Geflüch­te­ten­camp in Uganda: Kaputte Rollstühle

Parti­zi­pa­tion, Mitsprache und Ermäch­ti­gung: Darauf beruht der Ansatz, um Menschen mit Behin­de­rungen auf der Flucht zu unter­stützen. Was gut klingt, hat seine Schat­ten­seiten. Das zeigt der Fall des Lagers Kyang­wali in Uganda. 
Die Hilfsorganisationen im Kyangwali Refugee Camp haben zu wenig Geld, um bereits verteilte Rollstühle zu reparieren – oder andere Prioritäten. (Foto: Maria-Theres Schuler)

„Jetzt ist ein Jahr vergangen und nicht einmal ein Stück Seife habe ich bekommen. Sie haben auch mein Tricylce nicht repa­riert, nichts!” Pierre Karemera’s Stimme wird lauter, als er über die fehlende Unter­stüt­zung der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen in Kyang­wali, einem Geflüch­te­ten­camp im Westen Ugandas, spricht. Die spröden Pneus seines Drei­rads könnten jeder­zeit in die Brüche gehen und ohne kann sich Kare­mera nicht fort­be­wegen – seine gelähmten Beine können ihn nicht tragen.

Der rund 80-jährige Mann aus Burundi spricht von starken Schmerzen in seinen Gelenken: vor allem in den Schul­tern, auf deren Kraft er ange­wiesen ist, um sich auf sein Tricycle hinauf und hinunter zu manö­vrieren und um es anzu­kur­beln. Er öffnet die quiet­schende Blech­türe in den dunklen Raum seiner Hütte, die von einem von der Decke hängendem Tuch zwei­ge­teilt wird. In einem Stapel von Doku­menten kramt er nach einem Schul­heft und zeigt darin die Notiz eines Arztes über seine Beschwerden. „Ich habe den Bericht hier, aber sie helfen mir nicht”, sagt er.

Viele Geflüch­tete in Uganda haben keinen Zugang zu medi­zi­ni­scher Grund­ver­sor­gung: In den Gesund­heits­zen­tren fehlt es laut dem UNHCR, der UN-Agentur für Geflüch­tete, an Betten, Medi­ka­menten und Personal. Uganda beher­bergt über 1.5 Millionen Geflüch­tete, vor allem aus der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo und dem Südsudan. Es ist das Land mit den meisten Geflüch­teten in Afrika und eines mit den meisten welt­weit.

Gleich­zeitig ist Uganda eines der am stärk­sten unter­fi­nan­zierten Einsatz­ge­biete des UNHCR und seiner Part­ner­or­ga­ni­sa­tionen. Nur rund die Hälfte des für 2022 vorge­se­henen Budgets konnte die Agentur für das Land bereit­stellen; fürs Jahr 2023 waren Ende Oktober erst 39 Prozent finan­ziert. Grund dafür ist die welt­weite Zunahme von Geflüch­teten, nicht zuletzt wegen dem Ukraine-Krieg, der mit dem Preis­an­stieg für Lebens­mittel und Treib­stoff auch die huma­ni­täre Hilfe selbst verteuert hat. Die Spenden aus wohl­ha­benden Ländern sind zwar gestiegen, aber nicht annä­hernd so schnell wie der Bedarf.

In Kyang­wali ist all dies spürbar, vor allem für Menschen mit Behin­de­rungen. Es sind aber nicht nur die Finan­zie­rungs­lücken, die gerade dieser Gruppe das Leben schwer machen.

Eine hohe Dunkelziffer

„Wenn wir Gehstöcke oder Hörge­räte verteilen, suchen wir uns die auffäl­lig­sten Fälle aus. Nicht, weil wir die anderen Fälle nicht sehen, sondern wegen der begrenzten Mittel”, sagt George Akena. Er arbeitet als Physio­the­ra­peut für Huma­nity & Inclu­sion, eine in Genf ansäs­sige Orga­ni­sa­tion, die bis vor kurzem unter dem Namen Handicap Inter­na­tional agierte. „Es ist wirk­lich eine grosse Heraus­for­de­rung, die Personen ständig auf Warte­li­sten setzen zu müssen”, sagt Akena im kleinen Büro der NGO in Kyang­wali. In einer Ecke lagern in Plastik einge­packte Krücken.

Auch Kiwa­nuka Rudovic, der direkt nach seinem Studium einen Job als Psycho­loge bei Huma­nity & Inclu­sion annahm, ist bei dem Gespräch dabei. „Diese Ressour­cen­knapp­heit bedeutet auch, dass wir uns eher auf die Personen konzen­trieren, die noch gar keine Unter­stüt­zung erhalten haben, anstatt die bereits verteilten Mobi­li­täts­hilfen zu ersetzen”, sagt er. 

Im Februar 2023 lebte laut dem UNHCR fast jede zwan­zigste Person in Kyang­wali mit einer Behin­de­rung. Diese Zahl ist im inter­na­tio­nalen Vergleich tief: Laut Schät­zungen der WHO ist welt­weit fast jeder sechste Mensch von Behin­de­rung betroffen. Die beiden Experten in Kyang­wali vermuten, dass die tiefe Prozent­zahl im Geflüch­te­ten­lager vor allem Ausdruck einer weitaus höheren Dunkel­ziffer ist. „Das liegt am Scree­ning, das drin­gend verbes­sert werden muss”, sagt Rudovic von Huma­nity & Inclu­sion. „Gerade Menschen mit einer mentalen Beein­träch­ti­gung – sei es Depres­sion oder eine post­trau­ma­ti­sche Störung – werden oft übersehen.”

Als eine der wenigen NGOs, die sich auf Menschen mit Behin­de­rungen konzen­trieren, gilt Huma­nity & Inclu­sion als die Anlauf­stelle zum Thema Behin­de­rung in Kyang­wali. Doch keine der betrof­fenen Personen, mit denen das Lamm für diesen Artikel gespro­chen hat, hat die Orga­ni­sa­tion erwähnt – auch Pierre Kare­mera nicht.

Tricy­cles wie dasje­nige von Kare­mera müssten regel­mässig repa­riert werden. (Foto: Maria-Theres Schuler)

Vor seiner Hütte zählt er die Orga­ni­sa­tionen auf, die in den letzten Jahren gekommen und gegangen sind, um Menschen wie ihm – Personen mit spezi­ellen Bedürf­nissen, wie sie die Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen bezeichnen und kate­go­ri­sieren – zu helfen: Action Africa Help, World Vision, Danish Refugee Council, Israaid, American Refugee Committee, Alight, Lutheran World Fede­ra­tion. Von der letzt­ge­nannten erhielt Kare­mera ein weiteres Tricycle, das er nur kurze Zeit benutzt hat und dessen blau-metal­lener Rahmen nun verstaubt und mit flachen Pneus an der Wand seiner Hütte lehnt. 

Dass Kare­mera die Orga­ni­sa­tion Huma­nity & Inclu­sion nicht kennt, sollte nicht über­ra­schen. Denn sie ist nur eine von insge­samt 43 Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen, die im Januar 2023 in Kyang­wali vor Ort sind. In dem Dorf, das ins Camp führt, kündigt ein ganzer Wald von älteren und neueren Schil­dern deren Präsenz an. Das UNHCR koor­di­niert und über­wacht all diese Orga­ni­sa­tionen – und finan­ziert sie teil­weise. Als Haupt­geld­ge­berin entscheidet die Agentur, welche Zustän­dig­keiten wie etwa Gesund­heits­ver­sor­gung, sani­täre Anlagen oder Bildung sie an welche NGO vergibt. Andere NGOs führen ihre Akti­vi­täten im Camp mit eigenen finan­zi­ellen Mitteln durch.

“Sie essen das Geld”

Kare­mera hat eine klare Meinung zu vielen dieser Orga­ni­sa­tionen: „Es scheint, als würden sie das Geld einfach essen.” So wird es in Uganda ausge­drückt, wenn jemand der Korrup­tion verdäch­tigt wird. Das Geld sei da, aber die NGOs wollen es nicht verteilen, hiess es von Menschen mit Behin­de­rungen bereits damals, als die Spen­den­gelder noch weniger rar waren.

Dass die Geflüch­teten in Kyang­wali so skep­tisch sind, hat unter anderem damit zu tun, dass sie unter ganz anderen Umständen leben als die anwe­senden huma­ni­tären Helfer*innen. Das weit­läu­fige UNHCR-Gelände in Kyang­wali ist mit hohen Mauern in strah­lendem Weiss und Blau – und Stachel­draht – umgeben. Ein Blick auf die modernen und klima­ti­sierten Büros ist nur möglich, wenn sich das grosse Tor für die weissen UN-Land­cruiser öffnet. Autos, die die Mitar­bei­tenden “ins Feld” bringen, wie es in ihrer Fach­sprache heisst, wenn sie Haus­be­suche, Schu­lungen oder Evalua­tionen in den Dörfern durch­führen. Und die Jobs sind gut bezahlt: Je nach Zustän­dig­keiten, Berufs­er­fah­rung und Dienst­alter verdienen NGO- und UN-Mitar­bei­tende in Kyang­wali zwischen 800 und 10’000 Dollar im Monat.

Hinzu kommt, dass im Jahr 2018 in Uganda ein Korrup­ti­ons­skandal in der Verwal­tung der Geflüch­teten aufge­deckt wurde. Sowohl das UNHCR als auch die ugan­di­sche Regie­rung waren darin invol­viert. Dutzende Millionen Dollar verun­treute das UNHCR, indem Mitar­bei­tende Aufträge an Schein­firmen vergaben und zu viel für Waren und Dienst­lei­stungen verbuchten. Gleich­zeitig über­höhte die ugan­di­sche Regie­rung die Zahl der Geflüch­teten in ihrer Daten­bank um 300’000, um mehr Geld einzukassieren.

Heute gibt es in Kyang­wali wie in den anderen Camps in Uganda eine kosten­lose Beschwerde-Hotline und diverse Beschwer­de­kä­sten. Zudem hängen überall Plakate mit der Aufschrift: „Jeder Service ist gratis” und „Null Tole­ranz für Betrug, Korrup­tion und Schmiergelder”.

Dass sich Menschen mit Behin­de­rungen in Kyang­wali trotz dieser Mühen betrogen fühlen und den Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen miss­trauen, hat aber noch andere Gründe.

Noch nie seit dem Zweiten Welt­krieg waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Davon finden 74 Prozent Zufucht in Ländern des Globalen Südens – also in Ländern, die deut­lich weniger Ressourcen haben als etwa die Schweiz. 

Uganda nimmt mit 1.5 Millionen die meisten Geflüch­teten unter afri­ka­ni­schen Ländern auf; welt­weit liegt das Land an fünfter Stelle. Gleich­zeitig haben huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen zu wenig Geld, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen.

Was bedeutet diese Situa­tion für Menschen, die aufgrund einer Poli­o­er­kran­kung im Roll­stuhl sitzen oder die wegen Kriegs­hand­lungen Glied­massen verloren haben?

In einer drei­tei­ligen Serie geht das Lamm der Frage nach, wie Menschen mit körper­li­chen Beein­träch­ti­gungen – beson­ders verletz­liche Personen unter den Geflüch­teten – die aktu­elle Situa­tion im Kyang­wali Refugee Camp* in Uganda erleben, wo die Zahl der Geflüch­teten stetig steigt, während die Hilfs­gelder schwinden.

Die Recherche wurde finan­ziell durch den Medi­en­fonds „real21 — die Welt verstehen“ unter­stützt. Sie fand im Januar 2023 statt, die Autorin bezieht sich aber auch auf die Jahre 2015 und 2016, als sie zu diesem Thema im Kyang­wali Refugee Camp forschte.

* In Uganda wird zwischen Lagern (Camps) und Sied­lungen für Geflüch­tete unter­schieden: Erstere bieten keinen Zugang zu land­wirt­schaft­li­chen Flächen und in der Regel weniger Bewe­gungs­frei­heit. Da aber beide Struk­turen in der Art und Weise, wie sie Menschen orga­ni­sieren und kontrol­lieren, sehr ähnlich sind, verwenden wir in diesen Arti­keln beide Begriffe.

Bedürf­nis­ab­klä­rung und Befragungen

Marcelin Buse­mer­erwa sitzt von drei Kindern umgeben auf einer Matte vor ihrer Hütte, sie trägt ein loses T‑Shirt mit dünnen Trägern und einen pinken, schmut­zigen Rock. Vor ihr steht eine metal­lene Schüssel, in die sie die Mais­körner fallen lässt, die sie von den Kolben pullt. Sie erzählt, dass sie sich nun schon seit mehr als einem halben Jahr allein um die Kinder kümmert. Ihr Mann sei in den Kongo zurück­ge­kehrt. Sie lacht bitter, als sie erwähnt, dass er sie damals krank im Spital zurück­ge­lassen hat.

Die sieben­jäh­rige Tochter von Buse­mer­erwa trägt die mit Mais­kör­nern gefüllte Schüssel zur Koch­stelle in der Hütte und kommt mit einer leeren zurück. Buse­mer­erwa ist auf die Hilfe ihrer Kinder ange­wiesen, da ihre Beine seit einer Poli­o­er­kran­kung in der Kind­heit gelähmt sind. Sie stützt sich auf ihre Knie und Hände, um sich im und um das Haus fortzubewegen.

„Es sind so viele Geflüch­tete. Wir schlafen hungrig, ich kann mich kaum um die Kinder kümmern und unsere Unter­brin­gung ist schlecht”, sagt sie. Eine löch­rige Woll­decke verdeckt den Eingang zu dem Zimmer, in dem sie mit ihren Kindern schläft. An vielen Stellen bröckelt der Lehm von der Wand und hinter­lässt Lücken. 

Oft bleibt Hilfe wie der Bau einer Hütte oder die Repa­ratur eines Roll­stuhls ganz aus oder verzö­gert sich enorm, weil die Budgets der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen die Bedürf­nisse nicht decken können.

Auch sie ist miss­trau­isch gegen­über den Mitar­bei­tenden der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen, die ständig vorbei­kommen, um Menschen mit spezi­ellen Bedürf­nissen zu iden­ti­fi­zieren und um zu evalu­ieren, welche Hilfe sie benö­tigen. „Wenn du ihnen kein Geld gibst, nehmen sie deinen Namen nicht auf die Liste der bedürf­tigen Personen”, sagt Buse­mer­erwa. Sie habe sich bei ihnen über den Zustand ihrer Hütte beschwert; sie habe sie darum gebeten, ihren kaputten Roll­stuhl zu ersetzen; sie habe ihre schwie­rige fami­liäre Situa­tion geschil­dert. Aber danach geschah jeweils nichts. Oder jeden­falls nicht das, was Buse­mer­erwa erwartet hatte.

Die Abklä­rungen und Befra­gungen sind inte­graler Bestand­teil der Arbeits­ab­läufe der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen in Kyang­wali: Mitar­bei­tende müssen die Bedürf­nisse der Geflüch­teten laufend regi­strieren, um Berichte und Projekt­be­schrei­bungen zu verfassen, mit dem Ziel, Gelder zu erhalten und gegen­über den Geldgeber*innen Rechen­schaft abzu­legen. Für Geflüch­tete gene­rell, aber beson­ders für Menschen mit Behin­de­rungen mit ihren zusätz­li­chen Bedürf­nissen bedeutet dies vor allem eins: Erwar­tungen, die immer wieder enttäuscht werden. Denn oft bleibt Hilfe wie der Bau einer Hütte oder die Repa­ratur eines Roll­stuhls ganz aus oder verzö­gert sich enorm, weil die Budgets der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen die Bedürf­nisse nicht decken können.

Diese Situa­tion schürt Miss­trauen. „Ich denke, dass dieje­nigen, die uns regi­strieren, viel­leicht nicht alle unsere Beschwerden in die Büros bringen”, sagt Buse­mer­erwa. „Oder sie sagen dir, du sollst unter­schreiben und gehen am näch­sten Tag zum Büro, um zu zeigen, dass die Unter­stüt­zung gelei­stet wurde. Doch wir haben sie nicht erhalten!”

Hinzu kommt: Buse­mer­erwa hat nie zu lesen und schreiben gelernt. Oft weiss sie nicht genau, wozu sie einwil­ligt oder was sie bestä­tigt, wenn sie ihren Daumen auf das Stem­pel­kissen und dann auf die Papiere der huma­ni­tären Helfer*innen drückt.

Teil­habe, Mitsprache und Ermächtigung

Inter­na­tional haben sich huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen späte­stens auf dem Welt­gipfel für huma­ni­täre Hilfe 2016 dazu verpflichtet, die Begün­stigten von Hilfe in Entschei­dungen mitein­zu­be­ziehen. Die Betrof­fenen sollen mitbe­stimmen können, welche Waren und Dienst­lei­stungen sie erhalten. Gerade für Menschen mit Behin­de­rungen wurde dies immer wich­tiger. Denn seit die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion im Jahr 2008 für die 175 unter­zeich­nenden Staaten in Kraft trat, ist das Bewusst­sein für die Rechte von Menschen mit Behin­de­rungen auch in der huma­ni­tären Arbeit gestiegen.

„Es liegt an uns, Menschen mit Beein­träch­ti­gungen zu befä­higen und sie in alle Programme einzu­binden. Sie müssen an allen Program­mie­rungs­schritten betei­ligt werden”, sagt George Akena von Huma­nity & Inclu­sion. Die Orga­ni­sa­tion stellt hierfür beispiels­weise sicher, dass Rampen bei Büros gebaut werden oder dass Dolmetscher*innen für Gebär­den­sprache verfügbar sind. Sie bauen auch Verei­ni­gungen auf, in denen Menschen mit Behin­de­rungen ihre Inter­essen vertreten können.

Akena und sein Kollege Kiwa­nuka Rudovic spre­chen von „bedeu­tungs­voller Teil­nahme an der Gesell­schaft” und „Besei­ti­gung von Barrieren”, sie benutzen Begriffe wie „gemein­schafts­ba­sierte Inter­ven­tionen” oder „Main­strea­ming von Dienst­lei­stungen”, um die Arbeit von Huma­nity & Inclu­sion zu beschreiben. Die Orga­ni­sa­tion setzt ihren Fokus klar auf die struk­tu­rellen Heraus­for­de­rungen, mit denen sich Menschen mit Behin­de­rungen konfron­tiert sehen. Deshalb stehen bei Huma­nity & Inclu­sion auch Trai­nings, Aufklä­rung und Lobby­ar­beit über die Rechte von Menschen mit Behin­de­rungen im Vordergrund.

Das sind alle­samt Arbeiten, die von den Betrof­fenen jedoch kaum wahr­ge­nommen, geschweige denn als die wich­tigste Hilfe für sie verstanden werden. „Ich möchte eine stabile Hütte, eine rich­tige Matte, damit die Kinder gut schlafen können und Geld, um mein Geschäft wieder aufzu­bauen“, sagt etwa Buse­mer­erwa. Ihre zwei Mädchen turnen auf ihren Beinen und auf der Matte in der Hütte herum, die Prin­zessin auf dem ausge­bleichten Kleid der älteren Tochter ist kaum mehr erkennbar.

Bereits 2015 kam eine parti­zi­pa­tive Evalua­tion des UNHCR in Kyang­wali zum Ergebnis, dass sich Menschen mit Behin­de­rungen vor allem eins wünschen: Unter­stüt­zung, um sich in Notlagen sowohl Essen oder medi­zi­ni­sche Behand­lung leisten zu können, um sich selbst eine wirt­schaft­liche Tätig­keit aufzu­bauen oder die Schul­bil­dung ihrer Kinder zu ermög­li­chen. Am lieb­sten in Form von Geld, um selb­ständig über die Ausgaben entscheiden zu können.

Warum Trai­nings allein nicht ausreichen

Wegen der Finan­zie­rungs­lücken zielen das UNHCR und die Part­ner­or­ga­ni­sa­tionen in Uganda vor allem darauf ab, dass die Geflüch­teten wirt­schaft­lich selb­ständig und nicht von Hilfs­gü­tern abhängig sind. Das ist für Menschen mit physi­schen Beein­träch­ti­gungen im Kontext von Ugandas Sied­lungs­po­litik von beson­derem Belang, weil viele von ihnen das zuge­teilte Land nicht bebauen können. Für sie stellen die Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen höhere Essens­ra­tionen bereit und orga­ni­sieren zusätz­liche Trai­nings, in denen Menschen mit Behin­de­rungen in meist zwei-tägigen Work­shops etwa lernen, Schuhe zu flicken, Taschen zu nähen oder Seife herzu­stellen. Doch viele der Betrof­fenen in Kyang­wali üben Kritik an diesen Programmen.

Der ältere Mann Pierre Kare­mera sagte in einem früheren Gespräch: „Wenn du einem Menschen das Fischen lehrst, sollst du ihm auch eine Angel­rute geben. Die Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen unter­richten uns, aber sie geben uns kein Mate­rial. Ich habe Hände und Fähig­keiten, aber ich brauche Mate­rial, um arbeiten zu können.” 

Was Kare­mera sagt, ist eine von vielen Kritiken an der durch zahl­reiche Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen vertre­tenen Maxime „Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag – lehre einen Mann zu fischen, und du ernährst ihn ein Leben lang”. Diese Maxime umschreibt die Über­zeu­gung, dass Entwick­lungs­ar­beit den Begün­stigten produk­tive Fähig­keiten und Möglich­keiten vermit­teln soll, anstatt ihnen Almosen zu geben.

Noch immer ist unter Mitar­bei­tenden von huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen die Haltung weit verbreitet, dass die Empfänger*innen unver­ant­wort­lich mit dem erhal­tenen Geld umgehen würden. 

Das Beispiel von Kare­mera verdeut­licht aber: Die Fähig­keiten, die er in diesen Trai­nings lernt, hat er schon längst. Bereits als 20-Jähriger reiste er von Burundi nach Uganda, um in einem Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum eine Ausbil­dung zu absol­vieren, wo er Schuhe und Gehhilfen für Menschen mit Behin­de­rungen herstellte. Mit seinem Zerti­fikat erhielt er Arbeit in Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­tren in ganz Ostafrika: in Tansania, in Ruanda und im Kongo – bis er vor dem Krieg im Ostkongo nach Kyang­wali floh.

Pierre Kare­mera würde auch im hohen Alter noch arbeiten, wenn er dafür die rich­tige Unter­stüt­zung erhielte. (Foto: Maria-Theres Schuler)

Viele der Menschen, die in Kyang­wali mit einer körper­li­chen Beein­träch­ti­gung leben, haben irgend­wann in ihrem Leben ein Hand­werk gelernt und wissen genau, wie man beispiels­weise mit Scheren und Nadeln arbeitet. Was ihnen fehlt, sind Mate­ria­lien oder Start­ka­pital, um ein Geschäft aufzu­bauen. Doch die Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen konzen­trieren sich auf Schu­lungen und Sensi­bi­li­sie­rung; sie bevor­zugen Anlei­tungen zur Selbst­hilfe gegen­über der Bereit­stel­lung von Ressourcen. Denn dies stimmt auf den ersten Blick mit dem aktu­ellen Entwick­lungs­dis­kurs überein, der Ermäch­ti­gung und Nach­hal­tig­keit fördern und Abhän­gig­keit verhin­dern will.

Geld bedeutet Selbstbestimmung

„Wenn ich Geld bekäme, wüsste ich genau, was ich damit machen würde”, sagt Buse­mer­erwa. Bevor ihr Mann in den Kongo zurück­kehrte, hatten sie über Jahre sowohl an einem wöchent­li­chen Markt in Kyang­wali wie vor ihrer Hütte lokal gebrauten Schnaps verkauft. Alles Geld aus diesem Geschäft brauchte sie aber für Medi­ka­mente nach ihrem Spital­auf­ent­halt auf. „Wenn ich Geld bekäme, könnte ich wieder arbeiten. Ich könnte Reis und Seife verkaufen”. Die Kinder würden ihr beim Trans­port der Waren helfen, versi­chert sie.

Dass die betrof­fenen Menschen selbst am besten wissen, wie sie Geld nach­haltig für ihr eigenes Leben inve­stieren, findet zuneh­mend Ausdruck in Ansätzen für direkte Geld­trans­fers in Lagern für Geflüch­tete. Aber nur stockend: Noch immer ist unter Mitar­bei­tenden von huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen die Haltung weit verbreitet, dass die Empfänger*innen unver­ant­wort­lich mit dem erhal­tenen Geld umgehen würden. 

Hinzu kommt, dass sich die Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen jeweils auf abge­grenzte Sektoren der Hilfe fokus­sieren: Bildung, Gesund­heit, Unter­kunft, Nahrung oder Lebens­un­ter­halt werden separat program­miert und finan­ziert. Statt­dessen wären gross ange­legte Cash-Trans­fer­pro­gramme notwendig, die die indi­vi­du­ellen Aufgaben und restrik­tiven Mandate der verschie­denen Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen über­brücken und die Lebens­rea­li­täten der Geflüch­teten ganz­heit­lich betrachten. 

Nichts­de­sto­trotz bleiben Dienst­lei­stungen wie dieje­nigen von Huma­nity & Inclu­sion essen­ziell: Hilfs­mittel wie Roll­stühle oder Gehstöcke verteilen, den Zugang zu Bildung für Kinder mit Behin­de­rungen ermög­li­chen, psycho­lo­gi­sche Betreuung anbieten oder über Rechte von Menschen mit Behin­de­rungen sensi­bi­li­sieren, sind zentrale Bausteine der huma­ni­tären Arbeit. 

Aber weil diese Art der Hilfe nicht immer dem entspricht, was die betrof­fenen Menschen als das Wich­tigste für ihr Leben betrachten, und weil sich huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen trotz dem Grund­satz der Part­zi­pa­tion eher an den Bedürf­nissen der Geldgeber*innen als denje­nigen der Betrof­fenen orien­tieren, bleiben Miss­trauen und Enttäu­schung gross. Gerade, wenn die finan­zi­ellen Mittel nicht ausreichen.

Marcelin Buse­mer­erwa betonte dies eines Tages tref­fend in einem Gespräch über ein Projekt von World Vision, das zwischen 2014 und 2015 Work­shops für Menschen mit Behin­de­rungen orga­ni­sierte, um über ihre Rechte und Inklu­sion zu spre­chen. Auf die Frage, was sie von den Treffen mit dieser NGO mitge­nommen habe, reagierte sie zunächst fragend: „Was sie mir gesagt haben? Das meiste davon habe ich vergessen”. Der Über­setzer ermu­tigte sie: „Nur das, woran du dich erin­nern kannst”, worauf sie schroff antwor­tete: „Du kannst dich nur an das erin­nern, was dir gegeben wurde”.

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