Anfang Mai hat der Nationalrat mit grosser Mehrheit einer Motion des SP-Fraktionspräsidenten Roger Nordmann und des GLP-Nationalrats Martin Bäumle zugestimmt, welche den Bundesrat zur Prüfung der Förderung sogenannter Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK) aufruft. WKK-Anlagen sind dezentrale Installationen, die sowohl Wärme als auch Elektrizität produzieren. Vor allem im Winter sollen sie zur Deckung der Stromnachfrage dienen.
Angetrieben werden diese WKK-Anlagen mit fossilen Energien. Zwar könnten sie theoretisch auch mit Biogas oder Biodiesel funktionieren, doch Energieminister Albert Rösti (SVP) stellte klar, dass solche Anlagen zumindest „in einer ersten Phase“ nicht klimaneutral betrieben würden.
Mit deutlicher Unterstützung der SP-Fraktion und der GLP hat der Rat somit dem Bau weiterer fossiler Infrastrukturen zugestimmt.
Drei grosse Hürden
Jetzt setzen auch Linke auf dreckigen Strom – so titelte die Sonntagszeitung Mitte April. Tatsächlich hat die SP damit jedoch gar keinen so radikalen Meinungsumschwung vollzogen. Bereits im Februar letzten Jahres regte die Partei den Bundesrat dazu an, WKK-Anlagen als Ersatz für die geplanten Reservekraftwerke in Betracht zu ziehen. SP-Energiepolitiker*innen wie Eric Nussbaumer und Roger Nordmann sprechen seit Jahren davon, dass einige Gaskraftwerke oder WKK-Anlagen nötig sein werden, um den Strombedarf zu decken.
Die Ausgangslage ist nämlich folgende: Bis allerspätestens 2050 sollte die Schweiz klimaneutral sein. Dafür braucht es viel Strom aus erneuerbaren Energien. Der notwendige Umbau der Stromproduktion hat jedoch grosse Hürden zu nehmen.
Erstens gilt es den Atomstrom, der im Jahr 2021 insgesamt 28.9 Prozent der inländischen Stromproduktion ausmachte, mit Erneuerbaren zu ersetzen, wenn – wie vom Bund geplant – die bestehenden Atomkraftwerke schrittweise vom Netz genommen werden und keine Neuen gebaut werden.
Zweitens muss der erhöhte Strombedarf aufgrund der Elektrifizierung gedeckt werden. Wird aus fossilen Energien ausgestiegen, steigt aufgrund neuer Gebäudeheizungen oder Elektroautos die Stromnachfrage. Ein Grundlagenbericht der Akademien der Naturwissenschaften (SCNAT) geht davon aus, dass sich die Schweizer Stromnachfrage aufgrund von Elektrifizierung und Digitalisierung ohne Weiteres verdoppeln könnte.
Und drittens gilt es, diesen Strom so vollständig wie möglich im Inland zu produzieren. Dies steht unter anderem im Zusammenhang mit einem Entscheid der EU, der die Mitgliedsstaaten bis 2025 dazu verpflichtet, 70 Prozent ihrer Stromnetzkapazitäten für den EU-internen Handel zu reservieren. EU-Länder könnten dadurch ihren Stromexport in die Schweiz markant einschränken, zumal auch dort Strommangellagen entstehen könnten.
Ein Problem ist das vor allem in den Wintermonaten, in denen die Schweiz in der Regel mehr Strom importiert als exportiert. Im Winterhalbjahr 2020/2021 wurden netto 1.8 Terawattstunden importiert, das entspricht gut fünf Prozent des Landesverbrauchs im selben Zeitraum.
Unter Berücksichtigung dieser Punkte wird die Befürchtung eines Strommangels im Winter medial und politisch hochgekocht. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, brauche es unter anderem kleine, schnell ein- und ausschaltbare Anlagen, die – solange nicht anderweitig möglich – mit fossilen Energieträgern angetrieben werden.
Aber kann das wirklich die Lösung sein?
Tatsächlich könnte es auch ohne fossile Anlagen gehen, prognostiziert die Wissenschaft. Was die nächsten Jahre betrifft, hat eine Studie der ZHAW berechnet, dass es zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit keine Gaskraftwerke braucht. Auch längerfristig lässt sich eine vollständige Dekarbonisierung des Energiesystems umsetzen, ohne die Energiesicherheit zu gefährden, sagen Forschende des Energy Science Center der ETH Zürich. Bei der Frage, welche Voraussetzungen es dafür braucht, scheint es auch in der Wissenschaft unterschiedliche Szenarien zu geben.
Suffizienz als energiepolitischer Hebel
Solche hauptsächlich technischen Debatten rücken jedoch gesellschaftspolitische Fragen in den Hintergrund: Wie viel Energie ist nötig, damit alle ein gutes Leben führen können? Muss der gesamte Individualverkehr elektrifiziert werden? Wie viel beheizter Wohnraum sollte einer Person zur Verfügung stehen? Welche Transportwege für Güter sind ökologisch vertretbar? Zu welcher Mobilität können Arbeitgeber*innen ihre Angestellten zwingen? Kann sich eine Gesellschaft Privatjets und Luxusvillen leisten?
Diese und ähnliche Fragen werden in politischen Debatten in der Schweiz grösstenteils vermieden – auch in linken Kreisen. Sehr häufig ist nur von Effizienzsteigerungen, also rein technischen Lösungen, die Rede. So etwa in der Resolution des SP-Parteitags zur Stromversorgungssicherheit von Anfang 2022.
Wenn wie bei der Energiesparkampagne des Bundes dann doch von einer Reduktion der Nachfrage die Rede ist, dann bleibt das meistes auf Appelle an Einzelpersonen beschränkt. Lieber die Leute dazu aufrufen kürzer zu duschen, statt darüber nachdenken, wie der Energiebedarf in der Industrie oder im Verkehrssektor nachhaltig gesenkt werden kann.
Doch genau diese strukturelle Reduktion des Bedarfs wäre ein grosser energiepolitischer Hebel: Suffizienz wird das im Fachjargon genannt. Studien dazu gibt es für die Schweiz nur wenige. Der Verein Negawatt hat berechnet, dass sich mit Suffizienzmassnahmen bis 2050 in der Schweiz circa 20 Prozent des Endenergieverbrauchs von 2020 einsparen liessen.
Was ist ein gutes Leben?
Noch radikalere Vorschläge macht eine Gruppe von Forscher*innen um die Lausanner Sozialökologin Julia Steinberger. In einer Studie haben sie gezeigt, dass selbst bei einer Reduktion des globalen Energieverbrauchs um 60 Prozent alle Menschen auf der Welt ein gutes Leben führen könnten.
Was heisst gut? Sie hätten genügend zu Essen, eine wohltemperierte Wohnung, könnten sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht-motorisierten Fahrzeugen und einer beschränkten Zahl von Privatautos und Flugzeugen fortbewegen. Für energiehungrige Länder wie die Schweiz wäre die Reduktion noch deutlich grösser.
Damit ist zwar noch nichts über konkrete politische Massnahmen gesagt, doch solche Gedankenexperimente regen dazu an, etablierte Vorstellungen von einem guten Leben für alle grundlegend zu hinterfragen.
Wer hingegen solchen Diskussionen aus dem Weg geht, vermittelt den Eindruck, das Leben könne auch nach einer Dekarbonisierung grösstenteils weitergehen wie bisher. Aussagen wie jene von Eric Nussbaumer, es werde keine Revolution auf uns zukommen, klingen in diesem Zusammenhang eher nach einem besänftigenden Wunschdenken.
Ähnlich liest es sich in Roger Nordmanns Buch „Sonne für den Klimaschutz. Ein Solarplan für die Schweiz“ aus dem Jahr 2019: Der Umstieg auf Erneuerbare müsse „für alle ohne Einbussen beim Komfort geschehen, beziehungsweise einen angemessenen Lebensstandard für jene schaffen, die ihn noch nicht haben“. Welcher Komfort damit gemeint ist und ob dabei auch jener der reichsten Schweizer*innen zu schützen ist, beantwortet Nordmann in diesem Buch nicht.
Ein nationaler Blick
Dahinter steckt wohl ein strategischer Entscheid. „Appelle an Suffizienz verpuffen, bringen wenig, sind nicht mehrheitsfähig und für Politiker vollkommen un-sexy“, erklärt etwa der ehemalige SP-Nationalrat und Energieexperte Rudolf Rechsteiner gegenüber das Lamm.
Für ihn ist Suffizienz eine durchaus relevante, aber letztendlich private Entscheidung. Auf der politischen Ebene sei es hingegen „unter den heutigen Bedingungen grundlegend falsch“, den Stromverbrauch reduzieren zu wollen. Das sei auch gar nicht nötig, da sowieso genügend Solarstrom verfügbar wäre und eine Reduktion des Stromverbrauchs dank Effizienzmassnahmen bereits eingesetzt habe. Als „einheimisches Öl“, das weder stinkt noch CO2 emittiert, bezeichnet Rechsteiner in seinem Buch „Die Energiewende im Wartesaal“ den Strom aus Photovoltaikanlagen.
So wird die Erzeugung von ausreichend erneuerbarem Strom als rein technisches Problem dargestellt. Es wird unterschlagen, dass auch die Installation von Photovoltaikanlagen und der Ausbau der Wasserkraftreserven politische Abwägungen erfordern – etwa jene zwischen Landschaftsschutz und Klimaschutz.
Vor allem geht vergessen, dass auch Produzent*innen von Erneuerbaren Energien von globalen Materialflüssen abhängig sind. Durch den globalen Ausbau von „sauberen“ Technologien werde etwa die weltweite Lithium-Nachfrage bis 2040 um das 40-fache ansteigen, prognostiziert die Internationale Energieagentur. Das führt bereits jetzt zu lokalen Umweltkonflikten und geopolitischen Spannungen. Auch eine nachhaltige Energieproduktion kann auf neokolonialer Ausbeutung beruhen.
Mit ihrer neuen „nationalen Lithiumstrategie“ möchte zum Beispiel die chilenische Regierung ihre Kontrolle über die Lithium-Förderung ausbauen und öffentlich-private Partnerschaften fördern. Gleichzeitig gibt es in ganz Lateinamerika – wo 60 Prozent der weltweiten Lithium-Vorkommen liegen – Widerstände gegen die umweltzerstörerischen Folgen des Lithium-Abbaus. Ohne eine Transformation der Produktions- und Konsummuster, werde auch eine dekarbonisierte Wirtschaft globale Ungleichheiten und Umweltzerstörung verursachen, meint Thea Riofrancos, Expertin für Ressourcenabbau in Lateinamerika.
Unangenehme Fragen
Die linken Befürworter*innen von WKK-Anlagen liegen insofern richtig, als dass vor allem ein massiver Ausbau erneuerbarer Stromproduktion massgeblich ist. Selbst wenn dann noch einige WKK-Anlagen sporadisch in Betrieb stünden: Der gesamthafte CO2-Ausstoss würde dennoch radikal sinken.
Wir müssen uns jedoch die Frage stellen, was geschieht, wenn sich der geplante Ausbau der erneuerbaren Energieproduktion aus politischen oder technischen Gründen verzögert, die dafür nötigen Handelsflüsse ins Stocken geraten oder auch die Anliegen von Umweltbewegungen im Globalen Süden, die gegen den Abbau seltener Metalle kämpfen, in die energiepolitischen Erwägungen miteinbezogen würden.
Wenn sich die Hoffnung auf einen Überfluss an erneuerbarem Strom als Illusion erweist, stellen sich unangenehmen Fragen, auch für die Linke. Diese müsste aufzeigen, dass zwar ein gutes Leben für alle auch bei Einhaltung der planetaren Grenzen möglich ist. Aber nur unter der Voraussetzung, dass wir die Art zu produzieren und zu konsumieren radikal verändern. Es ist zu bezweifeln, ob jene dieser Aufgabe gewachsen sind, die lieber so tun, als könnte es grösstenteils weitergehen wie gehabt – einfach mit erneuerbaren Energien.
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