Vor gut einem Monat hat ein gewaltiger Bergsturz das Dorf Blatten im Wallis weitgehend verschüttet.
„Blatten statt Bangladesch – Jetzt Schweizer Opfern helfen statt Milliarden ins Ausland verschenken!” lautete der Erklärtext zum Interview mit SVP-Präsident Marcel Dettling, das zehn Tage nach dem Bergsturz auf dem parteieigenen Insta-Kanal veröffentlicht wurde. Dettling argumentiert im Gespräch, dass man nun endlich auch mal an die einheimische Bevölkerung denken solle, anstatt Milliarden für Entwicklungszusammenarbeit ins Ausland zu verschleudern.
Das konnte ich nicht so stehen lassen. Kurzerhand postete ich einen Kommentar: „Wer wirklich solidarisch sein will mit Blatten, hat folgende Möglichkeiten: nicht mehr fliegen, kein Fleisch essen, SUV stehen lassen… Was wählst du?”
Klimatipps auf SVP-Kanälen: Das kommt in der Regel nicht gut an. Also drückte ich auf „Kommentieren” und wischte Insta weg. Doch so schlimm kam es gar nicht. Natürlich kassierte ich das obligatorische ich-schlag-mir-mit-der-flachen-Hand-an-den-Kopf-Emoji und ein anderer User versuchte, seine innere Zerrissenheit mit einem Gegenangriff zu parieren: „Ich wähle mein V8 mit 450 PS und 3x im Jahr mehr in die Ferien fliegen 😘”.
Sogar dieser angriffige Kommentar wurde von einem Kuss-Emoji begleitet. Gut möglich, dass es mit einem zynischen Unterton gesetzt wurde – aber immerhin habe ich kein Scheisshaufen-Emoji abbekommen. Und: Meine Bemerkung hat nicht nur Gegenwind, sondern auch ganze neun Herzchen abgesahnt. Es scheint in der SVP-Community also doch ein paar Leute zu geben, die einem etwas bescheideneren und damit auch klimastabilerem Lebensstil das eine oder andere abgewinnen können.
Laut einer Studie aus Deutschlande ist einem Fünftel der Jugendlichen der Begriff Klimawandel fremd.
Und doch: Während Einzelne versuchen, konsequent zu leben, treffen Erdölkonzerne, Airlines oder Autoherstellende weiterhin milliardenschwere Entscheidungen gegen unsere Zukunft – und das weitgehend ungebremst. Solidarität mit Blatten heisst nicht nur aufs Fliegen zu verzichten, sondern auch, sich für eine Politik stark zu machen, die diese Konzerne zur Verantwortung zieht.
Spezifisch an die Adresse der SVP hiesse das: Aufhören, griffige Klimaregeln auf politischer Ebene zu blockieren.
Erstaunt haben mich aber auch noch andere Antworten auf meinen Kommentar: „Häää? Het doch z eintä nüt mitem andere z tue! I gloub du muesch dini Ussag no mau überdenke…”. Und es gab noch mehr solche Reaktionen.
Sitzt auf der anderen Seite des Black Mirrors tatsächlich eine Person, die den Zusammenhang zwischen dem Bergsturz in Blatten und einem klimafreundlichen Lebensstil nicht versteht? Als Klimajournalistin, die sich tagtäglich mit dem Thema auseinandersetzt, ist das natürlich schwer nachvollziehbar. Aber laut einer Studie aus Deutschland ist einem Fünftel der Jugendlichen der Begriff Klimawandel tatsächlich fremd. Vielleicht sind wir mit der Aufklärung über die Klimakrise also doch noch nicht soweit, wie wir denken.
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Und ja, auch ich habe bei der Berichterstattung zu Blatten einiges über die konkreten Auswirkungen des tauenden Permafrostes dazugelernt. Zum Beispiel, dass Permafrost gar nicht deshalb wichtig ist, weil er das Gestein zusammenklebt. Vielmehr verhindert die Dauereisschicht, dass Wasser in die Gesteinsritzen eindringt. Wasser im Gestein kann dazu führen, dass im Felsen ein grosser Druck entsteht, was natürlich zu mehr Instabilität führt. Kann kein Wasser in den Felsen, bleibt er stabiler.
Als ich das las, huschte mir ein Bild durch den Kopf: Könnte man, wenn wir den Permafrost verlieren, instabile Felswände dann vielleicht einfach mit riesengrossen Plastikblachen abdecken, um uns gegen weitere Bergstürze zu schützen? Der Gedanke lässt mich schmunzeln und macht mich zugleich traurig. Dieses Szenario ist gar nicht mal so unwahrscheinlich: Unsere Gletscher decken wir ja auch schon zu.
Hoffentlich kommt es nicht so weit, dass ich in fünf oder zehn Jahren beim Anblick von plastikverhangenen Steilhängen an diese Zeilen zurückdenken muss. Hoffentlich sind bald mehr Leute bereit ihr Leben auf klimastabil umzustellen, mehr Unternehmen bereit unsere Zukunft höher zu gewichten als ihren Profit. Und hoffentlich schafft es die Politik endlich die Weichen in Richtung konsequenten Klimaschutz zu stellen – aus Solidarität mit Blatten und mit allen Menschen auf dieser Welt, die von der Klimakrise bedroht sind oder es noch sein werden. Damit wir es als Gesellschaft schaffen, eine klimagerechte Wirtschaft zu etablieren. Und damit uns in Zukunft nicht die ganzen Alpen zerbröseln und noch mehr Dörfer unter sich begraben.
Würde ich in Blatten leben, würde ich klagen: gegen Holcim, RWE, Shell und Co.
Nicht alle Menschen sind gleichermassen verantwortlich für die bröckelnden Felsen über Blatten. Es geht nicht um die Leute, die in beengten Stadtwohnungen leben müssen und sich in der brühenden Hitze eine Klimaanlage installieren. Es geht auch nicht um den Bauern aus dem Lötschental, der auf seinen SUV angewiesen ist. Es geht vor allem um die, die seit Jahrzehnten mit Klimazerstörung Profit machen – und es bis heute tun.
Würde ich in Blatten leben – ich wäre so wütend.
Auf alle, die nicht mithelfen meine Heimat zu stabilisieren und vor allem auf all die Konzerne, die in den letzten Jahrzehnten ihren gasförmigen Abfall gratis und mit viel Profit in der Atmosphäre abgeladen haben. Würde ich in Blatten leben, würde ich klagen: gegen Holcim, RWE, Shell und Co.
Und ich wäre nicht die Erste. Der peruanische Bauer Saúl Luciano Lliuya kämpfte zehn Jahren lang vor Gericht gegen den deutschen Energiekonzern RWE. Lliuya wohnt wie die Leute von Blatten unterhalb eines Gletschers. Mit seiner Klimaklage wollte er erreichen, dass sich RWE mit 0.38 Prozent an der Finanzierung der Schutzmassnahmen beteiligt, die durch den tauendenden Permafrost nun nötig werden, um sein Haus zu schützen. Wieso 0.38 Prozent? RWE ist für 0.38 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die seit Beginn der Industrialisierung weltweit ausgestossen wurden.
Ende Mai fiel der finale Urteilsspruch: Die Klimaklage wird abgewiesen. Aber nicht etwa, weil das Gericht die Verantwortung von RWE infrage stellte, sondern weil laut einem gerichtlich angeordneten Gutachten keine akute Gefahr für Lliuyas Grundstück bestehe – jedenfalls nicht in den nächsten 30 Jahren.
Eine Klage aus Blatten dürfte also durchaus gute Erfolgschancen haben. Denn daran, dass Blatten gefährdet war, besteht traurigerweise kein Zweifel mehr.
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