Wie geht es eigentlich den Tieren in Gaza, in der Ukraine, im Sudan? Bomben und Gewehrschüsse treffen immerhin auch sie. Aber die Frage wirkt fast unangebracht. In Kriegen leiden und sterben Menschen, werden vertrieben und traumatisiert – was interessieren uns da die Tiere?
So liest man in deutschsprachigen Medien kaum über Tiere im Krieg. Tierorganisationen halten sich mit Kommentaren zurück. Und diese Animal Politique-Kolumne hat hinter den Kulissen für mehr Diskussionen gesorgt als jede vorherige. Wer nach Tieren fragt, droht von Menschen abzulenken.
Aber es ist interessant, wie selektiv wir dieses Entweder-oder-Denken anwenden. Zum Vergleich: Die meisten Leute würden in einem brennenden Haus eher ein Kind retten als einen Senior, wenn sie sich entscheiden müssten. Aber wir würden deshalb noch lange nicht sagen: Im Krieg leiden und sterben Kinder, werden vertrieben und traumatisiert – was interessieren uns da die Senior*innen? Hier wäre uns klar: Das eine schliesst das andere nicht aus. Im Gegenteil, das Leid von Enkeln und Grosseltern hängt sogar zusammen.
Aber Tiere sind anders. Zumindest werden sie anders gesehen. Im Wesentlichen sind sie eine Extremform von sozialen Aussenseiter*innengruppen, fasst der Bioethiker T. J. Kasperbauer zusammen. Sie werden als fremd und unberechenbar wahrgenommen, als „sie gegen uns“. Das ist auf denselben Skalen messbar wie Vorurteile gegen marginalisierte Menschen. Sie korrelieren auch miteinander. Darum essen Rechte tendenziell mehr Fleisch.
Diese Herabwertung von Tieren ist aber nicht der einzige Grund, warum ihr Leiden mit demjenigen von Menschen in Konkurrenz gesetzt wird. Auch die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung trägt Mitschuld daran.
Problematische Vergleiche
Es ist kein Geheimnis, dass Tierliebe historisch oft mit Menschenhass verbunden war. Zum Beispiel forderte die allererste Schweizer Volksinitiative 1893 ein Verbot des Schächtens, also des Schlachtens von Tieren ohne vorherige Betäubung. Das kam zwar tierschützerisch daher, war aber vor allem gegen koscheres Schlachten gerichtet und antisemitisch motiviert.
In Deutschland führte das Nazi-Regime 1933 das erste Tierschutzgesetz ein. Hitler war zwar kein konsequenter Vegetarier, posierte mit seiner Hündin „Blondi“ aber gern als Tierfreund. Wie der Journalist Jan Mohnhaupt in seinem Buch erzählt, waren es in Wahrheit drei verschiedene Hündinnen mit demselben Namen – eine verdrehte Maskerade der Tierliebe, die aber beim Publikum verfing.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie leichtfertig die Tierrechtsbewegung der letzten zwanzig Jahre mit dem Thema Genozid umgegangen ist. So lancierte People for the Ethical Treatment of Animals (PETA) 2003 die Kampagne „Holocaust auf deinem Teller“. Das Argument lautete im Wesentlichen: Was mit Tieren in Schlachthäusern geschieht, sei genau wie das, was damals mit Menschen geschah. Also müsse man dagegen sein.
Den Vergleich kennt man auch in der Schweiz. Der grüne Nationalrat Jonas Fricker machte ihn 2017 im Parlament – und erntete so heftige Reaktionen, dass er als Entschuldigung zurücktrat. Innerhalb der Tierrechtsszene führte die Vergleichsrhetorik zu tiefen Grabenkämpfen. Der prominente Schächtgegner Erwin Kessler verwendete den „Holocaust-Vergleich“ insbesondere fürs Schächten.
Diese Rhetorik soll moralischen Horror vermitteln, kein tieferes Verständnis.
Kessler wurde deshalb von Tierrechtsdemos ausgeschlossen und als Antisemit benannt, woraufhin er Dutzende Tierrechtler*innen vor Gericht zog. Das Bundesgericht bestätigte im Jahr 2000, dass zumindest manche Einzelpersonen Kessler straffrei Antisemit nennen durften. Er verstarb 2021.
Seither sieht man die grobe Vergleichsrhetorik kaum noch, aber die Tierrechtsbewegung ist deswegen nicht auf einen Schlag rehabilitiert.
Trivialisierende Rhetorik
Der „Holocaust-Vergleich“ ist verheerend für die Beziehung der Tierrechtsbewegung zu anderen Gerechtigkeitsbewegungen, weil er trivialisiert. Soll heissen: Er spielt Wichtiges herunter, verkürzt es, vereinfacht es.
Er reduziert die Schoa auf eine Chiffre für technisch durchoptimiertes Massentöten. Das ist die Überschneidung mit der Fleischindustrie. Dass die Schoa ein Vernichtungsprojekt basierend auf politischen Hassideologien war, die wiederum eine bestimmte Geschichte haben, wird dadurch verklärt.
Der Vergleich lenkt den Blick also weg von Aspekten, die man sehen muss, um die Nazi-Verbrechen zu verstehen und ähnliche Verbrechen in Zukunft verhindern zu können. So entsteht ein direkter Konflikt zwischen den Interessen von Menschen und Tieren.
Die Tierrechtsbewegung hat sich in eine Gesprächssituation manövriert, in der sie Tierleid ausgerechnet dann totschweigen muss, wenn es mit Menschenleid einhergeht.
Der „Holocaust-Vergleich“ ist jedoch kein Einzelfall. Die Tierrechtsbewegung hat auch andere Vergleiche mit Gräueltaten an Menschen bemüht. Zum Beispiel mit der US-amerikanischen Sklaverei oder bezüglich Tierversuchen mit der berüchtigten Syphilis-Studie von Tuskegee. Dabei werden die so konstruierten Schemata auch den spezifischen Eigenheiten der Tierausbeutung nicht gerecht.
Diese Rhetorik soll moralischen Horror vermitteln, kein tieferes Verständnis. Sie erzeugt viel Hitze, wenig Licht. Und indem sie versucht, das Publikum auch mal an Tiere denken zu lassen statt nur an Menschen, setzt sie Menschen und Tiere unweigerlich in Konkurrenz zueinander.
Und darum kann man heute kaum über Tiere in Gaza, in der Ukraine oder im Sudan schreiben, ohne dass es so klingt, als würde man von Menschen ablenken wollen. Die Tierrechtsbewegung hat sich in eine Gesprächssituation manövriert, in der sie Tierleid ausgerechnet dann totschweigen muss, wenn es mit Menschenleid einhergeht.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. „Animal Politique“ gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. „Animal Politique“, geschrieben von Tierethiker Nico Müller, macht das sichtbar.
Es geht auch anders
Sehen wir uns mal ein konkretes Bild eines Tiers im Krieg an: Ein vielleicht achtjähriges Kind mit vollgepacktem Rucksack überquert eine Strasse im zerbombten Gaza und hält dabei notdürftig eine Katze fest, die ihm aus den Armen zu gleiten droht.
Es nimmt nichts vom Leid des Kindes weg, wenn man das Leid der Katze mitdenkt – im Gegenteil. Katzen mögen keine ungewohnten Umgebungen, fremde Leute und plötzlichen Lärm. Sie brauchen Routine und Rückzugsorte. Bei Gefahr laufen sie weg und verstecken sich. Fällt die Katze runter, verschwindet sie also höchstwahrscheinlich für immer. Wer den Stress der Katze sieht, sieht auch, wie fragil und flüchtig der letzte Rest eines Zuhauses für das abgebildete Kind ist.
Das muss das Ziel sein: eine Perspektive auf Menschen- und Tierleid, die beide schärfer sieht, weil sie sie zusammen sieht.
Ebenso wenig nimmt es vom Leid der Vertriebenen weg, wenn man die Esel beachtet, die sie mangels Benzin als Zugtiere verwenden. Sie werden oft umso mehr geschlagen, wenn sie vor Angst stillstehen, erzählt ein Vertreter einer Hilfsorganisation gegenüber The Independent. Ihre Wunden sind also das Produkt der Panik zweier Spezies.
Das muss das Ziel sein: eine Perspektive auf Menschen- und Tierleid, die beide schärfer sieht, weil sie sie zusammen sieht. Das geht nicht nur mit Bildern, sondern auch mit Gedanken. Man stelle sich zum Beispiel eine Zukunft vor, in der auch Tierrechtler*innen intervenieren, wenn ein Politiker sagt, sein Land würde „menschliche Tiere bekämpfen“, wie es Verteidigungsminister Yoav Gallant letzten Oktober tat. Tierrechtler*innen könnten dies als rhetorische Figur analysieren, die sowohl menschen- als auch tierverachtend ist. Man kann sich mit dem Verhältnis von Menschen- und Tiergräueln so auseinandersetzen, dass es allen zugutekommt.
Damit das klappt, muss die Tierrechtsbewegung aber dringend auf plumpe Vergleichsrhetorik verzichten. Das tut sie zum Glück zunehmend. Sie muss sich fürs Leid unterdrückter Menschen interessieren, es verstehen und zu seiner Analyse und Bekämpfung etwas beitragen wollen.
Es braucht nicht nur einen Bogen um Menschenhass, sondern aktives Engagement dagegen. So setzt sich die Tierrechtsbewegung nicht bloss in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit durch, sondern ist ein solidarisches Mitglied in einer Familie von Gerechtigkeitsbewegungen.
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