Die Aktion erfolgt in fünf Schritten:
- Vom Heck her nähern sich die Orcas unbemerkt dem Boot an.
- Unter dem Boot angekommen, drehen sie sich zur Seite und schlagen mit der Schwanzflosse ans Boot, während sie es umkreisen.
- Dann drücken sie das Ruder mit dem Kopf oder dem ganzen Körper in immer neue Richtungen, was das Steuern verunmöglicht.
- Irgendwann hält das Boot an, weil entweder das Steuersystem kaputt ist oder der Mensch aufgibt.
- Dann schwimmt die Gruppe weiter.
Nach diesem Schema gibt es bei der Strasse von Gibraltar seit 2020 immer wieder Konflikte zwischen zwei ungleichen Parteien. Auf der einen Seite sind Boote von bis zu fünfzehn Metern Länge, auf der anderen eine kleine, vom Aussterben bedrohte Subpopulation von 39 iberischen Orcas.
Etwa 500 Interaktionen fanden bisher statt. Bis zum eigentlichen Schiffbruch kam es dabei zwar nur drei Mal, zu menschlicher Panik und erheblichem Sachschaden aber praktisch immer. Einmal nahmen die Orcas das abgebrochene Ruder einfach mit.
Manche Forschenden vermuten, dass eine bestimmte Orcadame namens White Gladis nach einer Kollision mit einem Fischerboot auf Rache aus sei. Jetzt instruiere sie Jungtiere, sich zu wehren. Das ist allerdings reine Spekulation.
Im Netz – ich meine das Internet, kein Fischernetz – wurden die Orca-Zwischenfälle sofort als Widerstandshandlung interpretiert. Und gefeiert. Das amerikanische Magazin Jezebel titelte etwa: „Solidarität! Orcas versenken die Reichen“. Im Etsy-Onlineshop wimmelt es von kitschigen Orca-Aufklebern mit dem Slogan „Sink the Rich“.
Das Bild ist allzu verlockend: Der Mensch breitet sich nach der Pandemie wieder aus und die Wale schlagen zurück. Der perfekte Mix aus „Free Willy“ und „How to Blow Up a Pipeline“.
Ein Journalist, der sich selbst als Yuppie auf die Schippe zu nehmen scheint, verteidigte für The Atlantic im Gegenzug die Yachten: „Killerwale sind keine Helden, sondern sadistische Arschlöcher!“ Diese Entrüstung von rechts ist genauso wenig ernst gemeint wie die Solidaritätsbekundungen von links. Die Wale interessieren hier nur als lustige Metapher, nicht als Tiere.
Aber was ist mit den Orcas wirklich los? Ich frage bei einer Expertin nach.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. Animal Politique gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. Animal Politique macht das sichtbar.
Nico Müller hat den Doktor in Tierethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich politisch für Tierschutz und ‑rechte ein, besonders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.
Widerstand oder Spiel
„Ich bin gerade ein paar Tage an Land, aber völlig unter Wasser!“, sagt mir Silvia Frey am Anfang einer langen Sprachnachricht. Sie ist Umweltbiologin, Geschäftsleiterin der Meeresschutz-Organisation Kyma und immer auf dem Sprung. Momentan sammelt Kyma Unterschriften, damit der Tatbestand des Ökozids als internationales Verbrechen anerkannt wird. Den Sommer verbringt Frey aber, wie jedes Jahr, auf dem Mittelmeer und sammelt Daten.
„Rache oder Widerstand spielt in der Lebenswelt der Orcas keine Rolle“, sagt Frey dezidiert. „Wie alle Delfine sind Orcas sehr soziale und lernfähige Tiere. Die vermeintlichen Angriffe auf Boote könnten also ein Spielverhalten sein. Und dieses Verhalten kann genau so schnell verschwinden, wie es aufgetaucht ist.“
Sie bezieht sich auf vorübergehende Trends, wie sie bei Orcas schon länger dokumentiert sind. 1987 machte unter einigen Orca-Gruppen im Nordostpazifik der sogenannte Lachs-Hut-Trend die Runde. Mitglieder verschiedener Gruppen trugen für etwa sechs Wochen die Überreste toter Lachse wie einen Hut auf dem Kopf. Im Folgejahr war der Trend praktisch vorbei und kam danach nie wieder zurück.
Womöglich sind Boote für Orcas also lediglich ein Trendspielzeug – die grössten Fidget-Spinners der Welt. Und genau wie bei Fidget-Spinners ist nicht so recht klar, was die Attraktion genau ausmacht. „Die Orcas interessieren sich nicht für alle Ruder, aber ob es ihnen um die Farbe geht, die Form oder noch etwas anderes, weiss man nicht“, sagt Frey.
Eines wisse man hingegen: Wie stark Menschen in den Lebensraum der Orcas zwischen Spanien und Marokko eingreifen.
Wem gehört die Meerenge?
Die Meerenge von Gibraltar gehört zu den meistbefahrenen Wasserstrassen der Welt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit verkehren Frachtschiffe, Öltanker, Schlepper, Fischerboote, Passagierschiffe, Yachten und sogar Kriegsschiffe. Wer möchte, kann das Treiben live mitverfolgen.
Selbstverständlich verschmutzen die Schiffe das Meer enorm. Aber das ist nicht alles, wie Frey erklärt: „Es ist auch unglaublich laut in diesem Wasser.“ Messungen vor Gibraltar zeigen: Der Lärm ist immer da, aber nicht immer gleich. Nähert sich ein Frachter von über 100’000 Tonnen, kann das plötzlich lauter sein als ein Düsenjet beim Start. Und der Lärm findet auch auf den Frequenzen statt, die Orcas zur Kommunikation und Orientierung verwenden. Das macht ihnen die Nahrungssuche schwerer und ist schlecht für den Gruppenzusammenhalt – und damit fürs Überleben.
In vergangenen Jahrzehnten litt die Orca-Population zudem wegen Überfischung an Nahrungsknappheit. Obwohl dieses Problem mittlerweile weniger akut ist, führt die Fischerei weiterhin zu Konflikten. „In Marokko wird noch viel mit Leine gefischt“, sagt mir Frey. „Da nehmen die Orcas die Fische direkt ab der Leine und die Fischer ziehen gerade noch einen abgebissenen Kopf raus“. Die neuerlichen Interaktionen mit Booten heizen diese brenzlige Situation weiter an.
Was soll man da tun? Zum Glück steht bisher laut Frey nicht zur Diskussion, den Orcas etwas anzutun. Vor allem weil die Population gefährdet ist und unter Schutz steht. Falls der Trend nicht von selbst verschwinde, werde es ein System brauchen, um Interaktionen von vornherein zu verhindern. Frey meint: „Wir müssen auch grundsätzlich einen Schritt zurücktreten und uns fragen: Wem gehört diese Meerenge? Verhalten wir uns hier respektvoll?“
Das gibt mir zu denken. Die Orcas meinen ihr Spiel mit Yachten wohl kaum als Protest oder Widerstandshandlung. Aber würden sie es so meinen, hätten sie recht! Und das sollte doch reichen, damit Menschen sich überlegen, wie sie ihr Unrecht an den Orcas beenden können.
Nicht nur Orcas sträuben sich
1’700 Kilometer nordöstlich der Strasse von Gibraltar, im Aargauischen Safenwil, floh am 26. Juni 2023 eine Ziege aus dem Schlachthof. Sie reihte sich damit ein in eine lange Tradition: Im März 2022 floh ein Rind aus dem Bell-Schlachthof Oensingen, im Mai ein Stier aus dem Schlachthof Seewen. Die Geschichte nahm in jedem Fall eins von zwei bösen Enden: Rücktransport zum Schlachthof oder Erschiessung auf offener Strasse. Als Letzteres 2016 beim Schlachthof Zürich geschah, habe ich im Anschluss mitdemonstriert. Aber es geschieht ständig.
Egal ob im Atlantik oder im Aargau: Tiere passen grundsätzlich nicht in menschliche Industrien und Ausbeutungssysteme. Sie stellen sich quer, sie bocken, sie verweigern die Kooperation, sie richten Schäden an, sie schreien, sie fliehen. Selbst ein System wie ein Schlachthof, das minutiös darauf ausgelegt ist, die Tiere gefügig zu machen, ist dagegen nicht immun.
Die typische Reaktion auf diese Fluchtversuche ist Belustigung und Verniedlichung wie bei den Orca-Zwischenfällen. Die Tiere sind zum Beispiel immer „ausgerissen“, „ausgebüxt“, „abgehauen“. Der flüchtende Stier hat einen Lausbubenstreich gespielt, hihi, haha, was für ein kleines Schlitzohr.
Wir sind nicht weiter als 1961, als der Oltner Kantischüler Franz Hohler seiner Lokalzeitung schrieb, es sei herablassend und verächtlich, eine Schlachthausflucht mit den Worten zu beschreiben: „Eine Kuh verlor die Nerven.“ Wer würde denn nicht die Nerven verlieren, wenn sie oder er zur Schlachtbank geführt wird?
Klar, so ein Fluchtversuch ist umgekehrt auch kein politischer Akt. Er ist keine Selbstermächtigung, keine Widerstandshandlung, kein ziviler Ungehorsam gegen fundamental ungerechte Gesetze. Diese Dinge existieren in der Lebenswelt der Ziegen und Rinder nicht.
Aber würden sie es so meinen, dann hätten sie recht. Und das sollte doch eigentlich genug sein, damit wir uns hintersinnen.
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