Im Herbst 2015 sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts des „Flüchtlingsstroms“ in Richtung Europa die Worte: „Wir schaffen das!“ Das rief nicht bloss eine Art Willkommenskultur ins Leben, sondern bestärkte auch rechte Strömungen und Parteien in ihrer Überzeugung, Geflüchtete seien eine Gefahr für die Identität Europas. Gut fünf Jahre danach haben sich die politischen Fronten verhärtet, die Verhandlungen über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik kommen kaum voran und die Lage der Geflüchteten ist nach wie vor prekär – nicht bloss in den Lagern an den Aussengrenzen, sondern auch auf dem Balkan, wo viele der Vertriebenen steckengeblieben sind.
Auf Tausenden Kilometern Fluchtwegen sind die Spuren der Vertriebenen allgegenwärtig: Kleider, Spielzeug, Essensreste, Decken, SIM-Karten, Zahnbürsten – sie zeugen von einer verlorenen Heimat. Es gibt angeblich Menschen, die kennen kein Heimweh, sie sagen: „Unsere Heimat ist da, wo wir gerne gesehen werden.“ Doch was, wenn niemand sie willkommen heisst?
Im Frühjahr 2016 floh Feroz A. aus Pakistan, schon zwei Monate später war er in Serbien, nie hätte er gedacht, dass alles so flott gehen würde. Doch dann kamen sie, die langen Monate. Zuerst war Feroz in einem Lager in Šid an der kroatischen Grenze, dann in Obrenovac, später in den Baracken von Belgrad, in Sombor im Norden Serbiens und schliesslich in einer verfallenen Ziegelei bei Subotica nahe der ungarischen Grenze. Im Sommer 2018 gelang ihm die Flucht, er kam nach Italien und liess sich registrieren. Ein halbes Jahr verbrachte er in einem Internierungslager bei Padua, dann arbeitete er als Erntehelfer, zehn Stunden am Tag. Heute lebt der 27-Jährige in Verona und macht Schichten in einer Schokoladenfabrik. Und er will weiter. Vielleicht nach Kanada, so Gott will. Und das Geld reicht.
Als der Pakistani Amar Z. Belgrad erreichte, war es Februar 2016 und kalt und eisig, er nahm den Bus an die ungarische Grenze. „Jetzt“, so dachte sich Amar, „bin ich fast am Ziel.“ Zwei Jahre später sass der 18-Jährige noch immer dort fest. Er klagte über Müdigkeit und eine Schwere auf seiner Brust und dass er nichts mehr behalten kann in seinem Kopf, keine Namen, keine Bilder, keine Gebete. Aufgeben? „Niemals“, sagte Amar damals. Im Herbst 2018 schaffte er es über die Grenze nach Ungarn und Slowenien, wo er abermals steckenblieb. Mitte März 2019 nahm sich Amar Z. in einem kleinen Dorf unweit der italienischen Grenze das Leben.
„Bei Gott, hier gleicht ein Tag dem anderen, das Licht, die Wolken, die Farben, alles eins. Wir hängen rum, kochen, reden, wir spielen Cricket – ich bin der Beste auf dem Platz –, wir schneiden uns die Haare, chatten, schlafen. Die Nächte werden immer länger, und die Tage auch, leere, kümmerliche Tage sind das.“ Hassan J., 19, blickt über das leere Feld, dreihundert Meter von der ungarischen Grenze entfernt. Irgendwann, davon ist er überzeugt, wird er es schaffen. Weil es so sein muss. Als wäre es ein Naturgesetz: Auf die Vertreibung aus der Hölle folgt die Flucht ins gelobte Land.
Seit sich 2018 die Balkanroute nach Westen verschob, wird Bosnien für viele zur Hoffnung, zum Tor in die EU. Doch auf der anderen Seite stehen 6’000 kroatische Grenzwächter bereit. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht hat – 3’000 Euro pro Person –, überquert die Grenze auf eigene Faust. Wie ein iranisches Paar mit ihren drei Kindern im Alter von fünf, sieben und elf Jahren, der Mutter des Ehemannes und ihrem jüngsten Sohn, alle vollbepackt mit Rucksäcken und Taschen. Die Route führt an Maisfeldern vorbei zu einem Fluss, der die Grenze zu Kroatien markiert. Drüben angekommen, nehmen sie einen Pfad durch den Wald, stapfen durchs Unterholz. Bis vier Männer vor ihnen stehen, uniformiert und bewaffnet. Einer sagt: „Go back to Bosnia, you are not welcome!“ Dann bringen die kroatischen Grenzpolizisten die Geflüchteten an die Grenze zurück, lassen sie dort stehen. Das war im August 2019. Heute lebt die Familie in Deutschland.
„Sie leben mit den Hunden, denn sie leben wie die Hunde“, sagt Marina A., 57, eine Einwohnerin des bosnisch-kroatischen Grenzortes Velika Kladuša. Anfänglich hiess die mehrheitlich muslimische Gesellschaft die Vertriebenen willkommen, inzwischen klagen viele über den Dreck, den die Geflüchteten hinterlassen, sie haben Angst vor diesen „Streunern“. Auch die Polizei redet von „Strassenhunden“, die sie einfangen müssen, und meint damit die Migranten. Sind die Geflüchteten dann weg oder werden sie vertrieben, bleiben, ironischerweise, die Strassenhunde zurück.
„Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht.“ 2016 verliess die heute 73-jährige Samira S. mit ihrem Enkel Abdullah aus Angst vor den Taliban ihr Dorf unweit von Karatschi, im Herbst 2018 gelangten sie in zwei Monaten über Albanien und Montenegro nach Bosnien, 600 Kilometer insgesamt, fast immer zu Fuss. Fast zweieinhalb Jahre später sind die beiden noch immer im Norden Bosniens, sie leben bei einem Ehepaar im Keller, für 85 Euro im Monat, was viel Geld ist. Samira weiss, ihr Enkel würde es allein schneller über die Grenze schaffen, früher oder später. Doch Abdullah will nicht: „Entweder gehen wir beide, oder es geht niemand von uns.“
Unzählige Male schon versuchte Adil, 17, unbemerkt über die Grenze zu gelangen. Und immer spürten kroatische Grenzpolizisten ihn auf. Machten sein Handy kaputt. Drückten sein Gesicht in den Matsch. Verdrehten dem Afghanen die Arme, brachen ihm die Finger. Stopften seinen Mund mit faulem Obst, liessen ihn halbnackt im Kreis laufen, fassten ihm zwischen die Beine, grölten und spuckten – und schickten ihn nach Bosnien zurück.
Joes Haus, so wird die kleine Hütte in einem Obsthain nahe der serbisch-ungarischen Grenze genannt. Bewohnt wurde sie von José C., einem Kubaner, der 2014 sein Land verliess und im Jahr darauf auf verschlungenen Wegen nach Serbien gelangte. Weiter wollte er nicht, er war zu müde, brachte sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, blätterte viel in Büchern und verbrachte seine Zeit mit Dino, dem weissen Strassenhund. „Wir bleiben zusammen, egal was kommt“, sagte José damals im kalten Winter 2018. Zwei Jahre später war die Hütte verlassen. José habe sich im Sommer umgebracht, hiess es. Und der weisse Hund sei mit ihm gegangen.
Wie von Geflüchteten erzählen? Sultan H., Journalist aus Kabul und seit 2016 auf der Flucht, hat sich diese Frage viele Male gestellt. Auch seine Geschichte, sagt er, würde vom Kummer eines Vertriebenen handeln. Doch sie würde auch davon erzählen, dass er, ein Afghane, am liebsten Spaghetti isst. Oder davon, wie er als Junge eine Plastikkamera fand und den Reporter mimte. Wie er die Flucht manchmal als Abenteuer erlebte und wie er zugleich Scham empfindet, wenn er an seine Familie denkt, an seine Kinder, die so weit weg sind. Wie er von diesem Europa träumt und wie er, auch das, immer öfter daran denkt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Eine Geschichte wäre das, sagt Sultan, die nicht darauf hinaus ist, Widersprüche, Brüche und Kratzer der Wirklichkeit auszubügeln. Sondern eine, die uns mitfühlen lässt, wie es ist: das Leben als Mensch, der vertrieben wurde. Auf dem Bild: Sultan H., 27, nach gelungener Flucht, in der Pariser Metro.
– „Schreibst du manchmal nach Hause, erzählst ihnen vom Leben hier?“, frage ich Adil, 17, den Berber aus Algerien, der seit zwei Jahren in Bosnien festsitzt.
– „Von welchem Leben denn? Ich schreibe Verse“, sagt Adil beiläufig.
– „Ein Gedicht für Lara, deine Freundin?“
– „Sicher nicht. Schau: ‚Par les abîmes et à travers les basses terres, mon long chemin m’a mené.‘ Na, was sagst du? Kannst du das schön übersetzen?“
– „Hast du je daran gedacht, nach Hause zurückzukehren?“, frage ich.
– „Eher würde ich mich umbringen.“
– „Sag das nicht.“
– „Sie würden mich auslachen.“
– „Wer denn, deine Mutter?“
– „Nein, aber schämen würde ich mich. Sie glaubt fest daran, dass ich es schaffen werde.“
– „Und wenn du es geschafft hast? Ihr seid nicht willkommen, du weisst es.“ Adil wiegt den Kopf, als würde er sagen: „Das sind wir sowieso nirgendwo.“ Doch er sagt es nicht.
In der Türkei haben sie sich getroffen, Baran N., 18, und Milad R., 20, beide auf der Flucht seit zwei Jahren. Seitdem sind sie beisammen, leben in Wäldern oder Baracken, versuchen Grenze um Grenze zu überwinden. Erst waren sie in Bosnien, dort wurden sie von kroatischen Polizisten vertrieben, jetzt sind sie in den Norden Serbiens zurückgekehrt, wo der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban schon vor Jahren eine Absperrung errichten liess, 175 Kilometer lang, drei Meter hoch. Hoffnung haben sie kaum noch: „Erst müssen wir den Winter überstehen, dann sehen wir weiter.“
Soya, das Reh, und Riaz, der Geflüchtete: zwei Vertriebene, Verwundbare, Sorgende, beide ohne Familie, beide ohne ein Daheim. Am Fuss verletzt, in einem Stacheldraht zuckend, wurde Soya nahe der serbisch-ungarischen Grenze gefunden – dort, wo auch Riaz lebte, in einem der verfallenen Getreidelager bei Horgoš. Er trug das Reh in seine Hütte, gab ihm den Schoppen, hüllte es in Decken. Von da an begleitete das Tier ihn auf Schritt und Tritt, es hüpfte mit ihm, schlief bei ihm, ass mit ihm, fast zwei Jahre lang. So könnte diese rührende Geschichte noch endlos weitergehen. Doch dann, im Sommer 2019, setzte sich Riaz mit Schleppern nach Dänemark ab. Das Reh blieb allein zurück.