Gott bewahre uns vor dieser Kolumne!

Auf nau.ch schreibt ein Frei­kirchler darüber, wie into­le­rant es sei, sich gegen den Marsch für’s Läbe auszu­spre­chen. Seine Meinung. Dass seine Kolumne und der Marsch unfun­dierter, pathe­ti­scher Unfug sind, ist die Meinung unserer Autorin. Eine Gegendarstellung. 

Warum der Auflauf von Fundamentalist*innen mit der irre­füh­renden Selbst­be­zeich­nung „Marsch fürs Läbe” und dessen Exponent*innen ziem­lich scheisse sind, habe ich an dieser Stelle vor ziem­lich genau einem Jahr darge­legt. Aus dem Shits­torm, der sich daraufhin – und ich rede mir gerne ein, dass es zumin­dest teil­weise auch mein Verdienst war – vor allem gegen den Schoko-Riesen Läderach erhob, resul­tierte, dass die Namen der Familie von der Website des Marsches verschwanden. Davon abge­sehen hat sich eigent­lich nichts geändert.

Wir erin­nern uns: Orga­ni­siert wird der Marsch immer noch vom homo­phoben SVP-Poli­tiker (und neuer­dings auch Corona-Skep­tiker) Daniel Regli. Feder­füh­rend ist immer noch die isla­mo­phobe, trans*feindliche und frau­en­ver­ach­tende Stif­tung zukunft.ch. Immer noch werden Menschen, beson­ders Kinder, mit Behin­de­rung für die Zwecke der selbst­er­nannten Lebensschützer*innen instru­men­ta­li­siert. Immer noch kämpfen diese Menschen für die einzig wahre Kern­fa­milie, den Ort also, an dem die meiste Gewalt sexua­li­sierter wie physi­scher und psychi­scher Natur statt­findet. Noch immer kämpfen sie für eine Welt, in der die Frau als Gebär­ma­schine dem Mann unter­stellt ist und Homo‑, Inter- oder Trans­se­xu­elle höch­stens im christ­li­chen Märchen­buch einen Platz haben. Wahr­schein­lich nicht mal dort.

Immer noch – und das wird sich wohl nicht mehr ändern, solange sich die Erde um die Sonne dreht – verbreiten die Fundamentalist*innen Lügen und falsche Tatsa­chen zu Abtrei­bungen und zur Entwick­lung des Fötus.

Ohne Zweifel: Meine Posi­tion zum Marsch fürs Läbe ist verhärtet. Umso grösser war meine Über­ra­schung, als ich eine Pro-Marsch-fürs-Läbe-Kolumne von nau.ch, einem mir bisher eher als „mittig” bekannten Medium, zuge­schickt bekam. Gut, gegen einen anderen Blick­winkel ist an sich nichts einzu­wenden. Dachte ich. Doch dann beginnt die Kolumne mit dem Titel „Zu into­le­rant für den ‚Marsch fürs Läbe’?” so:

„Immer wieder eindrück­lich, wieviel [sic] Wut und Hass es auslösen kann, wenn sich Menschen gegen Abtrei­bung wehren. Man darf in Zürich für fast alles demon­strieren. Aber wehe, wenn die Abtrei­bungs­gegner kommen und für das Leben marschieren. (…) Ist es der ‚Marsch fürs Läbe’ nicht wert, dass man ihn schützt? Darf man nicht gegen Abtrei­bung sein? Wo ist die Tole­ranz der Toleranten?”

Meine Nacken­haare stellten sich auf. „Die Tole­ranz der Tole­ranten”, diese Formu­lie­rung war mir bisher nur aus den Kommen­tar­spalten von 20 Minuten bekannt. Und der Verfasser dieser Worte: Ein weisser hete­ro­se­xu­eller cis-Mann, laut Autoren­be­schrieb „verhei­ratet und Vater von zwei Buben”. Weiter heisst es: „Mit seiner Familie besucht er die Frei­kirche FEG Wetzikon (…) Er liebt seine Familie, seine Kirche, Guin­ness, Fuss­ball, Darts, den EHC Wetzikon, Preston North End und vor allem Jesus Christus.”

WOW.

Im schnelllebigen Gratis­me­dien-Zirkus ist es natür­lich schon schwierig, sich inno­vativ hervor­zutun. Nau.ch meint, das mit den Kolumnen des Zürcher Ober­län­ders Sam Urech tun zu können. Wöchent­lich schreibt der – Achtung – „Halle­luja-Kolum­nist” für das Gratisportal über seine – Zitat – „unver­schämt altmo­di­schen Ansichten”. In seiner Kolumne zum Feiertag am 1. August „dankte” Urech „Gott für dieses Land”. Keine Pointe.

Nun kann man natür­lich denken: Zwischen Sex, Drogen und Film­chen von Gewalt­ex­zessen der Jugend, die sonst die Gratis­me­dien füllen, hat sich nau.ch mit den wöchent­li­chen Wort­mel­dungen eines Frei­kirch­lers wirk­lich einen publi­zi­sti­schen Stunt gegönnt. Aber dann dachte ich: Nau.ch ist nicht jesus.ch.

In seinem neusten Erguss ener­viert sich Urech nun also darüber, wie into­le­rant die bösen Linken mit dem Marsch fürs Läbe umgehen.

Doch wer jetzt Hoff­nung auf einen substan­ti­ellen Beitrag zur Debatte über demo­kra­ti­sche Rechte erwartet hat, wird enttäuscht: In seiner Kolumne sinniert Urech über das Lebens­recht von Kindern mit Behin­de­rung, wobei er den Zynismus seiner Ausein­an­der­set­zung nicht einmal dann zu begreifen scheint, wenn er fest­hält, dass er als „Vater von zwei gesunden Buben” ja gut reden hätte. Mit Blick auf „Paare in seinem Umfeld” kommt er wenig­stens zum Schluss, keine Frau verur­teilen zu wollen, die eine Abtrei­bung vornimmt.

Denn Verur­tei­lungen seien gene­rell etwas ganz Schlimmes. Das führt er anhand des Beispiels eines zehn­jäh­rigen Verge­wal­ti­gungs­op­fers aus Brasi­lien aus. Das Mädchen wurde von evan­ge­li­kalen Fundamentalist*innen beschimpft, verfolgt und terro­ri­siert, nachdem ihr Name an die Öffent­lich­keit gelangt war. Brasi­lien hat ein extrem repres­sives Abtrei­bungs­recht. Dass das Mädchen die Abtrei­bung über­haupt vornehmen durfte, war also kein Spazier­gang, sondern ein Kampf. Kein Wort von Urech dazu.

Ihren Tief­punkt hat Urechs Kolumne damit aber noch nicht erreicht. Denn aus der Into­le­ranz und dem Hass, die der verge­wal­tigten Minder­jäh­rigen entge­gen­schlagen, leitet Urech die rheto­ri­sche Frage ab: „Genau so sollten sich aber auch alle Akti­vi­sten, die den ‚Marsch fürs Läbe’ sabo­tieren wollen, mal folgendes [sic] über­legen: Darf man nur soli­da­risch mit der Mutter sein? Nicht auch mit dem Unge­bo­renen? Geht es beim Thema Abtrei­bung wirk­lich nur um Frau­en­rechte? Nicht auch um das Recht auf das Leben eines Kindes?”

Vor einigen Jahren trugen die selbst­er­nannten Lebensschützer*innen kleine Baby­särge durch die Strassen. 2018 verteilten sie auf dem Bundes­platz Plastikembryos.

„Warum sollten tole­rante Menschen gewalt­tätig werden, wenn andere Menschen ein Leben schützen wollen?”

Ich werde Urechs schein­hei­lige Frage an dieser Stelle nicht beant­worten. Der Einsatz im Namen des soge­nannten Lebens­schutzes im Fall des brasi­lia­ni­schen Mädchens wäre ein Ansatz für Reflexion.

Nau.ch, stampft dieses Format schnellst­mög­lich ein. Ganz into­le­rant. Bitte. Amen.

 


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