Darwi­ni­sti­sche Krisenbewältigung

In der Krise blät­tert der Firnis der Schweizer Höflich­keit ab. Darunter kommt ein Monster zum Vorschein, das diese Gesell­schaft schon immer beglei­tete: Der Sozi­al­dar­wi­nismus. Die erste Kolumne von Haus Destruktiv zu Corona und dem Schweizer Sonderweg. 
(Foto: Claudio Schwarz via Unsplash)

Eigent­lich hätte man nach Weih­nachten die Corona-Plakate des Bundes farb­lich der poli­ti­schen Gedan­ken­lo­sig­keit anpassen können. Grün hätte sich ange­boten, die Farbe des Christ­baums, die Farbe der Hoff­nung, die Farbe der Zuver­sicht. Schliess­lich setzte die Politik der Regie­rung seit der herbst­li­chen Eska­la­tion der Pandemie auf das Prinzip Hoff­nung: dass sich die Wissen­schaft irrt, dass die Gesetze der Mathe­matik ihre Gültig­keit verlieren, dass die Schweiz so wie noch immer besser durch die Krise kommt als ihre Nachbarn.

Statt­dessen blieben die Plakate rot, denn am Ernst der Lage ist trotz aller zur Schau gestellten Abge­klärt­heit nicht zu rütteln.

Bis zum 30. Dezember 2020 sind in der Schweiz laut Bundesamt für Gesund­heit (BAG) über 7’000 Menschen an Covid-19 gestorben. An diesem Tag publi­zierte die Regie­rung die letzte Mittei­lung des Jahres zur Kata­strophe. Der Bundesrat wolle an den geltenden Mass­nahmen fest­halten: „Nach einer detail­lierten Analyse der epide­mio­lo­gi­schen Situa­tion ist er zum Schluss gekommen, dass die für eine (…) Verschär­fung fest­ge­legten Krite­rien nicht erfüllt sind.”

Auf Anfrage gab das BAG damals bekannt, der Bundesrat habe für den 30. Dezember („und nur dann”) defi­niert, eine Mass­nah­men­ver­schär­fung werde in Betracht gezogen, wenn Folgendes gelte: „Die natio­nale effek­tive Repro­duk­ti­ons­zahl (Re) ist während drei aufein­an­der­fol­genden Tagen über 1.1 oder die Ausla­stung der IPS-Betten (auf natio­naler Stufe) ist höher als 90 %.” Dabei handle es sich aber um Richt­werte und nicht etwa um einen Automatismus.

Die watte­weich quali­fi­zie­rende Formu­lie­rung steht sinn­bild­lich für die Kommu­ni­ka­tion der Regie­rung über die gesamte Pandemie hinweg: Zwar zeigte sie sich staats­män­nisch entschlossen, bekun­dete aber den versam­melten Pressevertreter:innen gegen­über immer wieder aufs Neue, nicht handeln zu wollen. Wegen der Frei­heit­lich­keit. Wegen der „Eigen­ver­ant­wor­tung der Bürger”. Die offi­zi­ellen Verlaut­ba­rungen werden danach ausge­richtet, was man als poli­tisch notwendig verstehen will: Im Früh­ling nutzten Masken gar nichts, im Herbst selbst in engen Innen­räumen. Bars sind Seuchen­herde, für Home­of­fice braucht es ledig­lich eine Empfeh­lung. Kinder sind keine Treiber der Pandemie.

Heute Montag treten jetzt endlich härtere Mass­nahmen in Kraft. Am erra­ti­schen Verhalten der Landes­re­gie­rung während der letzten Monate ändert das aber nichts. Dabei zwischen Lüge und Acht­lo­sig­keit, zwischen Inter­esse und Fehl­ein­schät­zung zu unter­scheiden, fällt schwer. Worum es geht, zeigt sich, wenn man darauf achtet, was selten ausge­spro­chen wird: dass in der Schweiz gemessen an der Bevöl­ke­rungs­zahl mehr Menschen sterben als in den aller­mei­sten euro­päi­schen Ländern. Und dass dies der Preis ist, den man dafür zu zahlen bereit ist, die Wirt­schaft mit mini­malen Einschrän­kungen weiter­laufen zu lassen.

Davon verspricht man sich offenbar einen Konkur­renz­vor­teil gegen­über anderen Natio­nal­öko­no­mien, wie das der Dach­ver­band Econo­mie­su­isse im Früh­ling ausdrück­lich gefor­dert hatte. Gleich­zeitig gilt es, das urschwei­ze­ri­sche Prinzip des Mittel­wegs zu wahren, was in der Konse­quenz heisst, dass den Empfeh­lungen der Epidemiolog:innen das gleiche Gewicht beigemessen wird wie denen des Verbands der Skilift­betreiber:innen.

Zuweilen fallen Äusse­rungen, aus denen ersicht­lich wird, dass der mangelnde Wille zu eindäm­menden Mass­nahmen auch darin gründet, wer dem Virus mehr­heit­lich zum Opfer fällt. „Die hohen Todes­zahlen sind der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir die Wirt­schaft eini­ger­massen am Laufen erhalten”, sagte CVP-Natio­nalrat Alois Gmür am 30. Dezember zu 20 Minuten und ergänzte: „[I]st man über 80-jährig, muss man jeden Tag damit rechnen, dass das Leben einmal fertig ist.”

Noch deut­li­cher wurde der Zürcher FDP-Poli­tiker Marco Kiefer (vormals SVP) in einem nach grosser Empö­rung wieder gelöschten Tweet von Anfang Januar. Hier schlug die ökono­misch kalku­lie­rende Menschen­ver­ach­tung bereits in euge­ni­sche Reini­gungs­fan­ta­sien um: „Die Welt hat: zuviele über­ge­wich­tige, zuviele kranke Menschen, zuviele Menschen mit zu schwa­chen Immun­sy­stemen, zuviele hoch­be­tagte. Corona berei­nigt das jetzt. Ist das wirk­lich so schlimm und müssen wir die auf Teufel komm raus alle ‚gesund’ päppeln und am Leben erhalten?” (Recht­schrei­bung dem Original entsprechend.)

Die FDP distan­zierte sich umge­hend von ihrem Partei­mit­glied, die Medien skan­da­li­sierten den Fall. Was dabei aber unter den Teppich fällt: Es ist kein Zufall, dass mancher­orts so gedacht wird, aber nicht explizit so argu­men­tiert wird. In Krisen der bürger­li­chen Gesell­schaft droht der dünne Firnis der Zivi­li­sa­tion abzu­blät­tern. Darunter kommt der alte Sozi­al­dar­wi­nismus zum Vorschein, der diese Gesell­schaft der Leistung und Konkur­renz immer begleitet. Offen ausge­spro­chen wird er selten, weil er das Bild beschä­digt, das sich die Schweiz von sich selbst macht.

Einmal mehr zeigt sich in der Krise die Ultima Ratio bürger­li­chen Sach­ver­stands: Wer nicht (mehr) ökono­misch aktiv und leistungs­fähig ist, hat von der Gesell­schaft nichts mehr zu erwarten ausser der sanften Auffor­de­rung, durch ein zeitiges Ableben ihr Scherf­lein zum Wohl­ergehen der Schweizer Wirt­schaft beizu­tragen. Am besten mit Pati­en­ten­ver­fü­gung – dann reichen auch die Beatmungsplätze.