“Die Preise steigen nicht, sie werden von Unter­nehmen erhöht”

Wie kapi­ta­li­sti­sche Sprach­mu­ster unser Denken prägen und Macht­ver­hält­nisse verschleiern, zeigen Simon Sahner und Daniel Stähr in ihrem Buch „Die Sprache des Kapi­ta­lismus“. Ein Gespräch darüber, wie Sprach­kritik gesell­schaft­liche Verän­de­rungen anstossen kann. 
Literaturwissenschaftler Simon Sahner (links) und Ökonom Daniel Stähr (rechts) sind der Meinung, dass wir auch sprachlich positive postkapitalistische Erzählungen erschaffen müssen. (Foto: Stefan Gelberg)

Die Idee entstand bei einem Bier­abend vor zwei Jahren. Jetzt liegt das Ergebnis vor: In dem Buch „Die Sprache des Kapi­ta­lismus“ analy­sieren Simon Sahner und Daniel Stähr, wie stark der Kapi­ta­lismus und seine Selbst­er­zäh­lungen unser Denken und Spre­chen prägen.

Das Lamm: Als ich euer Buch las, habe ich mich ertappt gefühlt. Denn auch ich habe sicher schon geschrieben, dass die Preise steigen. Das tun sie aber nicht, sagt ihr. Warum ist dieses Beispiel viel­leicht das beste für „Die Sprache des Kapi­ta­lismus“, die ihr in eurem gleich­na­migen Buch kritisiert?

Simon Sahner: Diese Formu­lie­rung wird unab­lässig wieder­holt, jede*r kennt sie. Sie ist so alltäg­lich geworden, dass sie kaum hinter­fragt wird. Uns geht es übri­gens manchmal auch so, wir sind nicht frei von der Sprache des Kapitalismus.

Wenn die Preise nicht steigen, was tun sie dann?

Simon Sahner: Sie werden von den Unter­nehmen erhöht. Der Satz „Die Preise steigen“ verschweigt, wer konkret für hohe Preise sorgt. Viel­mehr wird der Eindruck erweckt, dass es irgend­welche Markt­be­we­gungen sind, die die Preise steigen lassen. Diese Gegen­über­stel­lung verdeut­licht die Haupt­funk­tion der Sprache des Kapi­ta­lismus: Sie macht den Menschen unsichtbar.

Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr gehen in ihrem 2024 erschie­nenen Buch der Sprache des Kapi­ta­lismus auf den Grund.

Was sind weitere Beispiele dafür, wie der Kapi­ta­lismus bis in unsere Sprache hinein­wirkt und diesen stützt?

Daniel Stähr: Deut­li­cher als sonst wird das in Krisen­si­tua­tionen, in denen häufig Meta­phern aus der Welt der Natur­ka­ta­stro­phen verwendet werden. Von „perfekten Stürmen“ oder Finanzt­s­unamis, die auf uns zurollen, ist dann oft die Rede. Ein anderes Beispiel sind Krank­heits­me­ta­phern, beispiels­weise „Deutsch­land als kranker Mann Europas“. Sie sugge­rieren, dass wir es mit Natur­ge­setzen zu tun hätten, denen wir schutzlos ausge­lie­fert sind. Das stimmt im Fall von wirt­schaft­li­chen Zusam­men­hängen aber einfach nicht. Der Kapi­ta­lismus ist ein menschen­ge­machtes System und kann auch von Menschen verän­dert werden.

Die Verant­wor­tung von Akteur*innen und der von ihnen geschaf­fenen ökono­mi­schen Struk­turen für konkrete Ereig­nisse wird unsichtbar gemacht – das ist also eine Funk­tion solcher Meta­phern. Gibt es noch andere?

Simon Sahner: Eine weitere Funk­tion ist, dass sie harte soziale Eingriffe vorbe­reiten können. Wenn man krank ist, ist eben auch mal bittere Medizin notwendig. So wurden Anfang der 2000er-Jahre die Einschnitte in die Sozi­al­sy­steme – Stich­wort Agenda 2010, Hartz-Reformen – rheto­risch vorbe­reitet. Und die dritte Funk­tion ist, dass diese Meta­phern die Situa­tion als alter­na­tivlos darstellen.

„Super­reich legt nahe, dass extremer Reichtum gut ist. Wer statt­dessen Über­reichtum verwendet, macht eine Grenze sichtbar, ab dem Reichtum schäd­lich wird.“

Daniel Stähr, Ökonom

Im Moment wird viel über die Wachs­tums­schwäche Deutsch­lands disku­tiert, sogar über eine drohende Deindu­stria­li­sie­rung. Ihr konntet das in eurem Buch nur anreissen, aber habt die Debatte sicher beobachtet.

Simon Sahner: In der Tat. Span­nend finde ich hier die Verwen­dung des Wohl­stands­be­griffs. Dauernd heisst es, dass wir den Wohl­stand unseres Landes retten müssen. Wohl­stand wird in Deutsch­land mit dem Wirt­schafts­wunder der 1950er-Jahre verbunden: Jede*r hat sein*ihr Häus­chen, sein*ihr Auto, und man kann in den Urlaub fahren. Wenn dann zur Rettung des Wohl­standes aufge­rufen wird, weiss jede*r, was gemeint ist. Wohl­stand ist aber ein total schwam­miger Begriff, wie Daniel näher erläu­tern kann.

Daniel Stähr: Es gibt über­haupt keine klare ökono­mi­sche Defi­ni­tion von Wohl­stand, oft wird dann das Brut­to­in­lands­pro­dukt, das BIP, als Mass für Wohl­stand heran­ge­zogen. Aber einer der Erfinder des BIP, Simon Kuznets, hat schon in den 1960er-Jahren davor gewarnt, das BIP als allei­nigen Mass­stab für Gerech­tig­keit zu nehmen. Es ist zu einem Totschlag­ar­gu­ment geworden. Wenn etwas das BIP nicht steigen lässt, dann ist es schlechte Wirt­schafts­po­litik. Was natür­lich Unsinn ist. Man könnte den Wohl­stand viel weiter fassen und schauen, wie viele Menschen leben in Armut, wie viele Menschen haben die Chance, wenn sie arm geboren sind, sozial aufzu­steigen, und so weiter.

Sehr einleuch­tend fand ich eure Kritik des Wortes „super­reich“. Wie sieht diese aus?

Daniel Stähr: Das Wort „super“ ist im Deut­schen meistens positiv besetzt, zumin­dest aber neutral. Super­reich legt also nahe, dass extremer Reichtum gut ist. Reichtum ist aller­dings ab einer bestimmten Schwelle schäd­lich. Je grösser der Reichtum, desto grösser auch die CO2-Emis­sionen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Ihr schlagt statt­dessen das Wort „über­reich“ vor.

Daniel Stähr: Genau. Denn „Über­reichtum“ macht eine Grenze sichtbar, ab dem Reichtum schäd­lich wird. Den Begriff haben wir übri­gens nur geborgt – von Marlene Engel­horn, der Millio­när­s­erbin aus Öster­reich, die sich für die „Tax Me Now“-Initiative einsetzt, und dem Ökonomen Martin Schürz.

Auch die Verwen­dung der Begriffe „Arbeitnehmer*in“ und „Arbeitgeber*in“ kriti­siert ihr. Mit welchen Gründen?

Daniel Stähr: In der ökono­mi­schen Theorie und im allge­meinen Sprach­ge­brauch sind die Unter­nehmen die Arbeitgeber*innen und die Arbeitnehmer*innen die Arbeiter*innen und die Ange­stellten. In der ökono­mi­schen Theorie ist es aber genau umge­kehrt: Die Unter­nehmen fragen Arbeit nach und nehmen sie in Anspruch, die Arbeitnehmer*innen geben sie. 

Ich habe mich gefragt, warum das sprach­lich über­haupt nicht zum Ausdruck kommt. Simon konnte mir darauf eine Antwort geben, die sehr schön zeigt, welche Macht­ver­hält­nisse durch diesen Sprach­ge­brauch fest­ge­schrieben werden und wie wichtig inter­dis­zi­pli­näre Zusam­men­ar­beit ist.

„Post­ka­pi­ta­li­sti­sche Erzäh­lungen zeigen, wie Alter­na­tiven aussehen könnten.“

Simon Sahner, Literaturwissenschaftler

Simon Sahner: Arbeitgeber*in ist ein Wort, das seine Wurzeln in der Feudal­zeit hat. Damals gab es nach unserem Verständnis keine klas­si­sche Arbeitgeber*innen. Es gab von Gott einge­setzte Herr­schende. Undenkbar war es, dass ein von Gott einge­setzter Herr­scher etwas von anderen nimmt. Er konnte ledig­lich gütig sein und seinen Unter­ge­benen etwas geben, zum Beispiel Fron­dienste. Und diese mussten das annehmen, weil es eine von Gott gewollte Ordnung war. Als sich der Kapi­ta­lismus heraus­bil­dete, hat sich an diesem Sprach­ge­brauch im Grunde nichts geändert.

Erklärtes Ziel von euch ist es, den Kapi­ta­lismus infrage zu stellen. Glaubt ihr, dass Sprach­kritik den Kapi­ta­lismus ins Wanken bringen kann?

Simon Sahner: Sprache ist ein sehr guter Ansatz­punkt, weil Sprache bestimmt, wie wir über Dinge kommu­ni­zieren und letzt­lich, davon bin ich über­zeugt, wie wir Dinge wahr­nehmen und darüber nach­denken. In dem Moment, in dem wir Sprache reflek­tieren, kriti­sieren und an manchen Stellen verän­dern, setzen wir Refle­xi­ons­pro­zesse in Gang. Und das ist die Grund­lage dafür, dass sich etwas verän­dert. In diesem Sinne wollen wir an der sprach­li­chen Säule des Kapi­ta­lismus rütteln.

Hat sich denn sprach­lich schon etwas verändert?

Simon Sahner: Ja, der Arbeits­be­griff etwa. Wir haben in den letzten Jahren begonnen, anders über Arbeit nach­zu­denken. Und das hat auch damit zu tun, dass wir inzwi­schen Tätig­keiten wie Pflege oder Erzie­hung als Arbeit bezeichnen, die früher nicht dazu gezählt wurden. Jetzt spre­chen wir von Sorgearbeit.

„Das kapi­ta­li­sti­sche Grund­nar­rativ, dass die Personen, die viel leisten, dafür belohnt werden, stimmt nach­weis­lich nicht.“

Daniel Stähr, Ökonom

Daniel Stähr: Bisher haben wir über konkrete Worte und Meta­phern gespro­chen, aber unsere Kritik an der Sprache des Kapi­ta­lismus geht weiter: Wir kriti­sieren auch kapi­ta­li­sti­sche Grund­nar­ra­tive, zum Beispiel das Narrativ, dass die Personen, die viel leisten, dafür belohnt werden, oder dass es heraus­ra­gende Unternehmer*innen sind, die dem Kapi­ta­lismus mit ihren genialen Erfin­dungen ihren Stempel aufdrücken. Beides stimmt nach­weis­lich nicht. Wenn man anfängt, das auch sprach­lich zu markieren, kann man den Menschen die Angst nehmen, dass die Alter­na­tive zum modernen Finanz­ka­pi­ta­lismus eben nicht der Sozia­lismus des 20. Jahr­hun­derts ist, sondern dass es posi­tive post­ka­pi­ta­li­sti­sche Erzäh­lungen gibt.

Diesen widmet ihr euch eben­falls in eurem Buch…

Daniel Stähr: Ja, wir haben uns viele post­ka­pi­ta­li­sti­sche Erzäh­lungen ange­schaut und uns mit drei, die viel Aufmerk­sam­keit bekommen haben, näher beschäf­tigt. Das sind Ulrike Herr­mann, Kohei Saito und das Buch „People’s Repu­blic of Walmart“ von Leigh Phil­ipps und Michal Rozworwski. Allen gemeinsam ist, dass sie nichts mit früheren Sozia­lis­mus­ver­su­chen zu tun haben und dass die Autor*innen sagen: Wir haben zwar derzeit keine demo­kra­ti­schen Mehr­heiten dafür, aber ökono­misch liesse sich der Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess mit diffe­ren­zierten Schritten errei­chen. Ich glaube, dass Sprach­kritik und gute alter­na­tive Erzäh­lungen dazu beitragen könnten, in der Öffent­lich­keit offener über solche Alter­na­tiv­ideen zu debattieren.

Und das ist dann kein gesti­scher Anti­ka­pi­ta­lismus mehr, ein Begriff, den ihr unter anderem von Mark Fisher über­nommen habt?

Simon Sahner: Ja genau, gesti­scher Anti­ka­pi­ta­lismus meint nämlich, dass man seinen Anti­ka­pi­ta­lismus von anderen ausführen lässt. Zum Beispiel wenn ich Filme oder Serien wie „Triangle of Sadness“ oder „Succes­sion“ schaue. Die sind gut, schaue ich selbst gerne. Ich habe dann ein gutes Gefühl, weil meine pessi­mi­sti­sche Sicht auf spät­ka­pi­ta­li­sti­sche Zustände und ihre mora­lisch frag­wür­digen Personen bestä­tigt wird.

Was aber fehlt, ist eine Hoff­nung hinter dem, was wir da sehen. Die erwähnten post­ka­pi­ta­li­sti­schen Erzäh­lungen zeigen, wie Alter­na­tiven aussehen könnten.

Dieses Inter­view wurde zuvor bei der AK veröffentlicht.

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