Eigentlich hätte man nach Weihnachten die Corona-Plakate des Bundes farblich der politischen Gedankenlosigkeit anpassen können. Grün hätte sich angeboten, die Farbe des Christbaums, die Farbe der Hoffnung, die Farbe der Zuversicht. Schliesslich setzte die Politik der Regierung seit der herbstlichen Eskalation der Pandemie auf das Prinzip Hoffnung: dass sich die Wissenschaft irrt, dass die Gesetze der Mathematik ihre Gültigkeit verlieren, dass die Schweiz so wie noch immer besser durch die Krise kommt als ihre Nachbarn.
Stattdessen blieben die Plakate rot, denn am Ernst der Lage ist trotz aller zur Schau gestellten Abgeklärtheit nicht zu rütteln.
Bis zum 30. Dezember 2020 sind in der Schweiz laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) über 7’000 Menschen an Covid-19 gestorben. An diesem Tag publizierte die Regierung die letzte Mitteilung des Jahres zur Katastrophe. Der Bundesrat wolle an den geltenden Massnahmen festhalten: „Nach einer detaillierten Analyse der epidemiologischen Situation ist er zum Schluss gekommen, dass die für eine (…) Verschärfung festgelegten Kriterien nicht erfüllt sind.”
Auf Anfrage gab das BAG damals bekannt, der Bundesrat habe für den 30. Dezember („und nur dann”) definiert, eine Massnahmenverschärfung werde in Betracht gezogen, wenn Folgendes gelte: „Die nationale effektive Reproduktionszahl (Re) ist während drei aufeinanderfolgenden Tagen über 1.1 oder die Auslastung der IPS-Betten (auf nationaler Stufe) ist höher als 90 %.” Dabei handle es sich aber um Richtwerte und nicht etwa um einen Automatismus.
Die watteweich qualifizierende Formulierung steht sinnbildlich für die Kommunikation der Regierung über die gesamte Pandemie hinweg: Zwar zeigte sie sich staatsmännisch entschlossen, bekundete aber den versammelten Pressevertreter:innen gegenüber immer wieder aufs Neue, nicht handeln zu wollen. Wegen der Freiheitlichkeit. Wegen der „Eigenverantwortung der Bürger”. Die offiziellen Verlautbarungen werden danach ausgerichtet, was man als politisch notwendig verstehen will: Im Frühling nutzten Masken gar nichts, im Herbst selbst in engen Innenräumen. Bars sind Seuchenherde, für Homeoffice braucht es lediglich eine Empfehlung. Kinder sind keine Treiber der Pandemie.
Heute Montag treten jetzt endlich härtere Massnahmen in Kraft. Am erratischen Verhalten der Landesregierung während der letzten Monate ändert das aber nichts. Dabei zwischen Lüge und Achtlosigkeit, zwischen Interesse und Fehleinschätzung zu unterscheiden, fällt schwer. Worum es geht, zeigt sich, wenn man darauf achtet, was selten ausgesprochen wird: dass in der Schweiz gemessen an der Bevölkerungszahl mehr Menschen sterben als in den allermeisten europäischen Ländern. Und dass dies der Preis ist, den man dafür zu zahlen bereit ist, die Wirtschaft mit minimalen Einschränkungen weiterlaufen zu lassen.
Davon verspricht man sich offenbar einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Nationalökonomien, wie das der Dachverband Economiesuisse im Frühling ausdrücklich gefordert hatte. Gleichzeitig gilt es, das urschweizerische Prinzip des Mittelwegs zu wahren, was in der Konsequenz heisst, dass den Empfehlungen der Epidemiolog:innen das gleiche Gewicht beigemessen wird wie denen des Verbands der Skiliftbetreiber:innen.
Zuweilen fallen Äusserungen, aus denen ersichtlich wird, dass der mangelnde Wille zu eindämmenden Massnahmen auch darin gründet, wer dem Virus mehrheitlich zum Opfer fällt. „Die hohen Todeszahlen sind der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir die Wirtschaft einigermassen am Laufen erhalten”, sagte CVP-Nationalrat Alois Gmür am 30. Dezember zu 20 Minuten und ergänzte: „[I]st man über 80-jährig, muss man jeden Tag damit rechnen, dass das Leben einmal fertig ist.”
Noch deutlicher wurde der Zürcher FDP-Politiker Marco Kiefer (vormals SVP) in einem nach grosser Empörung wieder gelöschten Tweet von Anfang Januar. Hier schlug die ökonomisch kalkulierende Menschenverachtung bereits in eugenische Reinigungsfantasien um: „Die Welt hat: zuviele übergewichtige, zuviele kranke Menschen, zuviele Menschen mit zu schwachen Immunsystemen, zuviele hochbetagte. Corona bereinigt das jetzt. Ist das wirklich so schlimm und müssen wir die auf Teufel komm raus alle ‚gesund’ päppeln und am Leben erhalten?” (Rechtschreibung dem Original entsprechend.)
Die FDP distanzierte sich umgehend von ihrem Parteimitglied, die Medien skandalisierten den Fall. Was dabei aber unter den Teppich fällt: Es ist kein Zufall, dass mancherorts so gedacht wird, aber nicht explizit so argumentiert wird. In Krisen der bürgerlichen Gesellschaft droht der dünne Firnis der Zivilisation abzublättern. Darunter kommt der alte Sozialdarwinismus zum Vorschein, der diese Gesellschaft der Leistung und Konkurrenz immer begleitet. Offen ausgesprochen wird er selten, weil er das Bild beschädigt, das sich die Schweiz von sich selbst macht.
Einmal mehr zeigt sich in der Krise die Ultima Ratio bürgerlichen Sachverstands: Wer nicht (mehr) ökonomisch aktiv und leistungsfähig ist, hat von der Gesellschaft nichts mehr zu erwarten ausser der sanften Aufforderung, durch ein zeitiges Ableben ihr Scherflein zum Wohlergehen der Schweizer Wirtschaft beizutragen. Am besten mit Patientenverfügung – dann reichen auch die Beatmungsplätze.