Alter­na­tive zu Frontex: „Ein Konzept der Fair­ness statt Gummi­schrot und Drohnen“

Der Natio­nalrat hat entschieden, die Schweiz zahlt bald mehr an die euro­päi­sche Grenz­schutz­agentur Frontex. Im Gespräch mit Simon Muster erklärt Lorenz Naegeli von Watch the Med Alarm­phone, warum der Ausbau von Frontex verhee­rend ist – und was er von der parla­men­ta­ri­schen Linken erwartet. 
Die EU und die Schweiz rüsten an die Grenzen auf, Lorenz Naegli vom Alarmphone fordert einen radikalen Richtungswechsel. (Foto: Jannik Kiel / Unsplash)

Alarm Phone Schweiz gehört zu einem trans­me­di­ter­ranen Netz­werk zivil­ge­sell­schaft­li­cher Akteur:innen. Das Netz­werk betreibt seit Oktober 2014 eine 24-Stunden Telefon Hotline für Flüch­tende in Seenot und fordert „Fähren statt Frontex“.

Das Lamm: Die EU baut die Grenz­schutz­agentur Frontex weiter aus: Bis 2027 soll sie über eine stän­dige Reserve von 10 000 Einsatz­kräften verfügen, aktuell sind es deren 6500. Was bedeutet das für Menschen auf der Flucht?

Lorenz Naegeli: Bei unserer Arbeit beim Alarm­phone sehen wir tagtäg­lich die gewalt­tä­tigen Auswir­kungen und tödli­chen Folgen der euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­litik, bei deren Umset­zung Frontex eine wich­tige Akteurin ist. Zusammen mit den Grenz­schutz­be­hörden der Mittel­meer­staaten hat die Grenz­schutz­agentur über die Jahre vermehrt Rettungs­mis­sionen mit Missionen zur Migra­ti­ons­ab­wehr ersetzt. Heute wird die soge­nannte EU-Aussen­grenze von bewaff­netem Personal und Drohnen bewacht. Diese Situa­tion wird sich mit dem Ausbau von Frontex weiter verschärfen. Seit wir aktiv sind, haben wir mehrere Tausend Anrufe von Menschen in Seenot erhalten. Leider braucht es das Alarm­phone heute mehr denn je. Aber man muss den aktu­ellen Ausbau von Frontex auch in einem histo­ri­schen Kontext sehen.

Der wäre?

Von einem Budget von ledig­lich sechs Millionen Franken ist Frontex zu einer der grössten Agen­turen inner­halb der Euro­päi­schen Union ange­wachsen. Neu soll sie für den Zeit­raum 2021–2027 5,2 Milli­arden Euro erhalten. Im Laufe dieser Entwick­lung hat sich Frontex immer in neue Aufga­ben­ge­biete ausge­dehnt. Heute besteht ihre Arbeit grob aus vier Pfei­lern: dem immer stärker mili­ta­ri­sierten Grenz­schutz, Ausschaf­fungen, der Ausla­ge­rung des Grenz­schutzes in Gebiete ausser­halb der EU und den Risi­ko­ana­lysen. Beson­ders die Risi­ko­ana­lysen sind immer auch wieder von Frontex dazu verwendet worden, die eigenen Kompe­tenzen auszubauen.

„Von einem Budget von ledig­lich sechs Millionen Franken ist Frontex zu einer der grössten Agen­turen inner­halb der Euro­päi­schen Union angewachsen.“

Lorenz Naegeli

Was meinen Sie genau mit „Ausla­ge­rung des Grenzschutzes“?

Frontex ist nicht nur in der EU tätig, sondern auch in vielen nicht-euro­päi­schen Staaten. Das geht so weit, dass Frontex eine eigene Geheim­dienst­ver­net­zung mit afri­ka­ni­schen Staaten pflegt, die Africa-Frontex Intel­li­gence Commu­nity. Und Frontex bildet zudem die soge­nannte Lybi­sche Küsten­wache aus, die nach­weis­lich syste­ma­ti­sche Gewalt anwendet und am Menschen­handel betei­ligt ist. 

2016 hat Frontex Beamt:innen der weiss­rus­si­schen Grenz­schutz­be­hörden ausge­bildet. Deren Einheiten haben seit August mit der polni­schen und litaui­schen Armee verschie­dene Stand-offs im polnisch-litau­isch-weiss­rus­si­schen Grenz­ge­biet provo­ziert, wodurch minde­stens vier Menschen in aller Öffent­lich­keit gestorben sind, mutmass­lich wegen Erschöp­fung, Hunger und Durst. 

Überall dort ist Frontex die trei­bende Kraft, zwar nicht vor Ort, aber die Agentur sorgt unter anderem dafür, dass die Infra­struktur und das Know-how für die Abwehr von Migran­tInnen vorhanden ist.

Lorenz Naegeli ist beim Watch the Med Alarm­phone aktiv. Foto: zVg.

Was sind weitere Treiber hinter dem stetigen Ausbau von Frontex? 

Auf der einen Seite besteht in der EU ein weit­rei­chender Konsens darüber, dass Migra­tion verhin­dert werden muss. Ange­fangen hat das bereits bei der Schaf­fung der soge­nannten EU-Aussen­grenze, die mitten durch das Mittel­meer eine harte Grenze gezogen hat. Diese ist ein neoko­lo­niales, euro­zen­tri­sches Konstrukt. 

Zum anderen besteht ein weit­ver­brei­tetes rassi­sti­sches Narrativ, dass Migra­tion einher geht mit Bedro­hung und dass man ihr nur mit sicher­heits­po­li­ti­schen Mass­nahmen begegnen kann. Das hat sich jetzt auch wieder in der parla­men­ta­ri­schen Diskus­sion um den Schweizer Frontex-Beitrag gezeigt.

Wie meinen Sie das?

Bundesrat Ueli Maurer hat während der Diskus­sion wieder­holt betont, dass die Vorlage zur Frontex-Erwei­te­rung keine migra­tions- und asyl­po­li­ti­sche, sondern eine sicher­heits­po­li­ti­sche Vorlage sei. Das soll das Bild einer Masse von Migrant:innen vermit­teln, die nach Europa streben und eine Bedro­hung darstellen. Dabei igno­riert das Narrativ völlig, dass Migra­tion eine Konstante der Mensch­heits­ge­schichte ist. 

Das Argu­ment von Bundesrat Maurer hat funk­tio­niert, die Schweiz erhöht ihren Beitrag von heute 24 Millionen auf 61 Millionen Franken im Jahr 2027. Ist dieser Beitrag über­haupt wichtig für Frontex?

Hätte die Schweiz den Betrag nicht gespro­chen, hätte das sicher­lich Signal­wir­kung gehabt. Gerade auch im Zusam­men­hang mit der Forde­rung der Bewe­gung Abolish Frontex, dass Gelder von Frontex weg hin zu einer euro­päi­schen Such- und Rettungs­mis­sion geleitet werden sollen. 

Aber setzen wir den Schweizer Betrag in eine Rela­tion: Die Schweiz finan­ziert rund fünf Prozent des Budgets der Grenz­schutz­be­hörde, also einen rele­vanten Betrag im Verhältnis zur Grösse des Landes. Ausserdem liefert die Schweiz nicht nur Geld, sondern Grenz­schutz­be­amte. Diese kommen unter anderem in der Region Evros im grie­chisch-türki­schen Grenz­ge­biet zum Einsatz, die noto­risch ist für soge­nannte Push-Backs, also ille­gale Abschie­bungen von Flüch­tenden. Das ist eine tref­fende Zusam­men­fas­sung der euro­päi­schen Migrationspolitik: 

Die euro­päi­schen Innen­länder leisten sich einen mili­ta­ri­sierten und gewalt­samen Grenz­schutz am Mittel­meer, und in diese Logik reiht sich die Schweiz mit ein. Das ist hier­zu­lande auch lange nicht thema­ti­siert worden und wurde auch von weiten Teilen der SP zu lange akzeptiert.


Mit der Zustim­mung des Natio­nal­rats zum stär­keren finan­zi­ellen und perso­nellen Enga­ge­ment der Schweiz an der Grenz­schutz­agentur Frontex ist auch die Aufstockung des Resettle- ment-Programms hinfällig. Diese war während der Stän­de­rats­de­batte als huma­ni­täre Ausgleichs­mass­nahme von der vorbe­ra­tenden Kommis­sion ins Spiel gebracht worden. Der Stän­derat lehnte den Antrag mit 22 zu 21 ab.

Das Resett­le­ment-Programm des Uno-Hoch­kom­mis­sa­riat für Flücht­linge UNHCR verteilt beson­ders schutz­be­dürf­tige Flüch­tende auf Dritt­staaten. Für die Jahre 2020 und 2021 beschloss der Bundesrat die Aufnahme von maximal 1600 Flüch­tenden; die unter­le­gene Komis­si­ons­min­der­heit hatte eine Aufstockung auf 4000 gefordert.

In einem Inter­view mit der PS-Zeitung äusserte SP-Stän­derat Daniel Jositsch im Juni noch die Hoff­nung, dass eine Aufstockung in einer Eini­gungs­kon­fe­renz mit dem Natio­nalrat erreicht werden könne. Auf Nach­frage zeigt sich Jositsch enttäuscht: „Beim Resett­le­ment-Programm haben wir leider verloren.“ Trotzdem habe die SP weiterhin eine ableh­nende Haltung gegen­über dem Auftrag von Frontex, Migrant:innen an den EU-Aussen­grenzen abzu­wehren. Doch der Hand­lungs­spiel­raum des Parla­ments ist stark einge­schränkt: Wie Bundesrat Ueli Maurer am Montag in der Frage­stunde im Natio­nal­rats erklärte, sehe die Zusatz­ver­ein­ba­rung mit der EU „keine Szena­rien vor, unter welchen die finan­zi­ellen Beiträge an die Grenz­schutz­agentur gekürzt oder ausge­setzt werden“. 

Wie will die SP also Einfluss darauf nehmen, dass Frontex funda- mentale Menschen­rechte in Zukunft einhält? „Aktuell denken wir über ein Refe­rendum gegen die Frontex-Vorlage nach“, teilt Daniel Jositsch auf Anfrage mit.


Das Parla­ment hat auch huma­ni­täre Ausgleichs­mass­nahmen im Asyl­ge­setz beschlossen, aller­dings keine Erhö­hung des Resettlement-Programms…

Aus der Perspek­tive von Alarm­phone gibt es dazu gar nicht viel zu sagen. Wir verfolgen eine ganz­heit­liche Politik und orien­tieren uns an den Prin­zi­pien Bewe­gungs­frei­heit und gleiche Rechte für alle. 

Zu den huma­ni­tären Ausgleichs­mass­nahmen kann ich nur sagen, dass sie – wenn über­haupt – ein Tropfen auf den heissen Stein sind und in keiner Weise dazu dienen, die Konse­quenzen des Frontex-Ausbaus abzu­fe­dern. Die formale Ände­rung im Asyl­ge­setz setzt den bewaff­neten Mili­tär­booten und Drohnen und der Grenz­ge­walt, die mit dem Schweizer Beitrag finan­ziert werden, nichts entgegen. 

Gegen Frontex laufen auch verschie­dene Unter­su­chungen, unter anderem wegen Korrup­tion und Betrug. Ein anderer Bericht konnte zwar keine direkte Betei­li­gung von Frontex an ille­galen Push-Backs fest­stellen, wohl aber, dass sie Grund­rechts­ver­let­zungen durch lokale Grenz­wäch­te­rInnen nicht verhin­dert oder nach­ver­folgt hat. 

Betrof­fene kriti­sieren bereits seit Jahren, dass Frontex die ille­gale Rück­schaf­fung von Flüch­tenden unter gefähr­lich­sten Bedin­gungen unter­stützt. Im öffent­li­chen Bewusst­sein sind diese soge­nannten Push-Backs erst nach den Recher­chen verschie­dener Medien. Der Unter­su­chungs­be­richt, den Sie anspre­chen, äussert heftige Kritik an Frontex. 

Gleich­zeitig zeigt er auch, dass bei den Verant­wort­li­chen bei Frontex kein Rechen­schafts­ge­fühl herrscht. Frontex-Chef Fabrice Leggeri hat nach­weis­lich das EU-Parla­ment im Zusam­men­hang mit den Verwick­lungen seiner Mitarbeiter:innen bei den ille­galen Push-Backs ange­logen. Es ist schon bedenk­lich, dass eine Agentur, die in einem so empfind­li­chen Bereich arbeitet, keine externe Kontroll­in­stanz hat. 

Nehmen wir an, Frontex würde tatsäch­lich abge­schafft: Was müsste sich konkret ändern, damit sichere Routen nach Europa bestehen?

(über­legt) Ich finde es schwierig, solche Szena­rien zu entwerfen. Ich persön­lich kann voll hinter unserer Forde­rung „Ferries Not Frontex“ stehen, also Fähren anstatt Frontex. Mit sicheren Reise­routen können wir der immer grös­seren Unsicht­bar­keit begegnen, in die Menschen sich begeben müssen, um am Grenz­re­gime vorbeizukommen. 

Das betonen auch immer wieder Aktivist:innen aus Nord­afrika. Egal wie hoch die Mauern oder eng die Maschen im Zaun sind: Wenn Menschen migrieren wollen oder müssen, werden sie einen Weg finden. Unab­hängig davon, wie gefähr­lich dieser ist. Wenn wir diesem Bedürfnis mit einem Konzept von Offen­heit und Fair­ness anstatt Gummi­schrot und Drohnen begegnen, schaffen wir eine Grund­lage für funda­mental andere Migrationsrealitäten. 

Eine Idee, die gerade wieder im Stän­derat disku­tiert wird, ist die Wieder­ein­füh­rung des Botschafts­asyls. Eine sinn­volle Lösung?

Die Wieder­ein­füh­rung des Botschafts­asyls wäre sicher ein wich­tiger Aspekt, löst aber das Grund­pro­blem nicht, mit dem wir bei Alarm­phone konfron­tiert sind. Das Botschafts­asyl lagert den Selek­ti­ons­pro­zess einfach von der Grenze in die Botschaft aus. Da diese weiterhin dem restrik­tiven Asyl­ge­setz der Schweiz folgen und somit nicht mehr Menschen in die Schweiz einreisen können, werden auch die Über­fahrten auf dem Mittel­meer nicht abnehmen. An die parla­men­ta­ri­sche Linke hätte ich aber durchaus einige Erwartungen.

Die wären?

Die euro­päi­sche Migra­ti­ons­po­litik ist ein Bereich, in dem sehr viele Menschen betroffen sind. Auf dem Mittel­meer sterben tausende Menschen, mit Schweizer Betei­li­gung. Das, was jetzt beim Ausbau des Frontex-Beitrags passiert ist, sollte schon länger geschehen. 

Es muss eine klare Kompro­miss­lo­sig­keit gegen­über Frontex entwickelt und formu­liert werden, gerade wenn es um die Aushand­lung zur Weiter­füh­rung der Verträge kommt. Beim Thema Frontex gibt es eigent­lich keine halben Sachen.

Dieses Inter­view ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


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