gesellschaft angesehen. Ihre Anwesenheit wurde höchstens geduldet. Jegliche Teilhabe am sozialen Leben wurde ihnen erschwert oder gar verunmöglicht. „Gastarbeiter*innen waren oft in Baracken unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht“, sagt Rohit Jain, „ihre Familien durften nicht nachziehen, sie wurden aus Geschäften und öffentlichen Räumen verwiesen und tagtäglich beleidigt.“
Viele dieser Diskriminierungen, in erster Linie die schlechte Wohnsituation, seien damals eigentlich bekannt, aber Überfremdungsangst und Technokratie politisch stärker gewesen. „Besonders tragisch war der politische Wille, den Familiennachzug zu verbieten, um eine Niederlassung von Gastarbeiter*innen zu verhindern“, sagt der Sozialanthropologe. Die damit verbundenen Traumata in betroffenen Familien würden bis heute nachwirken. Die offizielle Schweiz hat sich dafür nie entschuldigt. Jain: „Das ist ein Skandal!“
Die neue Nutzung
Die Baracken auf dem Juch-Areal wurden 2006 von der Asylorganisation Zürich (AOZ) übernommen. Sie brachte dort bis zu 250 Menschen unter. Bis 2013 lebten dort zusätzlich noch 50 portugiesische Arbeiter*innen. Danach wurden die Baracken zum Testbetrieb für das neue Bundesasylzentrum umgenutzt. „Schritt um Schritt zum geschlossenen Zentrum“, titelte eine Medienmitteilung der Menschenrechtsorganisation Augenauf im Jahr 2014. Die unnötige Kasernierung so vieler Menschen auf so kleinem Raum würde unweigerlich zu Konflikten führen, so die Organisation.
Im Oktober 2019 zog das Bundesasylzentrum nach Zürich West um. Prompt gerieten die dortigen Verhältnisse in Kritik, die aber bald wieder verpuffte. Am Ende des gleichen Monats wurde das Juch-Areal schliesslich besetzt. Anders als die Stadt, welche die Baracken schnellstmöglich dem Erdboden gleichmachen will, machen die Besetzer*innen seit Beginn ihrer Nutzung auf die Geschichte der Baracken aufmerksam.
Und auch diese Fotoreportage möchte einen Teil der Geschichte und der Gegenwart eines Ortes festhalten, der jetzt wohl für immer verschwinden wird.
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