Aner­ken­nungs­kämpfe am Limit

Gewicht, psychi­sche Erkran­kungen, Freitod – geht es nach der Meinung vieler, sollen Gespräche über diese Themen entstig­ma­ti­siert werden. Was dabei oft zu kurz kommt, ist eine mate­ri­elle Analyse. 
Zahlen des Robert Koch Instituts aus den Jahren 2019/2020 zeigen, dass 53 Prozent der Menschen in Deutschland als adipös gelten. (Bild: Midjourney / Kira Kynd)

In einem Text für den Freitag schreibt die Autorin Marlen Hobrack („Klas­sen­beste“) über das Verhältnis zu ihrem Körper aus weib­li­cher Sicht. Bereits ihr jugend­li­cher Körper, so Hobrack, sei von ihren Fami­li­en­mit­glie­dern kommen­tiert worden. „Zu dünn, hiess es lange, und dann, mit Beginn der Pubertät: zu dick.“ Viele Frauen und Queers dürften sich in ihren Beschrei­bungen wiederfinden.

Auch ihre Tanten und ihre Mutter hätten perma­nent mit ihrem Gewicht zu kämpfen gehabt. In Deutsch­land gehören Hobracks Verwandte damit zur Mehr­zahl der Menschen. Zahlen des Robert Koch Insti­tuts aus den Jahren 2019/2020 zeigen, dass 53 Prozent der Menschen hier­zu­lande als adipös gelten. Dabei ist es spek­ta­kulär, wie stark sich das mediale Gespräch an adipösen Frauen orien­tiert, während die Verhält­nisse in der Realität umge­kehrt sind: 60 Prozent der Männer sind adipös, bei den Frauen sind es 46 Prozent.

Vor allem Frauen und Queers wehren sich seit Jahren gegen fats­ha­ming – zu Recht. Aller­dings werden dabei die gesell­schaft­li­chen Entste­hungs­be­din­gungen von Adipo­sitas oft ausge­klam­mert. So schreibt Hobrack über das soge­nannte Fat Accep­tance Move­ment, eine Bewe­gung, die gegen stereo­type und patri­ar­chal geprägte Körper­bilder kämpft:

„Eine Bewe­gung, die den Zusam­men­hang zwischen Fett­lei­big­keit, Armut und früh­zei­tigem Tod einfach negiert oder unter­drückt, leistet nichts, aber auch gar nichts für die Gleich­stel­lung über­ge­wich­tiger Menschen. Fat Accep­tance stützt ein zutiefst unge­rechtes System des unglei­chen Umgangs mit dem eigenen Körper.“

Wer jedem Menschen mit Adipo­sitas sagt: „Du bist normal, so wie du bist“, der norma­li­siert die oft sozialen Entste­hungs­be­din­gungen von Adipo­sitas gleich mit.

Ganz normale Armut

Diese Kritik Hobracks lässt sich auf verschie­denste gesell­schaft­liche Phäno­mene und Aner­ken­nungs­kämpfe anwenden. Ein Beispiel liefert der Kanal von Funk, einem Angebot der deut­schen öffent­lich-recht­li­chen Sender ARD und ZDF. Auf dem Insta­gram­kanal von Funk tauchte im Dezemeber 2022 in einem Info­post zum rich­tigen Umgang mit Freund*innen, die Armuts­er­fah­rungen machen, folgender Tipp auf: „Akzep­tiert, dass eure Freund*innen weniger Geld haben. Das ist normal und niemand kann was dafür.“ Gesell­schaft­liche Verhält­nisse werden normalisiert.

Dabei stehen Hobracks Kritik und der Post von Funk beispiel­haft für eine Indi­vi­dua­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Schief­lagen. Bei psychi­schen Erkran­kungen und dem Thema Ster­be­hilfe sieht es nicht anders aus. Den Marker „Klasse“ aus diesen Kämpfen um Aner­ken­nung auszu­klam­mern, repro­du­ziert Unrecht, anstatt es zu bekämpfen. Wer jedem Menschen mit Adipo­sitas sagt: „Du bist normal, so wie du bist“, der norma­li­siert die oft sozialen Entste­hungs­be­din­gungen von Adipo­sitas gleich mit.

So zeigt beispiels­weise die KIGGS-Studie des Robert Koch Insti­tuts aus dem Jahr 2008, dass schon bei armuts­be­trof­fenen Kindern der Anteil derer, die von Adipo­sitas betroffen sind, fast zwei- bis viermal so hoch war, wie in der höch­sten sozio­öko­no­mi­schen Schicht.

Makaber wird es beim Thema Ster­be­hilfe. So spricht sich der Best­seller-Autor und Nazi-Enkel Ferdi­nand von Schi­rach („Gott“) schon seit Jahren promi­nent für eine Lega­li­sie­rung der Ster­be­hilfe aus. Und weite Teile der deut­schen Öffent­lich­keit stehen hinter derlei Forde­rungen. 2021 befür­wor­teten 72 Prozent der Menschen laut einer Umfrage des Markt­for­schungs­in­sti­tuts YouGov eine Lega­li­sie­rung aktiver Sterbehilfe.

„Ich habe keinen anderen Grund, Ster­be­hilfe zu bean­tragen, ausser dass ich es mir einfach nicht mehr leisten kann, weiterzuleben.“ 

Während die legale Ster­be­hilfe in Deutsch­land noch immer verboten ist, ist sie in der Schweiz schon seit 1942 erlaubt. Von 2010 bis 2018 haben sich die Zahlen des assi­stierten Suizids mehr als verdrei­facht. Bereits jeder fünf­zigste Todes­fall in der Schweiz ist ein selbst­ge­wählter Freitod. Der selbst­be­stimmte Suizid kommt dort vor allem in sozio­öko­no­misch starken Gegenden vor.

Es gibt jedoch auch Hinweise auf gegen­tei­lige Entwick­lungen. Die Autor*innen einer Studie aus Kanada – dem Land, das das Verbot von Ster­be­hilfe 2016 gelockert hat – rechnen vor, dass sich das dortige Gesund­heits­sy­stem durch Ster­be­hilfe schon für 43 Millionen Euro „Netto­ko­sten­re­du­zie­rung“ gesorgt hat. Also Geld, dass das Gesund­heits­sy­stem anson­sten für die Behand­lung von Patient*innen ausge­geben hätte.

So berichten Menschen, die sich beispiels­weise die Behand­lungs­ko­sten ihrer Krank­heit nicht leisten können und sich aus ökono­mi­schen Gründen für ihren Suizid entscheiden. So sagt eine Frau: „Ich habe keinen anderen Grund, Ster­be­hilfe zu bean­tragen, ausser dass ich es mir einfach nicht mehr leisten kann, weiter­zu­leben.“

Die Lega­li­sie­rung der Ster­be­hilfe macht assi­stierten Suizid gesell­schaft­lich akzep­tierter. Das ist begrüs­sens­wert, jedoch müssen dadurch auch die Umstände, die Menschen in den Suizid treiben, nicht näher beleuchtet und damit auch nicht mehr bekämpft werden.

Jede*r hat doch mal was mit der Psyche

Dritter und letzter Punkt: psychi­sche Erkran­kungen. Auch hier gibt es die verständ­li­chen Wünsche von Betrof­fenen, neben dem Gepäck der Erkran­kung nicht auch noch stig­ma­ti­siert zu werden. Dieser Wunsch verwan­delt sich aber allzu oft in einen Versuch, psychi­sche Erkran­kungen zu indi­vi­dua­li­sieren. In einem Beitrag konsta­tiert die Sozio­login Chri­stina Meyn, das „neue Spre­chen über Depres­sion“ sei mit einer „Unsag­bar­keit der Kritik an Arbeits­ver­hält­nissen“ verbunden.

Ähnlich argu­men­tiert ein Artikel in der Zeit über Depres­sionen: „Die Erleich­te­rung, die die medi­zi­nisch ermög­lichte Selbst­zu­schrei­bung der Depres­sion als Krank­heit dem Einzelnen verschafft, hat somit die Kehr­seite, dass der Einzelne, sobald die Depres­sion seine ihm atte­stierte Krank­heit ist, deshalb auch alleine mit ihr und ihren Folgen fertig­werden muss: Indi­vi­dua­li­sie­rung der Krank­heit meint auch Indi­vi­dua­li­sie­rung der Verant­wor­tung für die Krankheit.“

Was Gespräche um Adipo­sitas, psychiche Erkran­kung und Freitod gemein haben, und hier stossen gut gemeinte Rufe nach Norma­li­sie­rung an ihre Grenzen: All zu oft klam­mern sie gesell­schaft­lich verur­sachtes Leid aus.

Zoomen wir ein biss­chen raus. So unter­schied­lich die Themen Adipo­sitas, psychi­sche Erkran­kung und Freitod sind, gibt es doch Gemein­sam­keiten. In libe­ralen Gesell­schaften gibt es lauter werdende Rufe von Aktivist*innen und Betrof­fenen nach einem Ende von Ausgren­zung, Stig­ma­ti­sie­rung und Diskri­mi­nie­rung. Dagegen lässt sich erst einmal nichts sagen, denn selbst­ver­ständ­lich hat jede*r das Recht, mit der eigenen Lebens­rea­lität aner­kannt zu werden – ohne dafür beschämt zu werden.

Was die Gespräche aller­dings eben­falls gemein haben, und hier stossen gut gemeinte Rufe nach Norma­li­sie­rung an ihre Grenzen: All zu oft klam­mern sie gesell­schaft­lich verur­sachtes Leid aus.

Wenn wir sehen, dass mehr Menschen aus der Armuts­klasse Suizid begehen, mehr Menschen aus der Armuts­klasse Adipo­sitas haben und auch die Zahl psychi­scher Erkran­kungen wie Depres­sion oder Angst­stö­rung propor­tional bis zu drei Mal so hoch sind, wie in der höch­sten sozio­öko­no­mi­schen Status­gruppe, dann sind Forde­rungen nach einer Norma­li­sie­rung dieser Phäno­mene nicht nur kontra­pro­duktiv, sondern mitunter gefähr­lich. Denn wenn diese Zustände Norma­lität werden, geraten ihre Ursprünge aus dem Blickfeld.

Nicht die gesell­schaft­li­chen Entste­hens­be­din­gungen stehen im Fokus, sondern der eigene Körper, nicht die psychi­sche Gesund­heit, die von den Zumu­tungen der Klas­sen­ge­sell­schaft torpe­diert wird, sondern der Gedanke: Jede*r hat doch mal was mit der Psyche. Nicht Suizid als letzte Konse­quenz ökono­mi­scher Bedro­hung, sondern die vermeint­lich freie, selbst­ge­wählte Entschei­dung, die unab­hängig ist von realen Lebensbedingungen.

Aktivist*innen und Betrof­fene, die um ihre Rechte und ihr Ansehen kämpfen, werden sich – wenn sie sich nicht dem Vorwurf der selbst­ge­rechten Entpo­li­ti­sie­rung von Kämpfen um Aner­ken­nung aussetzen wollen – fragen müssen, wie sie ihre Anliegen mit einer mate­ri­ellen Analyse und Forde­rungen nach einer sozial gerechten Welt verbinden können.


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