„Frontex steht
für die Fort­füh­rung
kolo­nialer Politik”

„Frontex steht
für die Fort­füh­rung
kolo­nialer Politik”

Seit über 20 Jahren kämpft der Menschen­rechts­ak­ti­vist Amadou M’Bow für soziale Gerech­tig­keit und gegen die Ausla­ge­rung der Migra­ti­ons­kon­trolle nach Afrika. Er fordert die Abschaf­fung von Frontex – die Agentur stehe für ein System, das die Grund­rechte von Afrikaner*innen verletzt und neoko­lo­niale Macht­struk­turen zementiert.

Von

Lorenz Naegeli, WAV Recherchekollektiv

Die Perso­nen­frei­zü­gig­keit als elemen­tares Grund­recht und kultu­relles Erbe West­afrikas wird durch Frontex und die Mili­ta­ri­sie­rung der Grenzen aktiv behin­dert. (Bild: Luca Mondgenast)

das Lamm: Amadou M’Bow, 2008 demon­strierten Sie vor dem Haupt­sitz von Frontex in Warschau, zwei Jahre später nahmen Sie an einer Protest­woche gegen Frontex auf der grie­chi­schen Insel Lesbos teil. Wie kam es zu diesen Protesten?

Amadou M’Bow: Alles begann mit einer Info­tour durch Deutsch­land. Ich berich­tete dort über die Migra­ti­ons­si­tua­tion in Maure­ta­nien, insbe­son­dere über ein Inter­nie­rungs­lager, das wir „kleines Guan­ta­namo” nannten. Mit Freund*innen in Deutsch­land und dem trans­na­tio­nalen Netz­werk Migr­eu­rope mobi­li­sierten wir eine Poli­ti­kerin der Grünen, die sich unserer Forde­rung anschloss, die Ille­ga­lität solcher Lager anzu­er­kennen. Am Ende wurde das Lager in Nouad­hibou tatsäch­lich geschlossen. Das gab uns Kraft und Elan – genug, um die Proteste gegen Frontex aufzu­nehmen. So fuhren wir nach Warschau, vor das Frontex-Hauptquartier.

Was waren damals die wich­tig­sten Forde­rungen aus Ihrer Sicht als Menschen­rechts­ak­ti­vist aus Mauretanien?

Für uns, die Bürger*innen Afrikas, ist Frontex eine Basis für Gewalt gegen Migrant*innen. Die Agentur treibt die Mili­ta­ri­sie­rung der Migra­ti­ons­routen voran, auch in unseren Heimat­län­dern. Dieses System der Migra­ti­ons­kon­trolle ist nicht vereinbar mit dem Recht auf Leben. Und die immer weitere Ausla­ge­rung dieser Kontrolle in afri­ka­ni­sche Länder verletzt die Souve­rä­nität der Länder des Südens.

In Warschau trafen wir den dama­ligen Frontex-Direktor zum Gespräch. Wir führten eine inten­sive Debatte mit ihm. Unser Start­punkt: Die Agentur und das, wofür sie steht, muss abge­schafft und funda­mental neu gedacht werden. Daraus entstand die Front­exit-Kampagne, die auf unser Kern­an­liegen aufmerksam machen soll: dass der Auftrag von Frontex mit den Grund­rechten unver­einbar ist.

„Der Ausdruck ‚Barça ou Barsakh’ ist ein Sprich­wort und heisst: Barce­lona oder Tod.”

Wir führten Aktionen in Brüssel, Nouak­chott und Rabat durch. Dadurch wurde Frontex auch in afri­ka­ni­schen Ländern vermehrt öffent­lich wahr­ge­nommen. Und 2011 riefen wir beim Welt­so­zi­al­forum in Dakar schliess­lich zu einer grossen Demon­stra­tion vor dem lokalen Frontex-Büro auf. Das waren wich­tige Meilen­steine, um die Zivil­ge­sell­schaft über das Wirken von Frontex zu informieren.

Nach mehr­jäh­riger Verhand­lung erhielt das WAV Recher­che­kol­lektiv über das Öffent­lich­keits­ge­setz Einsicht in über 1000 Seiten Doku­mente zur Schweizer Mitar­beit bei Frontex. Diese zeigen: Schweizer Frontex-Beamt*innen sind bis heute dort im Einsatz, wo systematisch Menschen­rechte verletzt werden. Und: Trotz hoher Geld­bei­träge hat die Schweiz wenig Mitspracherecht.

Die Frontex-Befürworter*innen und die Behörden sagten im Abstim­mungs­kampf zum Frontex-Refe­rendum, sie wollen die Agentur von innen heraus verbes­sern. Gelingt das tatsäch­lich? Das unter­su­chen wir in dieser vier­tei­ligen Rechercheserie.

Artikel 1: Im Abstimmungskampf

Eine geheime Info­notiz zeigt: Die Bundes­ver­wal­tung hielt brisante Infor­ma­tionen zurück. Ein Blick auf die dama­ligen Verspre­chen und die Situa­tion heute wirft Fragen auf. Wurde die Debatte unvoll­ständig geführt?

Artikel 2: Im Ausseneinsatz

Schweizer Beamt*innen stehen an den Grenzen Europas im Einsatz – dort, wo Menschen­rechte systematisch verletzt werden. Doch ihre Einsatz­be­richte erwähnen keine Verstösse. Wie kann das sein?

Artikel 3: Im Verwaltungsrat

Die Schweiz zahlt Hunderte Millionen an Frontex, hat aber kaum Mitspra­che­recht. Warum akzep­tiert sie diesen Deal? Und: Will sie über­haupt mehr Einfluss?

Artikel 4: Am Schei­deweg

Laut Menschen­rechts­ak­ti­vist Amadou M’Bow ist es unmög­lich, Frontex zu refor­mieren. Wie weiter?

Wie ist die Lage heute in der Region rund um Mauretanien?

Seit 2022 legen wieder viel mehr Boote von Maur­ta­nien, Senegal und Gambia ab, um den Atlantik in Rich­tung Kana­ri­sche Inseln zu über­queren. Frontex und die spani­sche Guardia Civil verschärften die Kontrollen, aber nicht um die Leute zu retten, sondern um sie abzu­fangen. Tausende Menschen kommen auf dieser Route jedes Jahr ums Leben. Und auch an Land gibt es eine Bruta­li­sie­rung im Umgang mit Migra­tion – etwa durch Massen­ab­schie­bungen in die Wüste oder die Inhaf­tie­rung von Migrant*innen. Alles in allem ist klar: Die Lage hat sich verschärft und verschärft sich laufend weiter.

In jüngerer Vergan­gen­heit entstand auch die Bewe­gung „Barça ou Barsakh”. Was hat es damit auf sich?

Der Ausdruck ist ein Sprich­wort auf Wolof, einer west­afri­ka­ni­schen Sprache, und heisst: Barce­lona oder Tod. Er spie­gelt die Verzweif­lung vieler junger Menschen in West­afrika wider. Sie sehen keine Perspek­tiven und befinden sich oft in einer Spirale der Hoff­nungs­lo­sig­keit. Ursa­chen dafür sind schlechte Regie­rungs­füh­rung, der Raub natür­li­cher Ressourcen, Armut und der Klima­wandel. Aber auch die neoko­lo­nialen Handels­be­zie­hungen mit Europa.

„Die Mili­ta­ri­sie­rung unseres Alltags für das euro­päi­sche Bedürfnis nach Migra­ti­ons­kon­trolle macht uns Angst. Aber nicht nur das – sie löst auch Wut aus.” 

Viele junge Menschen suchen in dieser Situa­tion ein lebens­wertes Leben – und nehmen dafür den Tod in Kauf. Entweder sie errei­chen Barce­lona und damit eine neue Chance für ein besseres Leben, oder sie sterben auf dem Weg dahin.

Wie hängt diese Entwick­lung mit Frontex zusammen?

Wir sehen die Perso­nen­frei­zü­gig­keit als elemen­tares Grund­recht und kultu­relles Erbe West­afrikas. Alle sollten sowohl das Recht haben, zu gehen oder zu bleiben. Doch die Präsenz von Frontex und damit die Mili­ta­ri­sie­rung unserer Grenzen stellt dieses Recht in Frage – ja, behin­dert es sogar aktiv. Es gibt Fest­nahmen, Abschie­bungen und Rück­füh­rungen, die Migrant*innen zwingen, immer unsicht­barer zu werden. Aber auch die alltäg­liche Bewe­gungs­frei­heit, das alltäg­liche Leben der Leute, leidet unter der Frontex-Präsenz.

Nehmen wir das Beispiel der Fischerei: Immer wieder berich­teten uns Leute, dass Küsten­wa­chen oder Frontex-Boote sie kontrol­lieren oder gar fest­nehmen, wenn sie fischen. Diese Mili­ta­ri­sie­rung unseres Alltags für das euro­päi­sche Bedürfnis nach Migra­ti­ons­kon­trolle macht uns Angst. Aber nicht nur das – sie löst auch Wut aus. Denn: Gibt es eine zivile Kontrolle oder eine demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­tion der Abkommen mit Frontex? Sind die Bürger*innen damit einver­standen? Ich denke nicht.

Lange vor der Grün­dung von Frontex enga­gierte sich Amadou M’Bow (59 Jahre) bereits für Migra­ti­ons­ge­rech­tig­keit. Der Akti­vist lebt in Nouak­chott, der Haupt­stadt Maure­ta­niens und enga­giert sich in Initia­tiven und Netz­werken wie der Asso­cia­tion Mauri­ta­ni­enne des Droits de l’Homme (AMDH), Alarme Phone Sahara und Afrique Europe Interact. Viele Jahre war M’Bow Co-Präsi­dent des trans­kon­ti­nen­talen Forschungs- und Aktivist*innennetzwerks Migr­europ. Er spielte eine entschei­dende Rolle in der Front­exit-Kampagne, kämpft bis heute gegen die Ausla­ge­rung und Mili­ta­ri­sie­rung der euro­päi­schen Migra­ti­ons­kon­trolle in afri­ka­ni­schen Staaten und setzt sich für globale Bewe­gungs­frei­heit ein. Als Präsi­dent der Maure­ta­ni­schen Verei­ni­gung für Staats­bür­ger­schaft und Entwick­lung (AMCD) koor­di­niert M’Bow derzeit das west­afri­ka­ni­sche Netz­werk zur Vertei­di­gung der Rechte von Migrant*innen Roa-Prodmac, das gegen Straf­lo­sig­keit kämpft und Migrant*innen den Zugang zur Justiz ermöglicht.

Sie spra­chen es bereits an: Die Ausla­ge­rung der EU-Grenzen und die Mili­ta­ri­sie­rung entlang der Migra­ti­ons­routen treffen die lokalen Gemein­schaften stark.

Das Beispiel mit den Fischer*innen habe ich ja bereits erwähnt. Doch es gibt zahl­reiche weitere solche Fälle: So hat im Jahr 2015 ein von der EU verfasstes Gesetz die Migra­tion in Niger über Nacht massiv krimi­na­li­siert und damit einen ganzen Geschäfts­zweig, die Migra­ti­ons­hilfe, zum Einsturz gebracht. Das hat die gesell­schaft­liche Stabi­lität massiv beeinflusst.

Dabei ist es wichtig, auch den histo­ri­schen Kontext zu verstehen. Die Perso­nen­frei­zü­gig­keit gab es bei uns lange vor dem Schen­gener Abkommen. Doch heute beein­träch­tiget die euro­päi­sche Migra­ti­ons­kon­trolle durch Frontex genau diese Frei­zü­gig­keit. Das ist ein grosses Problem, denn für uns Westafrikaner*innen ist die Bewe­gungs­frei­heit Teil unserer DNA. Das hat auch mit der Geschichte zu tun: Die Grenzen unserer Region folgen bis heute kolo­nialen Linien.

„Das rassi­sti­sche und exklu­sive Visare­gime ist für uns Afrikaner*innen eine Demütigung.”

Blicken wir auf Senegal und Gambia: Es ist die gleiche Bevöl­ke­rung, die gleiche Kultur, die glei­chen ursprüng­li­chen Spra­chen, die gleiche Reli­gion. Doch es sind zwei Länder. Im einen spricht man heute Englisch, im anderen Fran­zö­sisch. Viele Fami­lien haben einen Teil in Gambia, einen anderen im Senegal. Sich in diesem Raum zu bewegen, ist für uns ganz selbstverständlich.

Sie bezeichnen die Einschrän­kung der Bewe­gungs­frei­heit auch als Migra­ti­ons­apart­heid und neoko­lo­nial. Welche Aspekte der Apart­heid und des Kolo­nia­lismus sehen Sie im gegen­wär­tigen Migrationssystem?

Nehmen wir ein Beispiel aus meinem Alltag. Wenn wir in Europa Akti­vi­täten planen, dann erhalten die meisten unserer Aktivist*innen kein Visum. Sie können nicht kommen. Umge­kehrt ist es völlig anders: Unsere euro­päi­schen Freund*innen können problemlos reisen. Ihr Pass erlaubt es ihnen, ein Visum zu erhalten, respek­tive gar kein Visum zu brauchen.

Dieses rassi­sti­sche und exklu­sive Visare­gime ist für uns Afrikaner*innen eine Demü­ti­gung. Und es macht klar: Es gibt zwei Arten von Weltbürger*innen. Die einen sind durch ihre Geburt privi­le­giert, die anderen nicht – weil sie in Latein­ame­rika, Afrika oder Asien geboren sind. Das ist der Apart­heid sehr ähnlich: Es gibt Menschen mit unter­schied­li­chen Rechten aufgrund ihrer Herkunft. Und ja, das hat natür­lich absolut mit Kolo­nia­lismus zu tun. Es sind die ehema­ligen Kolo­ni­al­mächte, die diese Bezie­hungen domi­nieren und die Gesetze diktieren.

Das zeigt sich auch in den bila­te­ralen Abkommen unserer Staaten mit der EU. Nehmen wir erneut das Beispiel der Fischer*innen: Die Fische­rei­ab­kommen erlauben der EU, bis tief in unsere Gewässer indu­striell zu fischen. Aber für unsere Klein­fi­scherei ist das eine Kata­strophe. Unsere Küsten sind leer­ge­fischt, es gibt kaum noch Fische. Das führt dazu, dass sich viele Fischer*innen eine neue Arbeit suchen müssen. Oder zur Migra­tion gezwungen werden. Dieses Elend ist konstru­iert. Es nützt den lokalen Eliten und den euro­päi­schen Märkten, während der Gross­teil der afri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung darunter leidet.

Sie sind gerade an einer Konfe­renz in Genf. In der Schweiz befür­worten viele Menschen eine sehr restrik­tive Migra­ti­ons­po­litik. Gleich­zeitig ist das Land ein wich­tiger Markt für Güter und Geld aus anderen Ländern, viele multi­na­tio­nale Unter­nehmen zahlen hier ihre Steuern. Mit anderen Worten: Die Schweiz profi­tiert enorm von der globalen Wirt­schaft und Politik. Wie beur­teilen Sie diese Dualität?

Das ist die grosse Heuchelei, in der wir leben. Länder wie die Schweiz profi­tieren von der Migra­tion, vom globalen Waren- und Geld­fluss. Und gleich­zeitig stellen sie den Anspruch, Migra­tion voll­kommen nach ihren eigenen Ansprü­chen zu kontrol­lieren. Schauen Sie, die Rech­nung ist doch einfach: Solange der Geld- und Waren­fluss in eine Rich­tung geht, wird es immer auch Migra­tion in diese Rich­tung geben.

„Frontex kann nicht refor­miert werden.”

Aber auch da gibt es eine Lüge: Die Behaup­tung, dass die meisten Menschen nach Europa wollen. Das ist völlig absurd. Die Stati­stiken belegen das Gegen­teil: Weit mehr Afrikaner*innen migrieren inner­halb des Konti­nents, als dass sie den Weg nach Europa wählen.

Ich bin über­zeugt, dass diese kurz­fri­stige, isolie­rende und ausbeu­te­ri­sche Sicht­weise irgend­wann zusam­men­bre­chen wird. Denn: Migra­tion berei­chert die Gesell­schaft. Gemein­schaften wachsen durch Austausch und Inter­ak­tion, sie berei­chern sich gegen­seitig. Ich bin über­zeugt von der Gesell­schaft der Vielen. Keine Migra­tion bedeutet keine Begeg­nung, keinen Austausch. Das finde ich eine engstir­nige und einengende Vorstellung.

2006 star­tete Frontex ihre erste Mission ausser­halb Europas vor der Küste Sene­gals: Die Opera­tion Hera sollte Boote abfangen, die von dort zu den Kana­ri­schen Inseln fuhren. Über die Jahre baute Frontex die Zusam­men­ar­beit mit afri­ka­ni­schen Staaten aus. Um diese zu forma­li­sieren und um etwa selbst Einsätze durch­führen zu können, wollte Frontex 2023 soge­nannte Status­ab­kommen mit dem Senegal und Maure­ta­nien abschliessen. Diese wurden jedoch bis heute nicht realisiert.

Erst im Oktober 2024 forderte Spanien erneut, dass Frontex die west­afri­ka­ni­schen Staaten stärker beim Migra­ti­ons­ma­nage­ment unter­stützt. Frontex unter­hält mitt­ler­weile Verbin­dungs­büros in Niger und Senegal sowie Arbeits­ver­ein­ba­rungen mit Nigeria und den Kapverden. Solche Verein­ba­rungen kann die Agentur zwar einfa­cher und selbst­stän­diger abschliessen als Status­ab­kommen, aber sie sind trotzdem weit­rei­chend: Sie regeln den Infor­ma­ti­ons­aus­tausch, die Unter­stüt­zung bei der Grenz­über­wa­chung und Rückführungen.

Kaum bekannt, aber ein weiterer Beweis für die weit­rei­chenden Befug­nisse von Frontex ist die Africa-Frontex Intel­li­gence Commu­nity (AFIC). Dieses Netz­werk existiert seit 2010 und zählt mitt­ler­weile 30 Mitglied­staaten. Die AFIC erleich­tert den behörd­li­chen Infor­ma­ti­ons­aus­tausch und fördert den Ausbau der Migra­ti­ons­kon­trolle durch Work­shops, Trai­nings und Konfe­renzen. Zudem baut sie Kapa­zi­täten auf, um migra­ti­ons­be­zo­gene Daten zu sammeln und Daten­banken zu erstellen, die mit denen der EU kompa­tibel sind. So könnten Migra­ti­ons­da­ten­banken künftig auch inter­kon­ti­nental genutzt werden – und Frontex hätte immer mehr Infor­ma­tionen, wer zu welchem Zeit­punkt welche Grenzen über­quert. Und zwar schon lange bevor Migrant*innen die EU erreichen.

Auch in Nord­afrika ist Frontex aktiv: Über unter­schied­liche Kanäle koope­riert Frontex mit Sicher­heits­kräften, unter anderem in Libyen und Marokko. Damit unter­stützt sie deren gewalt­tä­tiges Vorgehen gegen Migrant*innen.

Inwie­fern spielen Frontex und das dahin­ter­ste­hende System auch eine wirt­schaft­liche Rolle für Europa?

Frontex und die Ausla­ge­rung der Migra­ti­ons­kon­trolle nach Afrika sind ganz klar ein Wirt­schafts­mo­dell für Europa. Es braucht ja gigan­tisch viel Infra­struktur: Man kauft Computer, Waffen, Über­wa­chungs­technik, Fahr­zeuge. Das ist ein milli­ar­den­schweres Geschäft für den Norden. Aber diese Milli­arden sind letzt­end­lich verschwen­detes Geld. Denn entgegen der Verspre­chungen der Politiker*innen wird Migra­tion damit nicht gestoppt. Das Geld sollte viel eher in die Entwick­lung der afri­ka­ni­schen Wirt­schaft und den Aufbau nach­hal­tiger Wirt­schafts­mo­delle fliessen.

Die Schweiz unter­stützt Frontex mit mehreren hundert Millionen. Damit will sie auch die Achtung der Menschen­rechte durch die Agentur stärken. Ist das möglich?

Schauen wir doch auf die letzten 20 Jahre Arbeit von Frontex. Ist diese Art der Migra­ti­ons­kon­trolle mit den Menschen­rechten vereinbar? Nein, auf keinen Fall. Frontex behin­dert das Recht auf Bewe­gungs­frei­heit und das System, für das es steht, stellt das Recht von Afrikaner*innen auf Leben in Frage. Das ist nicht vereinbar mit den Menschenrechten.

Deshalb sagen wir klar: Frontex kann nicht refor­miert werden. Frontex muss abge­schafft werden. Denn es wurde für einen schlechten Zweck geschaffen: Für die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung eines funda­mental unge­rechten Migra­ti­ons­sy­stems, das die kolo­nialen Bezie­hungen zwischen Europa und Afrika weiter­führt. Dieses bleibt auch in einem netteren Gewand untragbar.

Kommen wir zurück auf die Demon­stra­tionen in Warschau und Lesbos. Welche Rolle spielt eine trans­na­tio­nale Zivil­ge­sell­schaft von West­afrika bis Europa?

Sie ist wich­tiger denn je: Wir müssen uns gemeinsam gegen diese Unge­rech­tig­keit und Gewalt wehren. In Lesbos etwa haben wir mit rund hundert Leuten demon­striert. Und wir haben ein Tor eines Geflüch­te­ten­la­gers geöffnet, um uns mit den Bewohner*innen zusam­men­zu­schliessen. Das war ein schöner Moment und zeigte: Gemeinsam sind wir stark.

Trans­na­tio­nalen Netz­werke sind deshalb äusserst notwendig. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und die Perspek­tiven auf Migra­tion verän­dern. Wir müssen die jungen Leute errei­chen und schöne Aktionen orga­ni­sieren, wie in Warschau, Lesbos, Nouak­chott oder Dakar. Wir brau­chen Brücken zwischen Afrika und Europa – trans­kon­ti­nen­tale und anti­ko­lo­niale Verbin­dungen. Damit wir weiter gegen dieses System der Unge­rech­tig­keit kämpfen können und gleich­zeitig soli­da­ri­sche Bezie­hungen knüpfen, die nach­haltig und freund­schaft­lich sind.

Diese Recherche wurde durch zweck­ge­bun­dene Beiträge vom Euro­päi­schen Bürger*innen Forum (EBF) und Soli­da­rité sans fron­tières (SOSF) unter­stützt. Die Unter­stüt­zung ermög­lichte die Auswer­tung von den über 1000 Seiten Doku­menten, die via Öffent­lich­keits­prinzip offen­ge­legt werden konnten. Die Arti­kel­serie wurde redak­tio­nell unab­hängig nach jour­na­li­sti­schen Stan­dards produ­ziert. Jegliche Einfluss­nahme auf den redak­tio­nellen Prozess ist laut Verein­ba­rung ausge­schlossen. Die Recherche wie auch die redak­tio­nelle Umset­zung erfolgte in Zusam­men­ar­beit zwischen dem WAV Recher­che­kol­lektiv und das Lamm.


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