Dort, wo ich nicht Ausländer*in bin

Wer links sein will, darf keine Heimat­ge­fühle hegen – zumin­dest, wenn es nach Michael Graff geht. Das mag für weisse Schweizer*innen stimmen. Allen anderen bringt diese These aber herz­lich wenig. Eine Replik. 
Aufgrund fehlender Erfahrungen jedes Heimatgefühls als reaktionär und rechts abzutun, greift zu kurz. (Bild: Luca Mondgenast)

Michael Graff bietet in seinem Text «Ist links, wo keine Heimat ist?» eine linke Perspek­tive auf das Konzept der «Heimat». Graffs Text liegt in vielen Punkten richtig. Er bietet eine solide Betrach­tung auf Heimat, stellt tref­fend fest, dass linke Bestre­bungen den Heimats­be­griff «zurück­zu­er­obern», Klas­sen­dif­fe­renzen ausblenden, rechte Narra­tive nähren und letzt­lich zum Schei­tern verur­teilt sind. Die Analyse zeigt auf, dass Heimat ein reak­tio­näres Konzept ist und mündet folge­richtig im Aufruf zum Wider­stand gegen Natio­nal­staaten, Mili­ta­ri­sie­rung und Vater­lands­liebe – insbe­son­dere an die poli­ti­sche Linke.

Chine­sisch spreche ich noch alle paar Wochen. Und trotzdem ist Taiwan mehr Heimat, als es die Schweiz je war.

Allen weissen Schweizer*innen, die einen Heimat­bezug zur Schweiz haben (oder wollen), bietet der Text gute Gedanken. Die Perspek­tiven jener, denen dieses Heimats­ge­fühl stets verwehrt blieb – und die es gerade deshalb nicht einfach von sich weisen können – fehlen in Graffs Text aller­dings. Er blendet die Perspek­tive von uns Migrant*innen aus.

Ich bin in der Schweiz geboren, doch lebte hier stets mit einem migran­ti­schen Selbst­ver­ständnis. Meine Mutter lebte in Taiwan und ist vor rund 25 Jahren in die Schweiz migriert. Als Kind besuchte ich Taiwan oft. Schon damals fiel mir eine inter­es­sante Formu­lie­rung der chine­si­schen Sprache auf: Wann auch immer wir nach Taiwan gingen, dann spra­chen wir nicht von 去台灣 (qù tái wān; nach Taiwan gehen) sondern stets von 回台灣 (huí tái wān; nach Taiwan zurückkehren).

Das letzte Mal war ich vor sechs Jahren in Taiwan. Für längere Zeit auf der Insel gelebt habe ich nie. Chine­sisch spreche ich noch alle paar Wochen, wenn ich meine Mutter treffe. Und trotzdem ist Taiwan mehr Heimat, als es die Schweiz je war. Im Februar reise ich vermut­lich wieder nach Taiwan, doch ich gehe nicht einfach dahin – ich kehre zurück. Kehre zurück in die Gross­städte meiner Kind­heit, besuche die Märkte und Tempel mit meiner Ama und feiere Neujahr mit meiner Familie.

Es ist ein Ort, an dem ich nicht Ausländer*in, sondern Zurückgekehrte*r bin.

Gäbe es das exklu­sive schwei­ze­ri­sche Heimats­ge­fühl nicht, dann wäre auch die Vertei­di­gung gegen dieses hinfällig.

Dieses Heimats­ge­fühl für einen abstra­hierten Ort am anderen Ende der Welt ist zwei­fels­ohne auch roman­ti­sie­rend. Mit einem «länd­li­chen Idyll» oder einer «rück­wärts­ge­wandten Einbil­dung», wie sie Michael Graff beschreibt, hat das aber nichts zu tun. 

Die migran­ti­sche Heimat ist ein Vertei­di­gungs­me­cha­nismus gegen­über einer Gesell­schaft, die uns jeden Tag klar­macht, dass wir nicht dazu­ge­hören. Meine Heimat ist keine bürger­liche Idylle, sie ist ledig­lich ein Ort, an dem meine äusser­li­chen Merk­male, für die ich meine halbe Kind­heit gehän­selt wurde, mehr als nur akzep­tiert werden: Sie sind einfach normal.

Dieser Bezug zu Heimat ist eben­falls ein im Grunde schlechter – er entstammt nega­tiven Erfah­rungen und ist mit dem Pathos der «Verwurz­er­lung» verwandt. Doch er kommt aus einem anderen Verständnis von Heimat und Wohnort. Er ist nicht eine Besin­nung auf den stolzen Stamm­baum mit Fami­li­enhof, sondern eine Reak­tion auf das plumpe «Verpiss dich dahin, wo du herge­kommen bist!».

Es handelt sich um einen Heimats­bezug, welcher der Diaspora aus aller Welt hilft, in einer rassi­sti­schen Gesell­schaft klarzukommen.

Dieses Gefühl, andern­orts «normal» sein zu können, gibt migran­ti­schen Menschen erst die Kraft, gerade dieses Gefühl in der rassi­sti­schen Schweiz wiederum einzu­for­dern. Gäbe es das exklu­sive schwei­ze­ri­sche Heimats­ge­fühl nicht, dann wäre auch die Vertei­di­gung gegen dieses hinfällig.

Gleich­zeitig greift ein migran­ti­sches Heimats­ge­fühl durch die damit einher­ge­hende, halb­frei­wil­lige Verwei­ge­rung von links­li­be­ralen Assi­mi­lie­rungs­fan­ta­sien genau diese an. Es zeigt auf, dass Migrant*innen sich nicht einfach in die gutschwei­ze­ri­sche Kultur zu inte­grieren haben, sondern stellt diese als Ganzes in Frage.

Die breite poli­ti­sche Linke muss sich diese Perspek­tive nicht zunutze machen. Sie kann es gar nicht. Dafür fehlen einer breiten, weissen – wenn auch sensi­bi­li­sierten – Bevöl­ke­rung schlicht die Erfah­rungen. Aufgrund dieser fehlenden Erfah­rungen jedes Heimats­ge­fühl als reak­tionär und rechts abzutun, greift aber zu kurz.

Die Arbeiter*innen haben kein Vater­land. Auf einen Ort, an dem wir keinen Rassismus erleben, können wir uns aber trotzdem beziehen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel