Ich sehe blau und gelb

Dass der Krieg am 24. ausbre­chen würde, wusste ich schon am Tag zuvor. „Ich komme zum Frau­entag“, schreibe ich einer Freundin in Charkiw. „Bist du verrückt?“, antwortet sie ein paar Sekunden später. „Heute Nacht beginnt der Beschuss.“ 
Alles in blau-gelb, Emilia Sulek erzählt über die ersten Wochen nach Beginn des Krieges in der Ukraine. (Illustration: Jacek Piotrowski)

Bis drei Uhr in der Früh über­prüfe ich meine Nach­richten. Dann schlafe ich ein. Ich wache in einer anderen Realität auf.

„Es hat ange­fangen“, benach­rich­tige ich die Bewohner*innen meiner Genos­sen­schaft in Zürich. Es ist so ein expe­ri­men­telles Co-Living, ein alter­na­tives Haus mitten in der Stadt. Die Mitbewohner*innen sehen mich verständ­nislos an. Ich bin wie gelähmt. Zähle die Stunden bis zur Demon­stra­tion. Die Febru­ar­däm­me­rung auf der Strasse schnürt mir die Kehle zu. Die Ukrainer*innen wollen die Natio­nal­hymne singen. Die Schweizer*innen beschwich­tigen: Die Demon­stra­tion soll ruhig vor sich gehen.

Die erste Woche verbringe ich damit, auf ein paar freie Tage zu warten, einfach um nach Polen zu flüchten. Meine Seele schreit, ich solle nach Hause fahren. Viel­leicht ist es ein atavi­sti­scher Wunsch, in das bedrohte Nest zurück­zu­kehren. K., eine Polin hier in Zürich, hat den glei­chen Reflex.

Endlich fliege ich. Morgens am Flug­hafen, die Damen trinken Prosecco, die Herren lesen Wirt­schafts­ko­lumnen. Ich sehe überall Blau und Gelb. Gelbe Taschen, blaue Pull­over. Ich rufe K. an, die vor mir nach Polen geflogen ist: „Kann es sein, dass plötz­lich alle in Zürich diese zwei Farben tragen?“ „Das denkst du nur“, besänf­tigt mich K..

Polen im Kriegsmodus

Blau und gelb sind aber defi­nitiv die Schleifen, die die Crew der polni­schen Flug­ge­sell­schaft „Lot“ trägt. Blau-gelbe Fähn­chen flat­tern an den Bussen in Warschau. Blaue-gelbe Flaggen hängen in den Fenstern. Die Stadt kommt mir irgendwie feier­lich vor. Es liegt etwas in der Luft. Soli­da­rität? Mitge­fühl? Als würden sich die Menschen ohne Worte verstehen können. Ich kann jemandem die Hand schüt­teln und damit alles sagen. Ich kann einen Fremden umarmen. Ich kann anfangen zu weinen und niemand ist über­rascht. Ich kann fluchen und jede*r weiss, warum.

Die polni­sche Gesell­schaft verwan­delt sich in eine grosse Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion. Die Tatsache, dass alle etwas tun, scheint so natür­lich wie das Atmen.

Die polni­sche Gesell­schaft verwan­delt sich in eine grosse Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion. Die Tatsache, dass alle etwas tun, scheint so natür­lich wie das Atmen. Noch am Flug­hafen schickt mir B., mein Cousin aus Warschau, eine Einkaufs­liste: mili­tä­ri­sche Ausrü­stung, Sachen für die Zivil­be­völ­ke­rung. Sie werden nach Riwne geschickt, von dort bringen sie Frei­wil­lige an die Front. Ich entdecke die unbe­kannten Welten der mili­tä­ri­schen Versor­gung und in gewöhn­li­chen Geschäften neue Ebenen der Verständigung.

In der Stadt­teil­apo­theke will ich Schmerz­mittel kaufen. Die Apothe­kerin legt verschie­dene auf die Theke. Ich schaue ihr in die Augen wie bei einem Über­fall: „Ich brauche mehr. Viel mehr.“ Die Frau hält inne. „Für die Ukraine? Ich gebe Ihnen alles, was ich da habe.“ Sie holt Kartons von hinten. Ihre Augen wirken glasig. Dabei hat der Krieg doch gerade erst begonnen.

Im Laden nebenan kaufe ich Socken und lange Unter­hosen. „Die Unter­hosen in welcher Grösse?“, fragt die Verkäu­ferin. „In allen Grössen“, antworte ich leise. Die Frau sieht mich aufmerksam an. „Wenn sie für die Ukraine sind, nehmen Sie die hier. Die sind am wärm­sten.“ An der Kasse ein Körb­chen mit blau-gelben Soli­da­ri­täts­schleifen, jede mit einer winzigen Sicher­heits­nadel versehen. „Wenn ich ein biss­chen Zeit habe, mache ich die selbst“, erklärt die Verkäu­ferin. Da kommt eine weitere Kundin herein. Sie braucht Mate­rial für Fahnen. „Blau und Gelb sind gerade ausver­kauft. Kommen Sie morgen wieder.“

Tarn­netze scheinen mir zunächst eine Heraus­for­de­rung zu sein. Es stellt sich aber heraus, dass sie aus Tornetzen in meiner ehema­ligen Schule geknüpft werden. Es erstaunt mich, wie schnell die Menschen in den Kriegs­modus schalten. Mein Cousin B. hat sogar eine Uniform ergat­tert, die er spenden möchte – eine polni­sche, aber egal. Wir sammeln Ruck­säcke, Benzin­ka­ni­ster, Stirn­lampen, Medi­ka­mente. Ausserdem Säcke mit Grütze. Wir bringen sie in zwei Autos zur Grenze. Von dort holen wir dann zwei Kinder aus dem ukrai­ni­schen Riwne ab. Ihre Eltern arbeiten in Warschau. Die Kinder waren bisher bei ihren Grosseltern.

Auf der Flucht

Am Rande des Landes wartet eine Menschen­menge, den Blick nach Osten gerichtet. Die Absur­dität dieser Linie, die vor uns in der Luft hängt, blendet. Friede hier, Krieg dort: Die Willkür des poli­ti­schen Schick­sals hat es so entschieden. Ab und zu kommen Autos von der Grenze her, alte Modelle, mit Schlamm bedeckt. In einem kommen die Kinder. Der Gross­vater über­gibt sie uns, ein gepflegter Herr mit Manieren aus einer längst vergan­genen Zeit. Er küsst meine Hand und lächelt galant. Er holt die Ausrü­stung bei uns ab und kehrt nach Hause zurück, auf die andere Seite der Grenze.

Die Absur­dität dieser Linie, die vor uns in der Luft hängt, blendet. Friede hier, Krieg dort: Die Willkür des poli­ti­schen Schick­sals hat es so entschieden.

Während die Kinder zu ihren Eltern nach Warschau fahren, begebe ich mich mit B. zum anderen Grenz­über­gang. Dort, in einer Grenz­stadt, steht in einer Basket­ball­halle Bett neben Bett. Es riecht nach Provi­so­rium und Reini­gungs­mittel. Von dort nehmen wir eine Familie aus Schy­tomyr mit. Frau, Kinder und ein Hund: Sie sind Hals über Kopf geflohen, zu viert haben sie nur einen Ruck­sack. Vom Moto­ren­brummen einge­lullt, schlafen die Kinder sofort ein. Die Mutter spricht sparsam über die nächt­liche Toten­stille zwischen den Flie­ger­alarmen. Und über die letzte Ziga­rette auf dem Balkon einer frisch reno­vierten Wohnung. Wir verspre­chen, sie zu besu­chen, wenn alles vorbei ist. Vorerst bringen wir sie nach Bydg­oszcz, wo sie jemand erwartet.

Unter­wegs passieren wir Auto­ko­lonnen in Gegen­rich­tung. Eine moto­ri­sierte Völker­wan­de­rung mitten in Europa. Am Steuer Menschen aus Däne­mark, Schweden, Öster­reich. Sie haben alles stehen- und liegen­ge­lassen, um die Kriegs­flücht­linge zu retten. Ein Nieder­länder hat Polen durch­quert, ohne einen Złoty in der Tasche. Ich gebe ihm Sand­wi­ches und wechsle seine Euros. Ein ehema­liger Soldat aus Däne­mark ist in einem Bus voller mili­tä­ri­scher Ausrü­stung ange­kommen. Ein Schwede bittet um meine Nummer, ich soll Gespräche mit einer Frau über­setzen, die er nach Danzig mitnimmt. Ihr Mann ist an der Front, aber er hatte es geschafft, sie mit der kleinen Tochter an die Grenze zu bringen. Die Ukrai­nerin und der Schwede haben keine gemein­same Sprache. Um drei Uhr morgens kommt eine Nach­richt: Sie sind angekommen.

„Die Absur­dität dieser Linie, die vor uns in der Luft hängt, blendet. Friede hier, Krieg dort“. (Illu­stra­tion: Jacek Piotrowski)

Zurück in Warschau unter­nehme ich mit K. regel­mässig Fahrten durch die ganze Stadt. Wir trans­por­tieren Windeln, Binden, alles, was Menschen brau­chen, denen Bahn­höfe und Sport­hallen ein tempo­räres Dach über dem Kopf bieten. Vor dem Kauf­haus in der Mars­zał­kowska-Strasse suchen wir Schutz vor dem Schnee­regen. Wir beob­achten die Menge auf dem Bürger­steig. Lauter Menschen, die an unsicht­baren Fäden hängen. Sie gehen ziellos umher, losge­löst von der normalen Zeit­mes­sung. Frauen in Trai­nings­an­zügen, als wollten sie einen Film auf Netflix ansehen. Teen­ager, die ihre Gesichter mit dem Leuchten des Smart­phones wärmen. In ihrer besten Jacke, den besten Schuhen. Ein Hauch modi­scher Avant­garde aus der Ukraine, verweht von den Winden des Krieges.

In der Mars­zał­kowska, am Bahnhof Wschodnia und am Haupt­bahnhof hat der Krieg das Gesicht von Frauen, Kindern und Jugend­li­chen. Aber er hat auch ein Männer­ge­sicht. Und eine Männer­stimme. An einem Tag besu­chen wir, nachdem wir mit dem Trans­port fertig sind, unsere Warschauer Freunde. Kurz vor unserer Ankunft haben sie „Kalina“ entdeckt, die Hymne dieses Krieges. In der Kiewer Aufnahme von Andrij Chlywnjuk in Uniform und mit Gewehr. Weder ich noch K. sind Uniform­fans. Aber etwas an diesem Lied würgt uns. Wir sind durch­ge­froren und sitzen auch zu Hause in der Jacke. Wenn wir zitternd auf dem Balkon eine Ziga­rette rauchen, sagen wir: „Denen in Kiew ist bestimmt kalt.“ Wir denken, wir wären dort. Wenn nur Kiew nicht fällt. Das ist in diesen Tagen unser Haupt­an­liegen. Und unsere Angst, wenn wir morgens die Nach­richten lesen.

Ich habe noch Zeit, in Krakau vorbei­zu­schauen, um eine Turnerin aus Charkiw abzu­holen, das es irgendwie geschafft hat, dem Beschuss zu entkommen. Menschen­massen am Bahnhof. Fami­lien, Kinder, Katzen, Hunde, Chin­chillas. Das ganze Land ist auf der Flucht, Mensch und Tier. Frei­wil­lige verteilen Nahrung für alle. In der Unter­füh­rung sitzt eine etwa acht­zig­jäh­rige Frau auf ihren Bündeln. Dicker Mantel, geblümtes Tuch. Sie isst einen Apfel, viel­leicht stammt er aus ihrem eigenen Obst­garten. Sie schält ihn mit einem Messer, die Scha­len­stücke landen in ihrem wollenen Schoss. Sie sieht so aus, als hätte sie ihr Dorf nur selten verlassen. Und dann hat der Krieg sie ins Ausland getrieben. Der Anblick des Mütter­chens in diesem Bahn­hofs­ar­ma­geddon treibt mir Tränen in die Augen. Einatmen, ausatmen. Ich beru­hige mich. Ein Frei­wil­liger bietet mir ein Sand­wich an. Meine roten Augen sieht er als Zeichen dafür, dass ich aus der Ukraine komme.

Zurück in den Alltag

Nach ein paar Wochen in Polen muss ich zurück ins normale Leben, das in der Schweiz. Nur, was heisst normal?, frage ich mich, während ich am Warschauer Flug­hafen in der Schlange stehe. Ein paar Meter weiter ein Mann, er fliegt an die Front. Woran ich das sehe, weiss ich nicht. Am Aussehen, am Gepäck, an der blau-gelben Schleife an der Schulter. An der Stille, die ihn umgibt. Wieder das feier­liche Gefühl. Darf ich ihm im Namen der Welt danken?

Nach ein paar Wochen in Polen muss ich zurück ins normale Leben, das in der Schweiz. Nur, was heisst normal?

Am Flug­hafen Zürich empfängt mich der Geruch von Behag­lich­keit und das Leuchten der Uhren­wer­bung. Hier ist das Leben wie immer. Hier erlebe ich einen grös­seren Kultur­schock als an der polnisch-ukrai­ni­schen Grenze.

Die Leute bewegen sich gemüt­lich. Ein Paar kommt gerade aus dem Urlaub. Jemand geht auf Geschäfts­reise. Diese gedämpften Emotionen, Farben und Geräu­sche machen mir mehr zu schaffen als der Anblick der alten Frau, die am Bahnhof in Krakau einen Apfel schält. Ich setze meinen Ruck­sack ab, setze mich auf eine Bank, weine. Ich rufe K. an, sie ist noch in Polen: „Komm nicht zu früh zurück. Hier ist es schwie­riger als dort.“ Die Paral­le­lität der Welten – die, in der Menschen sterben, und die, in der sie sorgen­frei leben, – schmerzt die kriegs­ge­plagte Seele. Die Nach­läs­sig­keit der Welt hier ist schwer zu ertragen, so im Wider­spruch zu der Realität, die ich in mir habe.

Und diese Gespräche:

„Warum ergibt sich die Ukraine nicht einfach?“, fragt ein Mitbe­wohner. Diese Frage höre ich seit dem 24. Februar immer wieder. Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll. Manchmal sage ich: „Und wenn Frank­reich der Schweiz Genf wegnehmen wollte, würdest du es einfach abgeben?“ Aber das sei doch etwas ganz anderes, höre ich dann. Manchmal erkläre ich: „Es geht um Frei­heit, Würde, Iden­tität. Es geht um das Gesetz. Russ­lands Inva­sion in der Ukraine ist gegen das inter­na­tio­nale Abkommen.“ Auch das hilft nicht weiter: In Europas Westen gelten andere Regeln – und eine andere Logik.

„Du hast Angst?“, fragt ein anderer Mitbe­wohner. „Wovor denn? Krieg in Polen? Einem Welt­krieg?“, rate ich. „Und du?“ Ich drehe die Frage um. Er weiss es nicht, es scheint ihn nicht sonder­lich zu betreffen. Ein Freund aus Deutsch­land ruft mit einer ähnli­chen Frage an. Er hat gerade eine Familie gegründet und möchte ein Haus kaufen. Weder in der Ukraine noch in Polen, sondern in der Nähe von Berlin, in einem ange­nehmen Vorort. Er hat schon etwas Passendes gefunden, aber jetzt – ange­sichts des Krieges – scheut er sich zu inve­stieren. Was ich davon halte, fragt er, als wäre ich eine Immo­bi­li­en­be­ra­terin. 2014, als Putin kurz davor stand, die Krim zu annek­tieren, sagte dieser Freund, Histo­riker von Beruf: „Soll die Ukraine Putin doch die Krim geben, wenn er sie so gern haben will. Es geht doch um nichts anderes.“ Da war ich über­rascht: „Wirk­lich? Und wie war das mit Hitler?“ Heute erin­nere nur ich mich an dieses Gespräch.

Es scheint, dass etwas Fremdes sich einfa­cher verschenken lässt. Egal ob Land, Frei­heit oder Geld. Das Gesetz dient in erster Linie dazu, uns selbst zu schützen. Ob es andere schützt, ist uns nicht so wichtig. Und die Politik im soge­nannten Osteu­ropa wird im Westen ein biss­chen wie ein Streit im Sand­ka­sten wahr­ge­nommen: Wenn Putin die Schaufel will, soll Selen­skyj sie ihm doch geben. Warum ist er nur so stur? Diese Frage höre ich ohne Ende.

Doch auch hier in der fried­vollen Zürcher Genos­sen­schaft beun­ru­higt der Krieg die Menschen, nur anders. Die Zerstö­rung des Planeten, das macht Eindruck. 

Doch auch hier in der fried­vollen Zürcher Genos­sen­schaft beun­ru­higt der Krieg die Menschen, nur anders. Die Zerstö­rung des Planeten, das macht Eindruck. Um jeden Preis muss man Putin davon abhalten, Atom­waffen einzu­setzen. Einem Vergleich zustimmen. Ein Opfer bringen, am besten ein Stück Ukraine. Die Leute sagen diese Dinge im Ernst. Sie denken auch ernst­haft, dass ich klein­lich bin, wenn ich antworte, dass ich mir mehr Sorgen um die Zerstö­rung im Hier und Jetzt mache. Die, die bereits passiert, nicht die, die passieren wird, wenn Putin den Knopf drückt. In der Ukraine gehen Ökosy­steme, Tiere, Menschen, Kultur­erbe in Echt­zeit verloren. This is real-time experience.

„Du bist gegen­über Russ­land vorein­ge­nommen. Du soll­test deinen polni­schen Natio­na­lismus aufgeben“, schreibt ein Freund auf Tele­gram. Und weiter: „Wenn es einen Atom­krieg gibt, ist das eine echte Tragödie.“ Ich bin echt sauer. „Dieser Krieg ist bereits eine Tragödie. Siehst du die Tragödie nur, wenn dich etwas persön­lich trifft?“, gifte ich schrift­lich zurück. Ich habe keine Geduld für Höflich­keiten. „Du bist so polnisch!“, kommt die Antwort. Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll.

„Du hast eine atavi­sti­sche Tendenz zum Heldentum. Wenn du sterben müss­test, würdest du anders denken“, geht ein anderes Gespräch in der Genos­sen­schaft. „Anders heisst wie? Neutral?“, frage ich. „Warum sterben Menschen in der Ukraine und ich lebe in Frieden? Sind ihre Leben weniger wert?“ Nein, ich bin nicht für den Krieg und habe keine Leiden­schaft für Waffen. Aller­dings kann ich den Gedanken an dieje­nigen nicht loswerden, die ihr normales Leben verlassen, um es zu vertei­digen und es dabei aufs Spiel setzen. An dieje­nigen, die „für unsere und eure Frei­heit“ sterben. In meiner Genos­sen­schaft sind solche Slogans abstrakte Materie. Die Ukraine ist von einem anderen Planeten. Das bedeutet, dass ich auch von einem anderen Planeten bin.

West­plai­ning

Einige Nachbar*innen sammeln in meiner Genos­sen­schaft Klei­dung, Schuhe und Bargeld. Sie wollen das alles nach Polen bringen, an die Grenze. Im Ernst, sie planen, zehn Franken an die Leute auf der Strasse zu verteilen. Ich schlage vor, dass sie an ein Hilfs­pro­gramm in der Ukraine spenden. „Aber welches? Wem kann man dort vertrauen?“, fragen sie hilflos. Sie würden nur einer Schweizer Insti­tu­tion vertrauen. Die anderen Orga­ni­sa­tionen sehen sie durch das Prisma alter Medi­en­bot­schaften über die Ukraine: ein Land, das von selt­samen Häupt­lingen namens Olig­ar­chen regiert wird, in dem Korrup­tion angeb­lich zur Natur der Menschen gehört und der Präsi­dent ein TV-Show-Star ist. Ein weiteres Zeichen der Wirk­sam­keit der russi­schen Propaganda.

Osteu­ropa ist für meine Mitbewohner*innen eine ziem­lich verschwom­mene Sache.

Osteu­ropa ist für meine Mitbewohner*innen eine ziem­lich verschwom­mene Sache. Der Konti­nent endet für sie hinter der deut­schen Grenze und fällt in die undurch­schau­baren Abgründe von Ländern, in denen Natur und Politik anderen Gesetzen unter­liegen, die Kirche tobt, der Femi­nismus auf dem Rückzug ist, wo Frauen ihre langen Nägel lackieren und Männer Wodka trinken und in den Krieg ziehen. Polen und die Ukraine driften in der Über­gangs­zone zwischen Europa und Russ­land umher, irgendwo an den zerlau­fenen Grenzen. Als ich erwähne, dass Europa – geogra­fisch gesehen – am Ural endet, zückt jemand das Smart­phone, um nach­zu­sehen, wo das ist.

Dieser Krieg ist eine Zünd­schnur für Stereo­type. Die Ukraine liegt heute im Herzen Europas. Die Geschichte spielt dort und ein biss­chen auch in Polen. Trotzdem sind es meine west­li­chen Kolleg*innen, die mir ständig etwas erklären wollen. Nur wenige waren im „Osten“, aber alle wissen, wie es dort ist. Sie betreiben West­s­plai­ning und zeigen mir die Fein­heiten der ukrai­ni­schen Geopo­litik auf. Sie sagen mir, wie die Psycho­logie des „östli­chen Menschen“ funk­tio­niert, also auch meine. Sie entdecken ukrai­ni­sche Lite­ratur und erläu­tern mir, dass Borschtsch ein ukrai­ni­sches Gericht ist. Viele spezia­li­sieren sich auch auf Putins poli­ti­sches Denken. Aber alle haben sie über­sehen, dass es Krieg geben würde, obwohl es jahre­lang viele Hinweise darauf gab.

Was fehlt mir hier in meiner Schweizer Genos­sen­schaft? Ich vermisse den Krieg als infor­ma­tives, tägli­ches Brot. Ich vermisse es, Emotionen und Nach­richten zu teilen. Über Black­outs, Bomben­an­griffe, das Schicksal der Gefan­genen von Azov­stal. Ich vermisse die fast reli­giöse Bewun­de­rung für die Ukrainer*innen und die Verzweif­lung, die von unserer Ohnmacht ausgeht. Ich vermisse es, körper­lich von der Schwei­nerei dieses Krieges betroffen zu sein.

Bis zum 24. Februar hatte ich die Illu­sion, eine Euro­päerin zu sein, in der Schweiz zu leben, eine Welt­bür­gerin. Der Krieg weckte alte Iden­ti­täten. Er mischte die Karten neu. Ich komme aus Polen, aus einem Land ganz nah an der Front. Auch wenn jemand die Schleife an meinem Pull­over sieht und sagt: „Schreck­lich, was da in der Ukraine passiert“, ist das eine Sicht aus der Ferne. Dieser Jemand kann betroffen sein – genauso wie über das schmel­zende Eis in Grön­land, die Hungers­nöte in Afrika, die Menschen, die im Mittel­meer ertrinken. Es ist jedoch nur eines der vielen Probleme der Welt, die hier aus der Sicher­heit des Schweizer Elfen­bein­turms betrachtet werden.

Ich bin zufällig auf diesen Turm gestiegen. Subjektiv bin ich denen am Mittel­meer, im bela­rus­si­schen Wald oder an der Front in Bachmut näher. Am Bahnhof in Zürich treffe ich einen Mann mit verlo­renem Blick und einer kaputten Sport­ta­sche. Ich frage, ob ich ihm helfen kann. Er sucht den Ort, wo man um kosten­loses Essen anstehen kann, das die Stadt irgendwo in der Nähe des Bahn­hofs an Geflüch­tete verteilt, die von einem mageren Taschen­geld leben. „Sind Sie aus der Ukraine?“, lächle ich ihn an. Er wundert sich, woher ich das weiss. „Weil ich aus Polen komme“, sage ich. Wir geben uns die Hand, unter­halten uns nur kurz. Aber auch ohne Worte konnten wir uns gegen­seitig verstehen.

Seit dem 24. Februar letzten Jahres bin ich ein geteilter Mensch. Die eine Hälfte von mir lebt in der Schweiz, die andere Hälfte in Polen und der Ukraine. Ich bin ein Mensch, der sich an seine Iden­tität erin­nert hat.


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