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Chro­no­logie der tödli­chen Gescheh­nisse im Zürcher Ausschaffungsgefängnis

Inner­halb eines Monats wurden zwei Personen im Ausschaf­fungs­ge­fängnis Zürich-Kloten tot aufge­funden. Weitere Inhaf­tierte versuchten sich das Leben zu nehmen und setzten Zellen in Brand. Eine Chro­no­logie der Ereig­nisse basie­rend auf Erzäh­lungen der Inhaftierten. 
Die Gefangenen im Ausschaffungsgefängnis Zürich-Kloten protestieren im Mai 2025 gegen ihre Haftbedingungen. (Bild: zVg)

Inhalts­war­nung: Expli­zite Beschrei­bung von Selbst­ver­let­zung und Suizid(versuchen).

30. April 2025

Gegen 18 Uhr holt ein Gefäng­nis­wärter des Verwal­tungs­ge­fängnis ZAA in Kloten Houat Ismail aus der Dusche. Es sei etwas passiert und er müsse zurück in seine Zelle, sagt ihm der Wärter. Auf dem Rückweg wirft Ismail einen Blick in die Zelle seines Nach­barn, Andrii Krylov, ein 62-jähriger Mann aus der Ukraine. Durch das kleine Sicht­fen­ster in der Zellentür sieht Ismail Polizist*innen und Forensiker*innen. Auf dem Boden liegt ein schwarzer Sack. Darin verbirgt sich die Leiche von Andrii Krylov, der sich das Leben genommen hat.

Das war nicht Krylovs erster Suizid­ver­such. Bereits als er 2024 seinen Schutz­status in der Schweiz verlor, versuchte er sich umzu­bringen. Darauf folgte ein Aufent­halt in der Psych­ia­trie Wald­haus in Grau­bünden, später wurde er in das isolierte Ausschaf­fungs­camp Valzeina in den Bündner Bergen gebracht. Laut Mitge­fan­genen hatte Andrii Krylov Angst, in ein anderes euro­päi­sches Land abge­schoben zu werden, in dem er bereits zuvor nur unzu­rei­chend Schutz erhalten hatte.

Späte­stens seit seinem ersten Suizid­ver­such wussten die Schweizer Migra­ti­ons­be­hörden über seinen psychi­schen Zustand Bescheid. Trotzdem kam er ins Ausschaf­fungs­ge­fängnis nach Zürich.

Die Ausschaf­fungs­haft ist eine soge­nannte auslän­der­recht­liche Admi­ni­stra­tiv­haft und entstand durch die 1995 einge­führten «Zwangs­mass­nahmen im Asyl­recht». Sie hat zum Ziel Menschen ohne gültige Aufent­halts­be­wil­li­gung in ihr Herkunfts­land oder ein zustän­diges Dritt­land auszu­schaffen. Dazu können Personen zur Vorbe­rei­tung und Durch­set­zung ihrer Ausschaf­fung bis zu 18 Monate inhaf­tiert werden.
Die bundes­ge­richt­liche Recht­spre­chung verlangt jedoch, dass die Haft­be­din­gungen und die Infra­struktur deut­lich machen, dass die Inhaf­tie­rung rein admi­ni­strativ ist und keinen straf­recht­li­chen Charakter hat. Die auslän­der­recht­liche Admi­ni­stra­tiv­haft soll in Einrich­tungen ohne Gefäng­nis­cha­rakter erfolgen. Die natio­nale Kommis­sion zu Verhü­tung von Folter (NKVF) kriti­sierte die Schweizer Aufschaf­fungs­ge­fäng­nisse wieder­holt, die strikte Tren­nung zwischen Admi­ni­stra­tiv­haft und Straf­vollzug nicht einzuhalten.

Die Gefäng­nis­an­ge­stellten infor­mierten die Insassen über den Tod des Ukrai­ners. Doch nur einen Tag später war der Tod von Andrii Krylov kein Thema mehr für die Mitarbeiter*innen, erzählt Khalil Filali, ein Gefan­gener aus Libyen. „Die Menschen sterben hier, aber niemanden inter­es­siert es.”

8. Mai 2025

Yacine Elbar, ein 52-jähriger Mann aus Alge­rien setzt seine Zelle in Brand und versucht, sich das Leben zu nehmen. Mit einer Rasier­klinge verletzt er sich schwer und wird ins Kran­ken­haus eingeliefert.

12. Mai 2025

„Will­kommen im Knast!”, hallt es durch den Innenhof. Die Gefan­genen rufen aus ihren Fenstern, als Besucher*innen vor dem Gefängnis stehen. Sie schreien nach Hilfe.

An diesem Tag setzt ein weiterer Inhaf­tierter seine Zelle in Brand. „Insge­samt hat es in vier Tagen minde­stens drei Mal gebrannt”, erzählt Khalil Filali.

Yacine ist inzwi­schen wieder aus dem Kran­ken­haus zurück. Ismail und Filali bekamen Yacine jedoch nie zu sehen, denn er wurde sofort in die unter­ir­di­sche Straf­zelle gebracht. Die Gefan­genen nennen diesen Ort „Bunker”. Es sei ein Gefängnis im Gefängnis, sagt Ismail. „Es gibt keine Fenster, keinen Tisch und alles ist aus Beton und Metall.” Auch die eigenen Kleider dürften die Gefan­genen dort nicht anbe­halten, sondern müssten in reiss­fe­ster Unter­hose und einer Art Poncho verweilen. In der Bunker­zelle gäbe es keinen Zugang zum Internet und auch Besuche seien nicht möglich. Ausserdem sei die Bunker­zelle laut Gefan­genen nicht video­über­wacht, im Gegen­satz zu den Straf­zellen im Straf­vollzug. Niemand wisse, was in den Zellen passiere. „Das Gefängnis versucht mit dem Bunker die Gefan­genen zu isolieren, lässt sie ausharren, bis sie von allein aufgeben”, sagt Filali.

1996 errich­tete der Kanton Zürich das Flug­ha­fen­ge­fängnis Kloten, das 2022 zum Zentrum für auslän­der­recht­liche Admi­ni­stra­tiv­haft (ZAA) wurde. Das Gefängnis dient bis heute der Durch­set­zung der „Zwangs­mass­nahmen im Auslän­der­recht”. Die Migra­ti­ons­be­hörden inhaf­tieren dort Menschen bis zu 18 Monate, deren einziges Vergehen der ille­gale Aufent­halt ist. Das Zürcher Flug­ha­fen­ge­fängnis diente neben dem 1995 erbauten provi­so­ri­schen Poli­zei­ge­fängnis auf der Zürcher Kaser­nen­wiese als eines der ersten Schweizer Ausschaf­fungs­ge­fäng­nisse. Früher teilte man es in Straf­vollzug und Ausschaf­fungs­haft, heute dient das Zentrum ausschliess­lich der Inhaf­tie­rung von bis zu 130 Personen ohne Aufent­halts­be­wil­li­gung. Trotz Umbau und Umbe­nen­nung zum ZAA orien­tiert sich die Archi­tektur des Gebäudes weiterhin an der Untersuchungshaft.

Wenn die Gefäng­nis­wärter einen Gefan­genen in den Bunker bringen möchten, würden sie ihr Vorhaben nicht ankünden. „Sie behaupten, wir würden Besuch erwarten oder einen Termin haben – doch sobald die Zellentür sich öffnet, steht die Polizei bereit, nimmt uns fest und bringt uns in den Bunker.” Die Gründe für das Wegsperren in die Straf­zelle seien ganz unter­schied­lich: Nach einem Suizid­ver­such, wenn jemand laut geworden sei oder sonst etwas täte, dass den Gefäng­nis­wär­tern nicht gefalle. 

Nebst den Bunker­zellen gäbe es auch ober­ir­di­sche Sicher­heits­zellen. Die Innen­aus­stat­tung sei die gleiche, doch das Leben darin erträg­li­cher. Es gäbe Tages­licht und die Gefan­genen dürften ihre Klei­dung behalten.

17. Mai 2025

Baban Ali tritt in den unbe­fri­steten Hunger­streik. Ihm steht eine Ausschaf­fung in den Irak bevor. Im Şengal kämpfte Baban Ali einst im bewaff­neten Wider­stand gegen die Terror­or­ga­ni­sa­tion IS. Als Frei­heits­kämpfer verlor er seinen rechten Unterarm sowie Zeige- und Mittel­finger der linken Hand. Auch sein Knie und Rücken wurden von Bomben­split­tern schwer­ver­letzt.

Wenn er in den Irak ausge­schafft würde, müsse er jeden Tag Angst vor dem Tod haben, schreibt Baban Ali in seiner Erklä­rung zum Hunger­streik. Er fordert seine sofor­tige Frei­las­sung, bis dahin werde er den Hunger­streik nicht beenden und keine medi­zi­ni­schen Behand­lungen annehmen.

Baban Ali kämpfte gegen die Terror­or­ga­ni­sa­tion IS und soll nun in den Irak ausge­schafft werden.

19. Mai 2025

Auch der Alge­rier Abdel­malek Merabet tritt in den Hunger­streik – aber in einen trockenen. Nicht einmal Wasser nimmt er zu sich. Die Schweiz möchte ihn basie­rend auf dem Dublin-Abkommen nach Deutsch­land ausschaffen, da seine Finger­ab­drücke dort hinter­legt sind.

Am 1. April feierte Abdel­malek Merabet seinen 22. Geburtstag im Ausschaf­fungs­ge­fängnis. Er ist bereits zwei Monate dort. Andere Gefan­gene beschreiben ihn als depressiv: Er rede mit niemanden und verlasse seine Zelle nicht. Als er seinen Hunger- und Durst­streik begann, habe er sich völlig abgeschottet.

Viele Gefan­gene würden unter psychi­schen Krisen leiden, erzählt Filali. Er selbst habe einen alge­ri­schen Freund, Maghazi Barhoun, der bereits ange­droht hat, sich selbst zu verletzten oder gar umzu­bringen. Barhoun fürchte sich vor einer Ausschaf­fung nach Alge­rien. Dort würden 13 Jahre Gefängnis auf ihn warten, sagt Filali.

Dreimal wöchent­lich käme ein Psych­iater im Gefängnis vorbei, erzählt ein weiterer Gefan­gener. Doch bis sie einen Termin bekämen, müssten sie bis zu einem Monat warten. Dafür verteile der Psych­iater raue Mengen Psycho­phar­maka an die Inhaf­tierten. Statt eine Diagnose zu stellen, würde er die Gefan­genen fragen, welches Medi­ka­ment sie gerne hätten. „Er bietet uns Queti­apin, Prega­balin, Rivo­tril, Diazepam oder Tramadol an”, sagt Filali „gerne auch in hohen Dosie­rungen”. 50 bis 1000 Milli­gramm Queti­apin gäbe es laut Filali täglich. Die empfoh­lene Höchst­do­sie­rung des Anti­psy­cho­ti­kums Queti­apin liegt bei 800 Milli­gramm. In der psych­ia­tri­schen Praxis wird Queti­apin als Schlaf­mittel einge­setzt, so auch im Zürcher Ausschaffungsgefängnis.

23. Mai 2025

Maghazi Barhoun setzt seine Drohung in die Tat um. Der Alge­rier isst mehrere Batte­rien und schneidet sich mit einer Rasier­klinge in Bauch und Rücken und durch­trennt mehrere Sehnen seiner Finger. Anschlies­send schluckt er die Rasier­klinge. Es ist der zweite Suizid­ver­such im Ausschaf­fungs­ge­fängnis Kloten in nur einem Monat.

Gefan­gene aus dem Basler Ausschaf­fungs­ge­fängnis Bäss­lergut, die im engen Austausch mit den Gefan­genen in Zürich stehen, verbreiten als Chat­nach­richt und auf Social Media folgende Nach­richt über ihren Freund in Zürich: „Wegen der Zerstücke­lung seines Körpers ist Maghazi Barhoun in einem kriti­schen Zustand im Krankenhaus”.

Barhoun teilte sich seine Zelle mit einem 18-jährigen Mitge­fan­genen, der sich zum Zeit­punkt des Selbst­mord­ver­suchs eben­falls in der Zelle aufhielt. Mitge­fan­gene erzählen später, dass Barhouns Zellen­ge­nosse über Tage hinweg nicht schlafen konnte, verstört von dem, was er mitan­sehen musste.

24. Mai 2025

Maghazi Barhoun wird nach einer Nacht im Kran­ken­haus zurück ins Gefängnis gebracht. Er kommt sofort in die unter­ir­di­sche Sicher­heits­zelle, den „Bunker”, wie ihn die Gefan­genen nennen.

26. Mai 2025

Baban Ali, der im Şengal gegen den IS kämpfte, wird nach seinem 9‑tägigen Hunger­streik gemeinsam mit seinem Bruder Pavel Ali über­ra­schend aus der Ausschaf­fungs­haft frei­ge­lassen. Auf den Sozialen Medien kursieren Videos von den beiden, wie sie mit geho­bener Faust aus den Toren des Ausschaf­fungs­ge­fängnis treten und dazu „Hoch die inter­na­tio­nale Soli­da­rität!” rufen. Das erneute Härte­fall­ge­such von Baban Ali wurde vom Kanton Aargau ange­nommen und ans SEM über­wiesen. Sein Verfahren ist somit erneut hängig, die Ausschaf­fungs­haft nicht mehr rech­tens und Baban Ali zumin­dest vorüber­ge­hend wieder in Freiheit.

Am selben Tag gibt der 22-jähirge Abdel­malek Merabet bei der abend­li­chen Medi­ka­men­ten­ab­gabe keine Reak­tion von sich. Es ist der siebte Tag seines trockenen Hunger­streiks. Die Wärter finden ihn leblos in seiner Zelle. Wie er starb, ist bis heute ungeklärt.

„Hilfe, wir sterben hier! Schon zwei Tote in einem Monat!”

Insassen rufen aus dem Gefängnis, als Besucher*innen davor stehen.

27. Mai 2025

Morgens werden die Insassen über den Tod von Abdel­malek Merabet infor­miert. Der Kind­heits­freund und alge­ri­sche Nachbar des Toten, Sadikk Dendene, der im selben Ausschaf­fungs­ge­fängnis in Haft ist, infor­miert Mera­bets Bruder über den Todes­fall. Dieser kann es nicht fassen, gestern habe er noch mit ihm geredet. Abdel­malek Merabet sei ein gesunder junger Mann gewesen, er könne nicht tot sein.

Sadikk Dendene kann die Situa­tion nicht mehr aushalten. Er geht zu einem der Gefäng­nis­wärter und wird laut. Dieser lässt Dendene daraufhin in den Bunker sperren. In der Isola­ti­ons­zelle hat er keine Möglich­keit mehr, mit der Familie des Toten zu kommu­ni­zieren oder Besuch zu empfangen.

Die Insassen des Gefäng­nisses verwei­gern aus Protest den morgend­li­chen Spazier­gang im Hof. „So kann es nicht weiter­gehen”, sagt Filali. Rund 50 Personen treten an diesem Tag in den Hungerstreik.

28. Mai 2025

Schon von 100 Metern Entfer­nung ist Geschrei aus dem Ausschaf­fungs­ge­fängnis zu hören. „Hilfe, wir sterben hier! Schon zwei Tote in einem Monat! Wir sind hier nicht in Gaza – wir sind in der Schweiz”, ruft ein Insasse auf Arabisch aus dem Fenster. „Ich habe alles hier: Rasier­klingen und Feuer. Auch ich werde mich umbringen!”

Die Gefäng­nis­di­rek­tion hat für heute einen Besuch ange­kün­digt. Statt­dessen erscheint nur ein höherer Gefäng­nis­an­ge­stellter. Die Gefan­genen berichten, er hätte ihnen mitge­teilt, dass die Direk­tion „es nicht gewagt habe”, sie zu besuchen.

29. Mai 2025

Die rund 50 Gefan­genen im Hunger­streik orga­ni­sieren ihren Protest weiter: Sie malen mit Farb­stiften auf ihre Bett­laken und Kissen­be­züge. Darauf schreiben sie „Frei­heit – Hilfe, sie wollen uns umbringen”, „Ist dies ein Gefängnis oder ein Friedhof?”, „Das ist ein Grab, kein Gefängnis” und „Wir sterben – Hilfe!”. Sie nehmen all ihren Mut zusammen, foto­gra­fieren sich mit den Trans­pa­renten und veröf­fent­li­chen die Bilder auf den Sozialen Medien.

Grup­pen­bild der Inhaf­tierten des Verwal­tungs­ge­fängnis in Zürich-Kloten im Mai 2025. (Bild: zVg)

Am Abend verwei­gern die Insassen dreier Abtei­lungen, in ihre Zellen zurück­zu­kehren. Die Gefan­genen können ihre Zellen norma­ler­weise zwischen 19:30 und 7:30 nicht mehr verlassen.

In zwei der Abtei­lungen schliessen die Wächter die Zellen ab, die Gefan­genen bleiben auf den Gängen. In der dritten Abtei­lung lassen die Wächter die Zellen­türen offen und gehen wieder.

Gegen 22:30 kommen drei Polizist*innen in Zivil in die Abtei­lungen. Die Gefan­genen kehren daraufhin in ihre Zellen zurück. „Wir wollen keine Probleme mit den Beamten und begegnen ihnen immer respekt­voll”, sagt Filali. „Wir haben Probleme mit den Migra­ti­ons­äm­tern und möchten, dass sie mit uns reden und Lösungen finden.”

30. Mai 2025

Gefan­gene schreien erneut aus ihren vergit­terten Fenstern um Hilfe. Barhoun, der kürz­lich einen Suizid­ver­such unter­nahm, ruft aus der Sicher­heits­zelle: „Sehen Sie, alles ist voller Blut! Ich habe Batte­rien gegessen, dieses Gefängnis ist ein Grab!“

Das Gefängnis verlegt Sadikk Dendene aus der Isola­ti­ons­haft im Bunker in das Ambu­la­to­rium Bülach der Psych­ia­tri­schen Univer­si­täts­kli­niken Zürich.

Ein älterer Alge­rier wird heute nach 17 Monaten und 3 Wochen aus dem Ausschaf­fungs­ge­fängnis entlassen. Er hat die maxi­male Dauer der Admi­ni­stra­tiv­haft erreicht. Nach der Frei­las­sung bringt man ihn ins Rück­kehr­zen­trum Urdorf, einen ehema­ligen Zivil­schutz­bunker am Wald­rand zwischen Auto­bahn, Poli­zei­stütz­punkt und Schiess­an­lage. „Sogar das Ausschaf­fungs­ge­fängnis ist besser als Urdorf“, berichtet Filali, der dort eben­falls leben musste.

Am Abend findet in der Zürcher Innen­stadt direkt neben dem Haupt­bahnhof eine Spon­tan­kund­ge­bung des Akti­ons­bünd­nisses gegen unmensch­liche Ausschaf­fungs­haft statt. Vor den Zürcher Regie­rungs­ge­bäuden am Walche­platz versam­meln sich 250 Demon­strie­rende mit Trans­pa­renten und Schil­dern. Auch der Frei­heits­kämpfer Baban Ali hält eine Rede. Per Video­call schalten sich die Gefan­genen live zur Kund­ge­bung und berichten von ihrem Wider­stand und den unmensch­li­chen Haft­be­din­gungen. Demon­strie­rende heben ausge­druckte Grup­pen­fotos des Gefan­ge­nen­wi­der­stands in die Höhe.

31. Mai 2025

Gegen 16 Uhr fahren etwa 30 Personen zum abge­le­genen Ausschaf­fungs­knast in Zürich-Kloten. Vor dem Gefängnis rufen die Demon­strie­renden nach Frei­heit und Wider­stand. „Frei­heit, Hurriya, Libertà!“, hallt es durch den Innenhof, während die Gefan­genen gegen die Gitter­stäbe ihrer Fenster schlagen.

2. Juni 2025

Die Co-Direk­torin Jean­nette Bucher besucht alle Gefan­genen im Verwal­tungs­ge­fängnis in Zürich-Kloten. Sie möchte die Insassen dazu bringen, ihren Hunger­streik zu beenden. Sie verspricht, mit den Migra­ti­ons­be­hörden zu spre­chen und mit einer Antwort zurück­zu­kehren.

Buchers Verspre­chen vari­ieren: Filali soll morgen eine Antwort erhalten, Khaled muss bis Freitag warten. Jean­nette Bucher stellt auch einen neuen Tages­plan vor. Die Insassen dürfen nun viermal statt dreimal täglich eine Stunde in den Spazi­erhof. Zudem gibt es neu dreimal statt zweimal täglich Fitness­an­ge­bote und die Arbeit im Gefängnis wird mit täglich 22 statt 20 Franken vergütet. Filali entgegnet: „Wir wollen keinen neuen Tages­plan, wir wollen mit den Migra­ti­ons­be­hörden reden.“

3. Juni 2025

Zwischen vier und fünf Uhr morgens stürmt ein Gross­auf­gebot von Poli­zei­kräften das Ausschaf­fungs­ge­fängnis. An diesem Tag fliegen zwei Flug­zeuge nach Bagdad, etwa 30 Iraker werden damit ausge­schafft. Laut Mitge­fan­genen gingen die Fest­nahmen gewaltsam vonstatten. Unter Geschrei und Tränen zerrten die Beamten die Iraker aus ihren Zellen.

Sadikk Dendene wird aus dem psych­ia­tri­schen Ambu­la­to­rium entlassen. Dendene ist nun wieder auf der regu­lären Abtei­lung des Ausschaf­fungs­ge­fängnis. Dort hat er Inter­net­zu­gang und kann wieder Kontakt zur Familie des verstor­benen Merabet aufnehmen.

4. Juni 2025

Im Gefängnis wird es heiss. Die Gefan­genen haben zwei Möglich­keiten: Entweder lassen sie nachts das Fenster offen, um kühlere Luft herein­zu­lassen, wobei der dröh­nende Flug­lärm ihnen den Schlaf raubt. Oder sie schliessen das Fenster und leiden unter der stickigen Hitze.

„Das Migra­ti­onsamt soll zu uns ins Gefängnis kommen, um mit uns zu reden!”

Khalil Filali, Gefan­gener im Ausschaf­fungs­ge­fängnis Zürich

Es ist der achte und letzte Tag des Hunger­streiks von 50 Gefan­genen im Zürcher Ausschaf­fungs­ge­fängnis. Filali berichtet, er habe bereits vier Kilo­gramm abge­nommen. „Acht Tage hungern und noch immer keine Antwort von den zustän­digen Stellen.“

5. Juni 2025

Gemeinsam formu­lieren die bis gestern Hunger­strei­kenden einen offenen Brief mit Forde­rungen. Der Brief ist adres­siert an die Leitung des Ausschaf­fungs­ge­fängnis, die zustän­digen Migra­ti­ons­be­hörden und die Öffent­lich­keit. Die Insassen stellen sechs Forde­rungen auf: Die Begren­zung der heutigen 18-mona­tigen Inhaf­tie­rungs­dauer, die schnelle Orga­ni­sa­tion von Rück­füh­rungen Ausrei­se­wil­liger, den Stopp der Zwangs­aus­schaf­fungen, schnelle Rück­füh­rungen der frei­wil­ligen Dublin-Ausreisen, profes­sio­nelle Behand­lung gesund­heit­li­cher Probleme (insbe­son­dere bei psych­ia­tri­schen Fällen) und die Abschaf­fung der Isola­ti­ons­zelle in ihrer jetzigen Form.

Am Abend wurde Maghazi Barhoun zur Ausschaf­fung nach Genf trans­fe­riert, nachdem er die letzten 10 Tage nach seinem Suizid­ver­such im „Bunker” und später in der Sicher­heits­zelle in Isola­ti­ons­haft verbrachte. Am Flug­hafen holt er eine Rasier­klinge aus seinem Mund und schneidet sich in seinen Ober­körper. So kann er seine Ausschaf­fung nach Alge­rien im letzten Moment verhindern.

6. Juni 2025

Die Co-Direk­torin, Jean­nette Bucher, besucht die Gefan­genen erneut. Eine Antwort von den Migra­ti­ons­be­hörden habe sie nicht, jedoch biete sie den Gefan­genen an, im Büro einen persön­li­chen Video-Call mit ihrem jeweilig zustän­digen Vertreter vom Migra­ti­onsamt zu haben. „Die vom Migra­ti­onsamt sollen zu uns ins Gefängnis kommen, um mit uns zu reden!”, antwortet Filali auf das Angebot. Er lasse sich mit einem Video-Call nicht abspeisen.

Die Gefäng­nis­mit­ar­bei­tenden erklären sich laut Filali nicht bereit, den Brief mit den Forde­rungen der Gefan­genen auszu­drucken. Daraufhin schreibt Filali den Brief per Hand ab und lässt ihn von seinen Mitge­fan­genen unter­schreiben. Das gleiche sei in den anderen Abtei­lungen des Ausschaf­fungs­ge­fängnis passiert.

Offener Brief der Inhaftierten

Sadikk Dendene, der Freund des verstor­benen Abdel­malek Merabet, wird zum zweiten Mal inner­halb einer Woche in die Psych­ia­trie eingewiesen.

Yacine Elbar, der am 8. Mai versuchte sich das Leben zu nehmen, befindet sich noch immer in einer Sicher­heits­zelle. Das Gefängnis teilt ihm mit, dass er noch einen weiteren Monat in der Sicher­heits­zelle isoliert bleiben soll.

Der Gefan­gene Bobaker Ahmed Mohammed verlässt nach 11 Monaten das Ausschaf­fungs­ge­fängnis. Er entscheidet sich frei­willig nach Libyen auszu­reisen. Mitt­ler­weile ist Mohammed bereits in Istanbul. Er möchte sich über die Balkan­route wieder auf den Weg in die Schweiz machen, denn hier hat er seine Familie mit drei Kindern, die auf ihn warten.

10. Juni 2025

Die Gefan­genen veröf­fent­li­chen den offenen Brief mit ihren Forde­rungen in einer Medienmitteilung.


Auf Anfrage von das Lamm bestä­tigt die Medi­en­stelle von Justiz­vollzug und Wieder­ein­glie­de­rung (JuWe) die beiden Todes­fälle im Gefängnis „mit grossem Bedauern“. Es handle sich um die ersten Todes­fälle in ihrer Admi­ni­stra­tiv­haft seit zehn Jahren. Laut JuWe sei aber „keine Person nach trockenem Hunger­streik“ gestorben. Genauere Angaben zur Todes­ur­sache macht JuWe nicht.

Zu der Inhaf­tie­rung in die Isola­ti­ons­zelle nach einem versuchten Suizid äussert sich JuWe, dass diese nur so lange aufrecht­erhalten würde, „als dass es der Zweck nötig“ mache. Der Zweck der Isola­ti­ons­haft sei es, Selbst- und Fremd­ge­fähr­dung zu verhin­dern. Angaben, inwie­fern wochen­lange Isola­ti­ons­haft nach einem Suizid die Selbst­ge­fähr­dung vorbeugt, macht JuWe nicht.
JuWe bestreitet, dass es den Hunger­streik von 50 Inhaf­tierten gegeben habe. Zum Schluss macht JuWe klar, dass JuWe geltendes Recht umsetze. „Die Frage nach dem Wegwei­sungs­vollzug ist letzt­lich eine poli­ti­sche und gesellschaftliche.“


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