Sie klagen gegen Mega­kon­zern Holcim

In Zug beginnt der erste zivil­recht­liche Klima­pro­zess der Schweiz: Vier Fischer*innen von der Insel Pari verklagen den Zement­kon­zern Holcim. Sie fordern, dass der Konzern für seine CO₂-Emis­sionen Verant­wor­tung über­nimmt – ihre Heimat ist vom stei­genden Meeres­spiegel bedroht. 
Im Kampf gegen Holcim: Fischer Arif Pujiyanto (vorne rechts) und Ibu Asmania (Mitte), begleitet von Anwältin Gordelia Bähr (vorne links), auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung im Parlamentsgebäude in Zug. (Foto: Daniel Rihs)

Ibu Asmania steht die Wut ins Gesicht geschrieben, als sie am 3. September die breite Treppe des Zuger Regie­rungs­ge­bäudes herun­ter­läuft. Noch wurde nichts entschieden, doch das Plädoyer des Holcim-Vertei­di­gers hat ihr die Laune verdorben. «Wir sind von einer kleinen Insel und kämpfen gegen einen riesigen Konzern. Wir spüren den Klima­wandel Tag für Tag – die Vertreter von Holcim nicht.» Asmania ist zusammen mit ihrem Mitstreiter Arif Pujinto für den Prozess­auf­takt nach Zug gereist. Die anderen beiden Kläger, Pak Bobby und Edi Mulyono, verfolgen den Prozess von Indo­ne­sien aus.

Das Inter­esse am Prozess ist so gross, dass die Anhö­rung ins Regie­rungs­ge­bäude verlegt werden musste. Unter einem grossen Jesus, mit einem Schwei­zer­kreuz zur linken und einer weiss-blau-weissen Kantons­flagge zur rechten Seite, lauschen die drei Kantonsrichter*innen zunächst den Argu­menten der Kläger*innen, dann jenen der Vertei­di­gung. Ausge­rechnet hier, im kapi­tal­freund­li­chen Kanton Zug, könnte Rechts­ge­schichte geschrieben werden: Der ansäs­sige Zement­kon­zern steht erst­in­stanz­lich vor Gericht, weil sein CO₂-Ausstoss die Persön­lich­keits­rechte der vier Fischer*innen verletze.

Durch den stei­genden Meeres­spiegel wird ihre Insel Pari, die nur 1,5 Meter über dem Meeres­spiegel liegt, über­flutet. Zum ersten Mal beschäf­tigt sich ein Schweizer Zivil­ge­richt mit einer Klima­klage aus dem globalen Süden. Unter­stützt werden die Kläger*innen von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion wie der HEKS.

Ist der Zement­her­steller für seine CO₂-Emis­sionen haftbar?

Doppelt so viele Emis­sionen wie die Schweiz

Holcim betreibt in Indo­ne­sien keine eigene Zement­pro­duk­tion, muss sich in Zug aber wegen seiner globalen Emis­sionen vertei­digen. Laut dem Climate Accoun­ta­bi­lity Insti­tute ist Holcim für 0,42 Prozent der welt­weiten indu­stri­ellen CO₂-Emis­sionen seit 1750 verant­wort­lich – mehr als doppelt so viel wie der CO₂-Fuss­ab­druck der Schweiz.

Die Forde­rungen der Kläger*innen: Holcim soll seine Emis­sionen so weit verrin­gern, dass sie mit dem 1,5‑Grad-Ziel von Paris vereinbar sind.

Der Hunger nach dem Bau-Allheil­mittel Beton hat sich in den letzten drei Jahr­zehnten verviel­facht. Davon profi­tiert Holcim, eines der welt­weit führenden Unter­nehmen der Baustoff­in­du­strie. Acht Prozent des jähr­lich ausge­stos­senen CO₂ gehen auf das Konto der Zement­in­du­strie – dreimal so viel wie der globale Flugverkehr.

Drei Forde­rungen, eine Hoffnung

Sanftes Morgen­licht plät­schert durch den Raum, als die Anwältin der Kläger*innen, Cordelia Bähr, ihr Plädoyer eröffnet. Bähr ist ein bekannter Name, sie hat die Klimasenior*innen erfolg­reich in Strass­burg vertreten. Der Euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte folgte ihrer Argu­men­ta­tion, dass die Schweiz zu wenig tue, um ältere Frauen vor den Folgen des Klima­wan­dels zu schützen.

Heute argu­men­tiert Bähr jedoch nicht gegen einen Staat, sondern gegen den privaten Konzern Holcim. Ihre Argu­men­ta­tion basiert auf dem Zivil­ge­setz­buch: Die Kläger*innen seien durch den Klima­wandel akut und existen­ziell in ihren Persön­lich­keits­rechten laut Artikel 28 ZGB bedroht. Doch es gebe Hoff­nung: Werde die Erhit­zung einge­dämmt, bleibe die Insel Pari bewohnbar. Dafür sei Holcim mitverantwortlich.

Sie verklagen den Zement­kon­zern für seine Rolle in der Klima­krise: Edi Mulyono (links) und Ibu Asmania im Juni 2023 vor dem Zement­werk Eclé­pens. (Bild: Lorenz Kumme)

Die Forde­rungen der Kläger*innen: Holcim soll seine Emis­sionen so weit verrin­gern, dass sie mit dem 1,5‑Grad-Ziel von Paris vereinbar sind. Der Konzern soll eine Entschä­di­gung für vergan­gene Schäden auf der Insel Pari zahlen, denn der Meeres­spiegel ist bereits um 20 Zenti­meter gestiegen. Und, Holcim soll sich finan­ziell an Mass­nahmen betei­ligen, um weitere Schäden zu verhin­dern, etwa an der Bepflan­zung mit Mangroven oder dem Bau von Wellenbrechern.

Die gefor­derten Summen sind gering, insge­samt etwa 15 000 Franken. Für Holcim kaum der Rede wert. Doch ein Schuld­spruch könnte Präze­den­z­wir­kung haben und eine Flut ähnli­cher Verfahren auslösen.

Bähr trägt ihre Argu­mente klar und frei von Pathos vor. Als Ibu Asmania am Ende des Plädoyers aufsteht, wird es still im Saal. «Sehr geehrte Kantons­richter», setzt sie an. «Ich bin weit gereist und habe meine Kinder allein gelassen, um hier zu sein.» Inständig bittet Asmania die Richter*innen, die Klage zu prüfen. Denn heute geht es nicht um deren mate­ri­ellen Inhalt, sondern um die Zuläs­sig­keit der Klage: Hat die Kläger*innenschaft ein schutz­wür­diges Inter­esse? Und ist das Kantons­ge­richt Zug über­haupt dafür zuständig?

«Wer klagt? Die ganze Menschheit?»

Holcims Vertei­di­gung versucht darzu­legen, warum diese Fragen mit «Nein» beant­wortet werden müssen. Bei Klima­fragen liessen sich Kläger*innen, Beklagte und Kausa­li­täten nicht trenn­scharf iden­ti­fi­zieren. Holcim bedauere das Schicksal der vier Fischer*innen, doch welt­weit seien über drei Milli­arden Menschen beson­ders vom Klima­wandel betroffen, so die Vertei­di­gung unter Verweis auf Zahlen des IPCC. Würde die Klage Erfolg haben, könnte theo­re­tisch jeder jeden wegen Klima­schäden verklagen. «Wer klagt: Die gesamte Mensch­heit? Wer wird ange­klagt: Eben­falls die gesamte Mensch­heit?», fragt die Vertei­di­gung rhetorisch.

Holcim sei will­kür­lich ausge­sucht. Das Unter­nehmen produ­ziere nicht aus Böswil­lig­keit, sondern aufgrund der Nach­frage. Selbst bei null Produk­tion würde der Meeres­spiegel weiter steigen. «Rein gar nichts würde sich dadurch am Schicksal der Kläger*innen ändern», so der Vertei­diger. Die Scha­dens­er­satz­for­de­rung sei besten­falls symbo­lisch. Umständ­lich kramt er ein paar Münzen aus der Hosen­ta­sche und legt sie auf das Redner­pult. Wenn es um ein paar Franken gehe, könne man das auch so lösen, meint der Vertei­diger. Die Geste sorgt für Stirnrunzeln.

Die Vertei­di­gung fährt fort: Der Prozess sei eine thea­trale Insze­nie­rung – vier hart betrof­fene Kläger*innen gegen einen Böse­wicht. Das Kantons­ge­richt sei aber nicht die rich­tige Bühne, um solche Diskus­sionen zu führen. Zuständig für die Durch­set­zung der CO₂-Reduk­tionen seien die Parla­mente, nicht die Gerichte.

«Die Vertei­di­gungs­stra­tegie der grossen Emit­tenten ist welt­weit die gleiche.»

Roda Verheyen, Anwältin

Dann greift die Vertei­di­gung die unter­stüt­zenden NGOs an. Diese hätten die Kläger*innen stra­te­gisch ausge­wählt und instru­men­ta­li­siert. Eine akti­vi­sti­sche Klage, einge­reicht von Schweizer Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen, denen der parla­men­ta­ri­sche Prozess zu schlep­pend voranschreite.

Bekannte Argu­mente

Von diesen Argu­menten ist auf Seiten der Kläger*innen niemand über­rascht. Bähr hat sie in ihrem Plädoyer bereits vorweg­ge­nommen. Auch Roda Verheyen kennt sie aus früheren Verfahren. Sie vertrat den perua­ni­schen Bauern Saúl Luciano Lliuya gegen den deut­schen Kohle­kon­zern RWE vor dem Ober­ge­richt in Hamm. In dem Fall erkannte ein euro­päi­sches Gericht erst­mals an, dass grosse Emit­tenten nach Zivil­recht für Klima­folgen haftbar gemacht werden können.

«Die Vertei­di­gungs­stra­tegie der grossen Emit­tenten ist welt­weit die gleiche», so Verheyen. «Alles, was hier in drei­ein­halb Stunden bespro­chen wurde, hat man in Hamm zugun­sten des Klägers entschieden.» Argu­mente, dass es sich um poli­ti­sche und nicht zivil­recht­liche Fragen handele, seien erfolg­reich entkräftet worden.

Klima­klagen welt­weit im Aufwind

Seit der Unter­zeich­nung des Pariser Klima­ab­kom­mens 2015 nehmen Klima­klagen rapide zu: Von sechs Verfahren 2015 auf 56 im Jahr 2023 und 36 im Jahr 2024, wie Recher­chen der Repu­blik zeigen. Eine der bedeu­tend­sten hängigen Klagen ist die nieder­län­di­sche Sammel­klage gegen Shell mit über 17 000 Betei­ligten. Der Konzern soll Menschen­rechte verletzen, etwa das Recht auf Leben oder auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Die Kläger*innen von links nach rechts: Edi Mulyono, Ibu Asmania, Pak Bobby und Arif Puji­yanto auf der indo­ne­si­schen Insel Pari (Bild: zVg)

«Solange solche Konzerne nicht haftbar gemacht werden, kann es keine ausrei­chenden Fort­schritte in Rich­tung Klima­ge­rech­tig­keit geben», sagt Séba­stien Duyck vom Center for Inter­na­tional Envi­ron­mental Law in Genf. In Bezug auf Holcim wagt er keine Prognose, betont jedoch: «In immer mehr Ländern führen Richter*innen Verfahren, in denen sie das Recht konse­quent durch­setzen und so Straf­lo­sig­keit verhindern.»

Und welche Rolle spielen die NGOs im Prozess? Wurden die Kläger*innen stra­te­gisch ausge­sucht, um einen Prozess à la David gegen Goliath zu insze­nieren? Nina Burri von HEKS winkt ab: «Es gab keine Auswahl. Die Kläger*innen haben selbst Klage einge­reicht.» Die Gemein­schaft auf Pari sei schon aktiv gewesen, bevor HEKS auf sie aufmerksam wurde. Sie hätten sie ledig­lich beraten und unter­stützt. «Holcim spricht ihnen ihre Selbst­be­stim­mung ab – das ist absurd und anmassend.»

Entschei­dung steht aus

Kurz vor Mittag zieht sich das Gericht zurück. Die drei Kantonsrichter*innen haben noch nicht entschieden, ob sie den Fall verhan­deln oder abweisen. Ihren Entscheid würden sie zu gege­bener Zeit schrift­lich mitteilen, so der Richter. Die Anwältin Cordelia Bähr äussert sich nicht zur laufenden Verhand­lung. Ibu Asmania zeigt sich sieges­si­cher: «Ich glaube, dass Richter*innen auf unserer Seite stehen werden. Wir werden gewinnen – und damit andere Betrof­fene ermu­tigen, für Klima­ge­rech­tig­keit zu kämpfen.»


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