Jede Woche sterben in der Schweiz zwei Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein passendes Spenderorgan erhalten. Und die Anzahl der Personen, die auf ein Organ wartet, steigt immer weiter an. Laut einer vergangene Woche veröffentlichten Studie waren 2016 1480 Menschen auf der Warteliste für Organe. Das sind 38 Prozent mehr als 2010. Gleichzeitig wurden 2016 nur 503 Organtransplantationen vorgenommen.
Immerhin: 4 von 5 SchweizerInnen wären laut Swisstransplant grundsätzlich bereit ihre Organe zu spenden. Nur die Hälfte der Spendenwilligen haben aber ihren Spendenwunsch auf einem Ausweis festgehalten oder den Angehörigen mitgeteilt. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz damit im unteren Drittel. Weshalb sind wir so zurückhaltend, wenn es darum geht, unsere Organe zu spenden?
Wir trafen Kai Tisljar, Oberarzt für Intensivmedizin am Universitätsspital Basel, und wollten von ihm wissen, was gegen den Organmangel unternommen werden kann und welche Rolle das Kriterium der Selbstverschuldung bei Organtransplantationen spielt.
Das Lamm: In der Schweiz gibt es einen akuten Mangel an Organspenden. Die Warteliste wird immer länger. Wieso?
Kai Tisljar: Die Gesellschaft wird immer älter und die Medizin macht immer mehr Fortschritte. Da die Menschen heute länger leben, werden auch mehr Transplantation im Alter durchgeführt. Daher stehen mehr Personen auf der Warteliste. Gleichzeitig gibt es heute nicht mehr SpenderInnen als früher. Somit wird die Warteliste immer länger.
Wieso verpflichten wir nicht einfach alle, ihre Organe zu spenden?
Natürlich ist es eine gute Sache, wenn jemand anderes mit den eigenen Organen weiterleben kann. Ich persönlich denke, es ist jedem und jeder von uns frei überlassen, welche Entscheidung er oder sie treffen möchte. Es ist zu akzeptieren, wenn jemand, etwa aus religiösen Gründen, seine Organe nicht spenden möchte. Beide Haltungen zur Organspende sollten respektiert werden. Wir überreden im Spital auch niemanden zur Organspende.
Aber wie könnte man denn mehr Personen dazu bringen, ihre Organe zu spenden?
Ich und auch Swisstransplant propagieren, dass es wichtig ist, über das Thema Organspende zu sprechen. Ausserdem sollte man den eigenen Entscheid dokumentieren oder den Angehörigen mitteilen. Wichtig finde ich eine klare Haltung mit einem „Ja“ oder einem „Nein“ zur Organspende. Das entlastet sowohl die Angehörigen wie auch das Spitalpersonal. Aus meinen Gesprächen mit Angehörigen weiss ich, wie ein solcher Entscheid belasten kann. Die Angehörigen haben eben – und meist sehr plötzlich — einen geliebten Menschen verloren und müssen dann zusätzlich eine wichtige Entscheidung über die Organspende treffen.
Wie gehen die Angehörigen mit dieser Entscheidung um?
Meine Erfahrung zeigt, dass sich Angehörige meist gegen die Organspende aussprechen, wenn kein Organspendeausweis vorliegt oder das Thema nie besprochen worden ist. Ist die Haltung der verstorbenen Person allerdings bekannt, fällt es den Angehörigen leichter, mit der Anfrage nach der Organspende umzugehen.
Ist es aus Ihrer Sicht richtig, dass bei verstorbenen Personen ohne Spenderausweis die Angehörigen über die Organe und den Körper einer Person bestimmen dürfen?
Dies ist momentan die bestehende rechtliche Grundlage. Aber die Angehörigen können nicht einfach bestimmen, sie müssen dabei den Willen der verstorbenen Person berücksichtigen. Ich als Arzt kann allerdings nicht überprüfen, ob die Angehörigen auch so handeln, wie es sich der Patient oder die Patientin gewünscht hat. Ich bin der Meinung, dass es von Vorteil ist, dass die Angehörigen mitbestimmen dürfen.
In der Schweiz gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich weniger SpenderInnen. Wieso? Sind wir einfach egoistischer?
Der Hauptgrund liegt am Gesetz: In der Schweiz gilt die Zustimmungslösung. Das bedeutet, man selbst oder die Angehörigen müssen ihre Zustimmung geben, um als OrganspenderIn in Frage zu kommen. In vielen anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich, Italien, Österreich und Spanien, gilt die Widerspruchslösung. Nur wer sich zu Lebzeiten gegen die Organspende ausspricht, gilt nicht als OrganspenderIn. Dies kann zu mehr SpenderInnen führen.
Sollte in der Schweiz auch diese Widerspruchslösung eingeführt werden, um gegen den Organmangel vorzugehen?
Aus Sicht der Organempfänger wäre dieses Modell zu begrüssen, da es möglicherweise mehr Spenderorgane geben würde. Da sich in der Schweiz allerdings viele Menschen sehr schwer damit tun, über das Thema Organspende überhaupt zu sprechen, könnte eine seltsame Stimmung entstehen. Das System muss zur Gesellschaft passen und meiner Meinung nach passt ein Widerspruchssystem im Moment nicht zur Schweiz. Denn in einem Schweizer Spital stehen die Wünsche des Patienten oder der Patientin im Zentrum. Der Arzt bestimmt nicht über den Kopf des Patienten hinweg.
Sollte denn jemand, der sich gegen die Organspende ausspricht, selbst überhaupt Anspruch auf ein Spenderorgan haben?
Ich sehe es als eine Möglichkeit — vor allem bei einem Mangel an SpenderInnen — , dass nur Personen, die ihre Haltung zur Organspende kundgetan haben, selbst ein neues Organ erhalten. Allerdings könnte in diesem Fall jemand erst einen Ausweis ausfüllen, sobald er oder sie ein neues Organ braucht. Wie würden wir im Spital mit einem solchen Fall umgehen? Ich bin froh, dass wir in der Praxis kein solches System haben. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass irgendwann der Moment kommen wird, wo es einfach viel zu wenig Organspenden gibt und man daher festlegt, dass nur Personen, die selbst OrganspenderIn sind, Anrecht auf ein neues Organ haben. Auch die Warteliste würde danach angepasst werden. Ethisch ist dies jedoch bedenklich.
Hat, wer ein Leben lang raucht, auch ein Recht auf eine neue Lunge? Ist der Raucher nicht einfach selber schuld?
Die Regeln legen ja zumindest fest, dass jemand zuerst mit dem Rauchen oder Trinken aufgehört haben muss, damit er oder sie eine neue Lunge oder Leber bekommen kann, um zu verhindern, dass das neue Organ gleich wieder geschädigt wird.
Ich persönlich halte dieses Kriterium der „Selbstverschuldung“ aber ohnehin für unfair, da man vieles nur bedingt selbst beeinflussen kann. Etwa nimmt die Lunge nicht bei allen RaucherInnen den gleich grossen Schaden.
Es gibt allerdings Ärztinnen und Ärzte, die mit der „Selbstverschuldung“ argumentieren. Ein intensiver Alkoholkonsum kann die Leber stark schädigen. Einige BerufskollegInnen, die eine solche „Selbstverschuldung“ nicht unterstützen wollen, tun sich in solchen Fällen schwer mit der Transplantation einer neuen Leber. Ich habe auch von KollegInnen gehört, die selbst alle Organe spenden wollen – bis auf die Leber.
Welche Lösungen gäbe es sonst gegen den Mangel an Organspenden?
Es gibt bei Organtransplantationen ein grundsätzliches Problem: dass der Körper des Empfängers die Organe als fremd erkennt und sie daher abstösst. Es müssten Organe gezüchtet werden, die in der Lage sind, diese Abstossung zu überwinden. Zum Teil wird dies heute bereits gemacht, indem künstliche Herzklappen aus biologischem Material verwendet werden. Mit der fortschreitenden Medizin könnte zudem das Immunsystem des Empfängers besser kontrolliert werden, so dass es mit weniger Nebenwirkungen zur einer effizienteren Verhinderung einer Organabstossung kommt.
In den USA wollen WissenschaftlicherInnen menschliche Organe in Tieren züchten und auch die ETH Zürich forscht an künstlichen Herzen, die möglicherweise einmal das Spenderherz ersetzen könnten. Könnte das eine Lösung für den Mangel an Organspenden sein?
Das ist denkbar. Ganze Organe von Tieren zu übernehmen ist heute aber noch nicht möglich. Hier kommen jedoch ethische Fragen ins Spiel. Dürfen Tiere als Organlager gezüchtet werden? Ich denke, es werden unterschiedliche Lösungen zusammenspielen: technische Neuerfindungen und auch in Tieren gezüchtete Organe. Ich kann mir vorstellen, dass in 20 Jahren speziell für eine bestimmte Person Organe gezüchtet werden können, die vom Körper auch nicht abgestossen werden. Somit könnte sich das heutige Problem des Organspendenmangels auflösen. Gewisse Bereiche, wie etwa Hirntransplantationen, werden jedoch unrealistisch bleiben.
Spielt das Alter bei jemandem, der ein Organ erhält, eine Rolle? Bekommt eher die junge Person ein Organ zugeteilt?
Diese Frage wird in der modernen Medizin immer wieder diskutiert. Es geht darum unsere Ressourcen optimal zu verteilen. In einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden, wird diese Frage immer wichtiger. Braucht jemand mit 90 Jahren noch ein neues Organ? Oftmals ist das Alter auch relativ, denn ein gezeichneter Körper — etwa aufgrund übermässigem Alkoholkonsum — hat ein viel höheres biologisches Alter als der von gleichaltrigen Personen ohne Alkoholmissbrauch. So kann es in einem Fall Sinn machen ein neues Organ zuzusprechen und gleichzeitig bei einer gleichaltrigen Person wenig sinnvoll sein.
Ist denn der Körper im hohen Alter überhaupt noch in der Lage eine Transplantation durchzustehen?
Das Alter an sich ist aus medizinischer Sicht auf jeden Fall kein Ausschlussgrund für ein neues Organ. In jedem Alter kann man theoretisch ein neues Organ erhalten. Viele der PatientInnen, die ein Organ erhalten haben, würden sich im Nachhinein wieder für die Transplantation entscheiden. Sie ist nicht nur lebensverlängernd, sondern sorgt auch für eine verbesserte Lebensqualität — trotz der Medikamente, die man ein Leben lang einnehmen muss. Es stellt sich allerdings die philosophische Frage, ob das Überleben immer als das höchste Ziel gesetzt werden sollte.
Wie viele Leben kann man mit einer verstorbenen Person, die OrganspenderIn ist, retten?
Ich würde es nicht primär als „Leben retten“ bezeichnen. Aber wenn jemand leider im jungen Alter verstirbt, so kann man mit den Organen der verstorbenen Person bis zu acht und mehr Menschen helfen.
Zum Schluss verrät Kai Tisljar, dass er selbst keinen Organspendeausweis bei sich trägt. Es ist ihm wichtig, dass er seine Angehörigen über seinen Willen informiert hat und diese in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Damit die Angehörigen diese Entscheidung mittragen können, darf das Thema Organspende kein Tabu bleiben und muss in der Familie diskutiert werden.
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