Ende November sass ich in einem grauen Seminarraum der NABA, der Mailänder Kunstakademie, umgeben von einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Teilnehmenden von Kunsthochschulen aus verschiedenen Teilen der Welt. Wir waren für die ELIA Biennale 2024 zusammengekommen, die unter dem Motto Arts Plural stand.
Alle zwei Jahre versammeln sich Studierende und Lehrende von Kunsthochschulen, um sich über aktuelle Themen rund um Kunst und Design auszutauschen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren. Anders gesagt: Vertreter*innen der Kunstakademien versichern sich gegenseitig ihre Relevanz.
An der diesjährigen Ausgabe stand unter dem Motto Arts Plural die Idee von künstlerischer (nicht künstlicher) Intelligenz im Zentrum.
Die Grundprämisse: Künstler*innen und Designer*innen verfügen über eine besondere Form von Wissen und Intelligenz. Was das genau bedeutet? In der Beschreibung der Veranstaltung war die Rede von einem „System von Fähigkeiten zur Wahrnehmung, Einsicht, Empfindung, Schöpfung und Entscheidungsfindung“, das „seit Jahrhunderten die menschliche Evolution über Grenzen hinaus vorantreibt“.
Klingt ambitioniert und gleichzeitig vage genug, um sich nicht angreifbar zu machen – ein typischer Text im Kunstsprech also.
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen das Wissen der Welt zwischen zwei Buchdeckel passen musste. Gut so, denn statt in verstaubten Enzyklopädien im untersten Regalfach kann Wissen in ganz unterschiedlichen Formen kommen.
Doch was zählt überhaupt als Wissen? Wer bestimmt darüber und wer hat Zugang dazu? In der Annzyklopädie widmet sich Ann Mbuti den Wissensformen unserer Zeit. Mit kritischem Blick und einer gesunden Skepsis nimmt sie unsere individuellen Perspektiven und Erfahrungen unter die Lupe, die die Art und Weise prägen, wie Wissen gesammelt und interpretiert wird.
Ann Mbuti ist unabhängige Autorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Kunst und Popkultur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf künstlerische Projekte, die das Potenzial für soziale, politische oder ökologische Veränderungen haben. Derzeit beschäftigt sie sich mit Mythologien, mündlicher Geschichte, Science Fiction und der Verschmelzung von Fakten und Fiktion. Seit 2024 ist sie Professorin für Prozessgestaltung am HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel.
Künstler*innen werden schon länger als Akteur*innen des Wandels in Politik, Ökologie, Technologie und Ethik verstanden und Kunst nicht nur als ästhetische Welterfahrung, sondern als Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel.
Häufig ist von der transformativen Kraft der Kunst die Rede, von der Fähigkeit, bestehende Denkweisen, soziale Strukturen oder kulturelle Normen zu hinterfragen und zu einem Umdenken anzuregen. Kunst ist Katalysator, bietet Raum für Reflexion, macht komplexe Themen emotional erfahrbar und eröffnet alternative Perspektiven. Blablabla.
ELIA hat dem Ganzen noch einen neuen Namen gegeben, der sich neckisch an den grossen Mythos unserer Zeit anlehnt: KI als künstlerische statt künstliche Intelligenz.
Kunst als Methode
Versteht mich nicht falsch; ich glaube absolut, dass es Dinge gibt, die man durch Kunst anders betrachten und verstehen lernt. Ich glaube auch an die Kraft, die eine echte Verbindung zu einem Werk freisetzt. Mir ist dieser innere Wow-Moment beim Betrachten von Kunst oft genug begegnet, um mich wieder und wieder an Biennalen, Ausstellungen, Performances und Openings zu treiben, immer auf der Suche nach diesem Kick.
Zudem haben sich in den letzten Jahren neue Ansätze im Bereich der künstlerischen Forschung herausgebildet, als Kunsthochschulen begannen, sich stärker auf akademische Forschungstraditionen einzulassen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl an Studienprogrammen, die Kunst als Forschung betreiben und Künstler*innen, die ihre Praxis mit Forschung verbinden und artistic research praktizieren. Künstler*innen experimentieren, schaffen und reflektieren dabei in einer Weise, die zwar ähnliche Fragen stellt, aber weniger systematisch vorgeht als wissenschaftliche Erkenntnismodelle es verlangen.
Kunst ist dabei nicht das Ergebnis, sondern die Methode. Ein Beispiel: Ein Dissertationsprojekt an der Zürcher Hochschule der Künste untersuchte die Frage, ob erotisches Begehren nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Performer*innen und dem Raum, in dem sie auftreten, entstehen kann. Statt das Thema philosophisch oder psychologisch abzuhandeln, nutzte es Performances als Methode, um diese Frage zu beantworten.
Künstlerische Forschung etabliert sich langsam als Wissenschaftszweig und wird in Fachkreisen immer anerkannter. Das Konzept Künstlerische Intelligenz hingegen, die dabei angewendet wird, ist noch immer schwammig definiert und wenig bekannt.
An den verschiedenen Veranstaltungen der ELIA Biennale, die ich besuchte, kam die Frage auf, inwiefern wir künstlerische Intelligenz dazu nutzen können, um globale Herausforderungen wie die Klimakrise zu lösen. Beispielsweise, indem wir der Intuition ein stärkeres Gewicht einräumen – wie es eben die Künste tun – und dadurch die Trennung des Menschen von seiner Umwelt infrage stellen. Oder indem wir durch Zusammenarbeit, Ausprobieren und Testen, wie es eben die Künste tun, auf überraschende neue Ideen kommen.
Das Ziel der Diskussionen, Workshops und Keynotes war es, dieses Wissen nutz- und lehrbar zu machen, um die grossen Probleme unserer Zeit zu lösen. Es ging aber nicht darum, dieses Wissen genauer zu bestimmen.
Kritische Theorie für künstlerische Intelligenz
Dabei ist auch die Idee nicht neu, dass Kunst frei sein sollte, um neue Wege und Lösungen zu finden. Bereits in den Überlegungen der Frankfurter Schule, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kritische Theorie hervorbrachte, wurde Kunst als autonomes Feld und freier Ausdruck von Kreativität betrachtet.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno formulierte jedoch in seinem Buch „Ästhetische Theorie“ von 1970 eine Einschränkung. Die Kunst habe einen „Doppelcharakter“: Jedes Kunstwerk sei zwar autonom, gleichzeitig aber auch eine soziale Tatsache, die in die Widersprüche und Machtverhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ihrer Zeit eingebettet ist. Kunstwerke entstehen also nicht in einem Vakuum, sondern sind stark von ihrer Zeit beeinflusst. Sie funktionieren aber gleichzeitig unabhängig von all dem auf einer ästhetischen Ebene. Durch diesen doppelten Charakter von “frei” und “unfrei” schafft es die Kunst, eine kritische Funktion zu erfüllen, indem sie Widersprüche und Machtverhältnisse ihrer Zeit in sich trägt und sichtbar macht.
Am Ende der ELIA-Tage hatte ich so viele weltverändernde Kampfansagen und Absichtserklärungen der künstlerischen Intelligenz gehört, dass ich die Erkenntnisse Adornos vermisste.
Eine entscheidende Frage ist schliesslich, ob diese Form der Intelligenz tatsächlich frei und autonom genug ist, um transformative Potenziale zu entfalten – oder ob sie zu sehr in die Reproduktion des Status quo verstrickt ist.
Lösen wir mit mehr Intuition tatsächlich die Grenze zwischen Mensch und Umwelt auf oder füllen wir nicht nur die Ausstellungshäuser mit weiteren Werkzyklen, die vorgeben, gesellschaftlich relevant zu sein, aber nach dem Verkauf vor allem für Sammler*innen, Galerien und Kunstmessen relevant werden?
Gerade das kritische Hinterfragen solcher Widersprüche macht sie so spannend. Ja, es braucht besondere Denk- und Arbeitsweisen und Fähigkeiten in der Kunst wie Intuition, visuelles Verständnis oder imaginatives und sensorisches Gespür. Aber im Sinne Adornos sollte künstlerische Intelligenz nicht nur ein Set von Fähigkeiten sein, sondern eine Haltung: Kritische künstlerische Intelligenz könnte Widersprüche und Spannungen der sozialen Realität offenlegen, ohne sie zu harmonisieren oder zu glätten. Sie müsste sich bewusst der Instrumentalisierung durch Marktmechanismen oder politische Interessen widersetzen und stattdessen auf eine autonome ästhetische Praxis abzielen, die sich der sozialen Emanzipation verpflichtet. Mal sehen, ob die nächste ELIA Biennale sich das zum Ziel setzt.
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