Würde ich in Blatten leben, würde ich klagen

Ein Monat nach dem verhee­renden Berg­sturz in Blatten im Wallis ist eine Debatte um Klima­ver­ant­wor­tung entbrannt. Für unsere Autorin Alex Tiefen­ba­cher ist klar: Soli­da­rität mit den Betrof­fenen zeigt sich in konse­quenter Klimapolitik. 
Das klimaschädliche Profitstreben und die verfehlten politischen Massnahmen gegen die Klimakrise mussten die Mensch in Blatten am eigenen Leib erfahren. (Bild: Luca Mondgenast)

Vor gut einem Monat hat ein gewal­tiger Berg­sturz das Dorf Blatten im Wallis weit­ge­hend verschüttet. 

„Blatten statt Bangla­desch – Jetzt Schweizer Opfern helfen statt Milli­arden ins Ausland verschenken!” lautete der Erklär­text zum Inter­view mit SVP-Präsi­dent Marcel Dett­ling, das zehn Tage nach dem Berg­sturz auf dem partei­ei­genen Insta-Kanal veröf­fent­licht wurde. Dett­ling argu­men­tiert im Gespräch, dass man nun endlich auch mal an die einhei­mi­sche Bevöl­ke­rung denken solle, anstatt Milli­arden für Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit ins Ausland zu verschleudern.

Das konnte ich nicht so stehen lassen. Kurzer­hand postete ich einen Kommentar: „Wer wirk­lich soli­da­risch sein will mit Blatten, hat folgende Möglich­keiten: nicht mehr fliegen, kein Fleisch essen, SUV stehen lassen… Was wählst du?”

Klima­tipps auf SVP-Kanälen: Das kommt in der Regel nicht gut an. Also drückte ich auf „Kommen­tieren” und wischte Insta weg. Doch so schlimm kam es gar nicht. Natür­lich kassierte ich das obli­ga­to­ri­sche ich-schlag-mir-mit-der-flachen-Hand-an-den-Kopf-Emoji und ein anderer User versuchte, seine innere Zerris­sen­heit mit einem Gegen­an­griff zu parieren: „Ich wähle mein V8 mit 450 PS und 3x im Jahr mehr in die Ferien fliegen 😘”. 

Sogar dieser angrif­fige Kommentar wurde von einem Kuss-Emoji begleitet. Gut möglich, dass es mit einem zyni­schen Unterton gesetzt wurde – aber immerhin habe ich kein Scheiss­haufen-Emoji abbe­kommen. Und: Meine Bemer­kung hat nicht nur Gegen­wind, sondern auch ganze neun Herz­chen abge­sahnt. Es scheint in der SVP-Commu­nity also doch ein paar Leute zu geben, die einem etwas beschei­de­neren und damit auch klima­sta­bi­lerem Lebens­stil das eine oder andere abge­winnen können.

Laut einer Studie aus Deutsch­lande ist einem Fünftel der Jugend­li­chen der Begriff Klima­wandel fremd.

Und doch: Während Einzelne versu­chen, konse­quent zu leben, treffen Erdöl­kon­zerne, Airlines oder Auto­her­stel­lende weiterhin milli­ar­den­schwere Entschei­dungen gegen unsere Zukunft – und das weit­ge­hend unge­bremst. Soli­da­rität mit Blatten heisst nicht nur aufs Fliegen zu verzichten, sondern auch, sich für eine Politik stark zu machen, die diese Konzerne zur Verant­wor­tung zieht.

Spezi­fisch an die Adresse der SVP hiesse das: Aufhören, grif­fige Klima­re­geln auf poli­ti­scher Ebene zu blockieren.

Erstaunt haben mich aber auch noch andere Antworten auf meinen Kommentar: „Häää? Het doch z eintä nüt mitem andere z tue! I gloub du muesch dini Ussag no mau über­denke…”. Und es gab noch mehr solche Reaktionen. 

Sitzt auf der anderen Seite des Black Mirrors tatsäch­lich eine Person, die den Zusam­men­hang zwischen dem Berg­sturz in Blatten und einem klima­freund­li­chen Lebens­stil nicht versteht? Als Klima­jour­na­li­stin, die sich tagtäg­lich mit dem Thema ausein­an­der­setzt, ist das natür­lich schwer nach­voll­ziehbar. Aber laut einer Studie aus Deutsch­land ist einem Fünftel der Jugend­li­chen der Begriff Klima­wandel tatsäch­lich fremd. Viel­leicht sind wir mit der Aufklä­rung über die Klima­krise also doch noch nicht soweit, wie wir denken.

Und ja, auch ich habe bei der Bericht­erstat­tung zu Blatten einiges über die konkreten Auswir­kungen des tauenden Perma­fro­stes dazu­ge­lernt. Zum Beispiel, dass Perma­frost gar nicht deshalb wichtig ist, weil er das Gestein zusam­men­klebt. Viel­mehr verhin­dert die Dauer­eis­schicht, dass Wasser in die Gesteins­ritzen eindringt. Wasser im Gestein kann dazu führen, dass im Felsen ein grosser Druck entsteht, was natür­lich zu mehr Insta­bi­lität führt. Kann kein Wasser in den Felsen, bleibt er stabiler. 

Als ich das las, huschte mir ein Bild durch den Kopf: Könnte man, wenn wir den Perma­frost verlieren, insta­bile Fels­wände dann viel­leicht einfach mit riesen­grossen Plastikb­la­chen abdecken, um uns gegen weitere Berg­stürze zu schützen? Der Gedanke lässt mich schmun­zeln und macht mich zugleich traurig. Dieses Szenario ist gar nicht mal so unwahr­schein­lich: Unsere Glet­scher decken wir ja auch schon zu.

Hoffent­lich kommt es nicht so weit, dass ich in fünf oder zehn Jahren beim Anblick von plastik­ver­han­genen Steil­hängen an diese Zeilen zurück­denken muss. Hoffent­lich sind bald mehr Leute bereit ihr Leben auf klima­stabil umzu­stellen, mehr Unter­nehmen bereit unsere Zukunft höher zu gewichten als ihren Profit. Und hoffent­lich schafft es die Politik endlich die Weichen in Rich­tung konse­quenten Klima­schutz zu stellen – aus Soli­da­rität mit Blatten und mit allen Menschen auf dieser Welt, die von der Klima­krise bedroht sind oder es noch sein werden. Damit wir es als Gesell­schaft schaffen, eine klima­ge­rechte Wirt­schaft zu etablieren. Und damit uns in Zukunft nicht die ganzen Alpen zerbrö­seln und noch mehr Dörfer unter sich begraben.

Würde ich in Blatten leben, würde ich klagen: gegen Holcim, RWE, Shell und Co. 

Nicht alle Menschen sind glei­cher­massen verant­wort­lich für die bröckelnden Felsen über Blatten. Es geht nicht um die Leute, die in beengten Stadt­woh­nungen leben müssen und sich in der brühenden Hitze eine Klima­an­lage instal­lieren. Es geht auch nicht um den Bauern aus dem Lötschental, der auf seinen SUV ange­wiesen ist. Es geht vor allem um die, die seit Jahr­zehnten mit Klima­zer­stö­rung Profit machen – und es bis heute tun.

Würde ich in Blatten leben – ich wäre so wütend.

Auf alle, die nicht mithelfen meine Heimat zu stabi­li­sieren und vor allem auf all die Konzerne, die in den letzten Jahr­zehnten ihren gasför­migen Abfall gratis und mit viel Profit in der Atmo­sphäre abge­laden haben. Würde ich in Blatten leben, würde ich klagen: gegen HolcimRWEShell und Co. 

Und ich wäre nicht die Erste. Der perua­ni­sche Bauer Saúl Luciano Lliuya kämpfte zehn Jahren lang vor Gericht gegen den deut­schen Ener­gie­kon­zern RWE. Lliuya wohnt wie die Leute von Blatten unter­halb eines Glet­schers. Mit seiner Klima­klage wollte er errei­chen, dass sich RWE mit 0.38 Prozent an der Finan­zie­rung der Schutz­mass­nahmen betei­ligt, die durch den tauen­denden Perma­frost nun nötig werden, um sein Haus zu schützen. Wieso 0.38 Prozent? RWE ist für 0.38 Prozent der CO2-Emis­sionen verant­wort­lich, die seit Beginn der Indu­stria­li­sie­rung welt­weit ausge­stossen wurden.

Ende Mai fiel der finale Urteils­spruch: Die Klima­klage wird abge­wiesen. Aber nicht etwa, weil das Gericht die Verant­wor­tung von RWE infrage stellte, sondern weil laut einem gericht­lich ange­ord­neten Gutachten keine akute Gefahr für Lliuyas Grund­stück bestehe – jeden­falls nicht in den näch­sten 30 Jahren. 

Eine Klage aus Blatten dürfte also durchaus gute Erfolgs­chancen haben. Denn daran, dass Blatten gefährdet war, besteht trau­ri­ger­weise kein Zweifel mehr.


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