„Bei Trennungsschmerz kann Ignatia hilfreich sein“, titelte die Bauernzeitung im Januar.
Der Trennungsschmerz, um den es hier geht, ist der einer Mutterkuh und ihrem Kalb, das man ihr gestohlen hat. Das macht man in der Milchindustrie einmal im Jahr, denn Kühe als Säugetiere müssen Junge kriegen, damit die Milch einschiesst. Das Kalb wird ihnen frühzeitig weggenommen. Dass die Milchkühe psychisch unter dieser Trennung leiden, ist wissenschaftlich belegt und wird auch von der Bauernzeitung nicht bezweifelt.
Und dagegen soll also Ignatia helfen, ein homöopathisches Mittelchen. Es wird hergestellt, indem die Ignatius-Brechnuss mit Wasser verdünnt und geschüttelt wird, dann wird dieses Wasser wieder verdünnt und geschüttelt, und so weiter. Nach einer bestimmten Zahl Verdünnungsschritte wird das Wasser auf Zuckerkügelchen gesprüht, abgepackt und verkauft.
Einen Wirkstoff enthält Ignatia nicht. In der von der Bauernzeitung empfohlenen „C30-Potenz“ wurde das Wasser so oft verdünnt, dass man sechs Milliarden Tieren vier Milliarden Jahre lang zwei Milliarden Dosen pro Sekunde verabreichen müsste, damit auch nur ein einziges Tier ein Molekül der ursprünglichen Ignatius-Brechnuss bekommt.
Homöopathie soll ja auch nicht durch Wirkstoffe heilen, sondern durch unbekannte „Energien“ oder „Schwingungen“ im „Gedächtnis des Wassers“. Das ist klassische Pseudowissenschaft.
Woher hat die Bauernzeitung so was überhaupt? Ich habe den Fehler gemacht, nachzufragen.
Eiternde Wunden nach Enthornung? Ringelblume!
Auf meine Frage nach ihrer Quelle empfiehlt mir die überaus freundliche Journalistin der Bauernzeitung ein Buch: „Die homöopathische Stallapotheke: 68 wichtige Mittel für unsere Nutztiere mit Repertorium“. Der Preis von 75 Franken tut zwar weh, aber für euch gehe ich zum Äussersten, liebe Leser*innenschaft. (Ein Fünfliber ans Lamm tut da übrigens viel weniger weh.)
Das Stallapotheken-Buch ist für Landwirt*innen gedacht, die ihre Tiere in Eigenregie behandeln möchten. Unterschiede nach Spezies werden nicht gemacht: Kühe, Ziegen, Hunde und Katzen kann man mit den gleichen Globuli versorgen.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. Animal Politique gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. Animal Politique macht das sichtbar.
Nico Müller hat den Doktor in Tierethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich politisch für Tierschutz und ‑rechte ein, besonders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.
Was für Zustände soll man nun homöopathisch behandeln? Laut Einleitung: „Behandeln Sie nur akute Krankheiten, die nicht lebensbedrohlich sind, selber.“ Ein paar Beispiele, was das heissen kann, wörtlich aus dem Buch zitiert:
- Fieber
- Durchfall
- Abszesse
- Mastitis mit gestautem, hartem, schmerzhaftem Euter
- Lungenentzündung
- Augenentzündung
- Schürfwunden (tief)
- Verletzungen von Nervenendigungen (Klauen)
- Vergiftete Wunden, Gangrän (fressendes Geschwür mit absterbendem Gewebe), Ulzera (Geschwüre) blauschwarz
- Eiternde Wunden nach Enthornung
Gegen diese und weitere Symptome empfiehlt das Buch verschiedene Globuli, deren geschütteltes Wasser sich angeblich noch an Zutaten wie Tollkirsche, Ringelblume, Hundemilch, verwestes Rindfleisch, Schiesspulver oder „gerösteter Badeschwamm“ erinnert. Oder eben an Ignatius-Brechnuss.
Sollte man bei den oben gelisteten Symptomen nicht eher die Tierärztin rufen? Laut Instruktion im Buch kommt das erst nach der eigenen Behandlung, nicht vorher: „Spricht das Tier nicht auf die eigene Behandlung an, ist rechtzeitig der Tierhomöopath oder Tierarzt zuzuziehen.“
Rechtzeitig, schon klar. Wann das ist, muss die Landwirtin selbst wissen. Und statt einer Tierärztin kann sie auch nur eine Homöopathin rufen. Das Buch ist in seiner dritten Auflage und wurde laut Autorin bisher gut 2’000 Mal verkauft. Auch sie war übrigens sehr freundlich und merkte sogar an, ihr gefalle meine Kolumne. Ich fürchte, heute verliere ich eine Leserin.
Was kommt dabei raus, wenn man tausenden Landwirt*innen empfiehlt, Tiere mal auf eigene Faust mit esoterischen Wundermittelchen zu versorgen?
Tierquälerei durch Homöopathie
Das fragt man am besten die Stiftung für das Tier im Recht, eine gemeinnützige Organisation unabhängiger Expert*innen fürs Tierschutzrecht. In ihrer Datenbank von Tierschutz-Straffällen findet man alle ein bis zwei Jahre Fälle von Tierquälerei, die mit Nutztier-Homöopathie in Verbindung stehen.
Hier nur drei Beispiele aus den letzten Jahren:
Kanton Aargau, 2021: „Der Beschuldigte behandelt eine stark lahmende und abgemagerte Kuh mit homöopathischen Mitteln, anstatt einen Tierarzt beizuziehen. Die Kuh musste zwei Tage nach der Kontrolle aufgrund ihrer aussichtslosen Prognose erlöst werden.“
Kanton Zürich, 2018: „Die Kuh weist eine grosse, offene und nässende Masse über dem Auge auf. Der Abszess hat sich über knapp acht Monate entwickelt und ist nur einmal tierärztlich untersucht und mit Antibiotika versorgt worden. In der Folge behandelt der Beschuldigte die Wunde mit homöopathischen Mitteln und einer Salbe. Dies führt nicht zu einer Besserung. Der Beschuldigte unterlässt es, die Kuh nochmals tierärztlich versorgen zu lassen. Aufgrund der starken Schmerzen muss die Kuh geschlachtet werden.“
Kanton Obwalden, 2017: „Der Beschuldigte stellt bei einem Rind an der rechten Kopfseite eine Entzündung fest und behandelt diese angeblich mit homöopathischen Mitteln und einer Zugsalbe. Trotz Verschlimmerung und Vergrösserung der Phlegmone ändert der Tierhalter seine unwirksame Behandlung nicht und zieht keinen Tierarzt hinzu. Die Entzündung wird im Verlauf von zirka vier Wochen massiv grösser, nekrotisch und die Haut löst sich ab. Daraufhin entschliesst sich der Beschuldigte, das Tier zur Notschlachtung anzumelden.“
In diesen Fällen ist das Recht eingeschritten. Denn wie mir die Rechtsauskunft der Stiftung erklärt, macht man sich als Tierhalter*in strafbar, wenn man keine ausreichende medizinische Versorgung sicherstellt. Man darf ein Tier also nicht ausschliesslich homöopathisch behandeln, wenn es echte medizinische Hilfe braucht.
Das heisst aber im Umkehrschluss auch: Solange sich ein Tier ohne Medikation durch seine Verletzungen, seine Krankheiten, sein psychisches Leiden durchbeissen kann, darf man auch wirkungslos homöopathisch behandeln – oder gar nichts tun. Es geht dem Tier zwar miserabel, aber es stirbt nicht daran.
Keine Antibiotika, keine Absetzfristen
Auf den letzten zehn Seiten der „Stallapotheke“ findet man ein Sammelsurium von Inseraten für Esoterik-Produkte. Nicht nur Homöopathie, auch etwa Bach-Blütentherapie und Effektive Mikroorganismen. Anything goes.
Ebenfalls vertreten ist ein Inserat des Vereins Kometian, der das Buch wiederum weiterverkauft. Wer sich ein Bild des Vereins verschaffen will, kann sich gerne den eigenwilligen Image-Film ansehen.
Kometian bietet hauptsächlich eine Homöopathie-Hotline für Nutztierhaltende an. Unterstützt wird er dabei von den Schweizer Milchproduzenten als Hauptsponsor mit mindestens 50’000 Franken über drei Jahre. Auch die Firma Emmi war in der Vergangenheit Hauptsponsorin. Und das Bundesamt für Landwirtschaft sprach schon mal über zwei Millionen.
Wieso? Nun, den Sponsoren geht es vor allem um eines: die Reduktion des gemeingefährlich hohen Einsatzes von Antibiotika in der Landwirtschaft. Das ist an sich ein verständliches Anliegen. Denn werden in der Massentierhaltung weiterhin so viele Antibiotika eingesetzt, ist das ein Nährboden für resistente Keime, aus denen sich auch Pandemien entwickeln können.
Die konsequente Lösung wäre, die tierische Landwirtschaft strategisch abzubauen und den Konsum pflanzlicher Lebensmittel zu fördern, wie es die soeben lancierte Vegi-Initiative fordert und wie es das Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen SDSN empfiehlt. Die bequeme Lösung ist jedoch, den Landwirt*innen esoterischen Bullshit zu verkaufen und die Tiere ihre Krankheiten unbehandelt durchstehen zu lassen.
Das Kometian-Inserat macht keinen Hehl daraus, dass es dabei auch ums Geld geht:
„Ihr Nutzen
- Beratung telefonisch, vor Ort und in Bestandesbegleitung durch Fachpersonen gegen Verrechnung
- Senkung des Medikamenteneinsatzes
- tiefere Arzneimittelkosten
- keine Absetzfristen nach Behandlungen
- Das Risiko von Rückständen (z.B. Antibiotika in der Milch) wird entschärft.“
Die Absetzfrist ist die Zeitspanne, die man nach Verabreichung eines Medikaments abwarten muss, bevor man mit einem Tier Lebensmittel herstellen darf. Wer einer Milchkuh Antibiotika gibt, darf ihre Milch eine Weile lang nicht verkaufen. Verabreicht man nur homöopathische Zuckerkügelchen ohne Wirkstoff, entfällt das natürlich.
Homöopathie ist deshalb auch die ideale Lösung, um die Produkte von kranken, verletzten oder sonst wie leidenden Tieren verkaufen zu können.
Ausbeutungslogik trifft Aberglauben
Auf einer Webseite verweist auch der Bauernverband auf Kometian. Die Seite dient zur Imagepflege und war unter anderem Teil des Abstimmungskampfes gegen die Pestizid- und Trinkwasserinitiativen.
Die Tiergesundheit liege dem Bauernverband am Herzen, beteuert die Webseite. „Denn nur gesunde Nutztiere sind leistungsfähig und produzieren einwandfreie Lebensmittel wie Milch, Fleisch oder Eier.“ Dass Tiere eigene Bedürfnisse haben, die sich nicht mit den Nutzungsinteressen ihrer Besitzer*innen decken, wird hier vollkommen verleugnet.
Selbstverständlich ist es Quatsch, was der Bauernverband da sagt. Auch menschliche Arbeiter*innen können sehr viel leisten, ohne dass es ihnen dabei gut geht. Leistung ist nicht gleich Gesundheit. Leistung ist oft nur das Resultat effektiver Ausbeutung. Das ist bei Menschen und Tieren genau gleich.
Einen Schweinekörper kann man zu Fleisch machen, auch wenn er chronische Schmerzen leidet. Ein Huhn legt Eier, auch wenn es ein gebrochenes Brustbein hat. Eine Kuh kann man melken, auch wenn sie eine unbehandelte Augenentzündung hat.
Oder wenn sie apathisch ist, nicht essen will und nach dem Kalb ruft, das man ihr weggenommen hat. Dann gibt man ihr ein paar Ignatia-Zuckerkügelchen, tätschelt ihren Rücken und redet ihr gut zu. Ein alleingelasseneres Wesen kann man sich auf der Welt kaum vorstellen.
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