Bist du wirk­lich ein Mann?

Für viele ist Geschlechts­iden­tität kein promi­nentes Thema in ihrem Leben: Sie wurden bei der Geburt einem Geschlecht zuge­wiesen und das passt für sie. Trotzdem sollten sich alle einmal genauer damit befassen. 
Über die eigene Geschlechtsidentität nachzudenken, ist nicht nur sinnvoll, sondern könnte auch viel Schönes mit sich bringen. (Foto: Unsplash / Christin Hume)

Der Pride-Monat Juni ist vorbei, die Logos der Gross­firmen kehren zu ihren ursprüng­li­chen, lang­wei­ligen Farb­schemen zurück und der mediale Fokus auf „LGBTQ“ nimmt ab. Darum hören aber queere Personen nicht einfach auf, zu existieren. Es ist umso wich­tiger, dass wir uns weiterhin mit den Problemen, Lebens­rea­li­täten und Rechten von queeren Menschen auseinandersetzen.

Anfang Juni wurde eine Studie veröf­fent­licht, die zeigt, dass sich in der Schweiz 13 Prozent der Bevöl­ke­rung als queer iden­ti­fi­ziert, sechs Prozent als trans oder non-binär. Ironi­scher­weise hat es das Bundes­ge­richt in der glei­chen Woche versäumt, die Rechte von non-binären Personen auszubauen.

Während Personen in der Schweiz seit dem 1. Januar 2022 relativ unkom­pli­ziert ihren Geschlechts­ein­trag von Frau zu Mann oder Mann zu Frau ändern können, fehlt eine dritte Option. In der Schweiz kann weder ein X einge­fügt noch der Geschlechts­ein­trag gestri­chen werden. Dies hat das Bundes­ge­richt am 8. Juni 2023 bestä­tigt: Es lehnte die Klage einer Person ab, die ihren Geschlechts­ein­trag in Deutsch­land hat strei­chen lassen und dies in der Schweiz nach­tragen lassen wollte.

„Das Gericht spielt damit den Ball der Politik zu“, schreibt das SRF dazu. Erwartbar und doch enttäu­schend, wenn wir bedenken, dass genau diese Politik es bis jetzt versäumt hat, die Bedürf­nisse von non-binären Personen ernst zu nehmen, geschweige denn ihre Non-Binä­rität über­haupt anzuerkennen.

Eine trans­feind­liche Gesellschaft

Es wird immer wieder zynisch von einem „Trend“ gespro­chen, weil mehr und mehr Menschen sich getrauen, sich als trans oder non-binär zu outen, statt die Entwick­lung positiv zu sehen.

Durch mehr Reprä­sen­ta­tion in Medien, (Pop-)Kultur, Politik und Gesell­schaft stellen sich verständ­li­cher­weise mehr Menschen die Frage, ob sie wirk­lich cis und hetero sind. Es kann sein, dass sie sich in einem queeren Vorbild wieder­erkennen oder so über­haupt erfahren, dass es andere Möglich­keiten gibt, zu lieben und zu leben.

Das ist schön und nicht zuletzt gesund, weil diese Menschen sich selbst besser kennen­lernen und konse­quen­ter­weise ihr Leben authen­ti­scher gestalten können.

Trans Personen sind im Vergleich zu cis Menschen einem deut­lich erhöhten Suizid­ri­siko ausgesetzt. 

Besser gesagt, es sollte gesund sein. Trans Personen sind im Vergleich zu cis Menschen einem deut­lich erhöhten Suizid­ri­siko ausge­setzt. Gemäss einer 2022 publi­zierten kana­di­schen Studie (die erste vergleich­bare Studie in der Schweiz läuft aktuell noch) wiesen trans Jugend­liche im Vergleich zu hete­ro­se­xu­ellen cis Jugend­li­chen ein 7.6‑fach höheres Risiko für Suizid­ver­suche auf.

Das liegt nicht an ihrem Trans-Sein, sondern an unserer Gesell­schaft. Eine Gesell­schaft, in der ein Bundesrat sich ohne Konse­quenzen an einer natio­nalen Pres­se­kon­fe­renz trans­feind­lich äussern kann, in der Drag-Lesungen für Kinder ange­griffen werden, in der Gender-Aufklä­rung an der Schule aktiv bekämpft wird, in der gleich­ge­schlecht­lich gele­sene Paare sich in der Öffent­lich­keit aus Angst kaum küssen oder Hände halten. Kurz: Eine Gesell­schaft, die mit dem binären Geschlech­ter­sy­stem eng verwoben ist und nur so vor Queer­feind­lich­keit strotzt.

Bei vielen Menschen fehlt es an Wissen oder Inter­esse daran, sich mit Fragen nach der Geschlechts­iden­tität zu befassen. Sie finden es „kompli­ziert“, „über­trieben“ oder sogar „unnötig“. Oder sie haben das Gefühl, es betreffe sie nicht und ginge sie deshalb nichts an. Da liegen sie falsch.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) über­tragen. Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betrof­fenen, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Geschlecht als soziales Konstrukt

Wenn du bei der Geburt dem männ­li­chen Geschlecht zuge­teilt wurdest und du dich als Mann fühlst, dann bist du cis. Aber hast du dich mal gefragt, wie du das weisst? Bist du wirk­lich ein Mann? Welche Eigen­schaften machen das für dich aus? Könn­test du auch non-binär oder eine Frau sein?

Diese Fragen verwirren dich viel­leicht – „natür­lich bin ich ein Mann“, denkst du. Du gehörst ja auch zur „Norm“, wie so viele andere cis Männer und Frauen, die bis anhin kaum ihre eigene Geschlechts­iden­tität und das soziale Konstrukt „Geschlecht“ reflek­tiert haben: Diese Fragen werden dir nicht gestellt, diese Erklä­rungen nicht von dir verlangt. Das bedeutet aber nicht, dass du dich nicht mit diesem Thema ausein­an­der­setzen solltest.

Bei meiner Geburt wurde ich dem weib­li­chen Geschlecht zuge­teilt und das habe ich über zwanzig Jahre lang nicht infrage gestellt. Als ich mich das erste Mal gefragt habe, ob ich mich denn wirk­lich als Frau fühle, kam inner­lich ein „Ja“. Das hat sich (noch) nicht geändert.

Unsere gesell­schaft­li­chen Anfor­de­rungen, was „ein Mann“ und was „eine Frau“ ist bezie­hungs­weise sein sollte, sind so stark, dass wir dem nur schwer entkommen können. 

Wenn ich aber versu­chen soll, zu erklären, wie ich zu diesem Ja komme, stocke ich ein biss­chen. Ich bin empa­thisch, was als typisch weib­lich gilt, aber auch durch­set­zungs­fähig, was als typisch männ­lich gilt. Ich trage genauso gerne ein Kleid wie einen Anzug. Meine Pronomen sind sie/ihr, aber ich hasse es, „Frau Steiner“ genannt zu werden. Ich mag meinen (für mich) weib­li­chen Körper, weiss aber auch, dass ein weib­li­cher Körper nichts mit einer Vulva und Brüsten zu tun haben muss – und ein Körper per se nichts mit der Geschlechts­iden­tität. Obwohl ich mich auf keinen Fall von dem starren weib­li­chen Rollen­bild einschränken lassen möchte, passt die Bezeich­nung „Frau“ für mich.

Dass ich diese Gedanken öffent­lich teile, heisst nicht, dass du das auch tun musst. Ich hatte genug Zeit, mich damit ausein­an­der­zu­setzen und vor allem expo­niere ich mich hiermit kaum.

Falls du im Laufe deiner Refle­xion merkst, dass du non-binär bist oder sein könn­test, das aber nicht sofort öffent­lich teilen möch­test, ist das voll­kommen in Ordnung. Wenn du merkst, dass du kein cis Mann, sondern eine trans Frau bist und du dein Erschei­nungs­bild nicht ändern möch­test, ebenso. Und wenn du schliess­lich nur Frage­zei­chen im Kopf hast, dann bist du damit nicht allein – und kannst dich unter anderem beim Trans­gender Network Switz­er­land (TGNS) beraten lassen.

Ich hasse es, dass unsere Gesell­schaft es verhin­dert, dass queere Menschen authen­tisch und sicher leben können; dass so viele coming-outs aufgrund von Angst nicht passieren können – aber du als Einzel­person bist niemandem eine Erklä­rung schuldig.

Unsere gesell­schaft­li­chen Anfor­de­rungen, was „ein Mann“ und was „eine Frau“ ist bezie­hungs­weise sein sollte, sind so stark, dass wir dem nur schwer entkommen können. Charak­ter­ei­gen­schaften, Skills, Kleider – ja, sogar Farben – werden in „männ­lich“ und „weib­lich“ einge­teilt. Etwas dazwi­schen gibt es nicht. Zudem wird alles Femi­nine abge­wertet, was dem Ganzen noch einen Twist gibt.

Ich bin mir das als weib­lich sozia­li­sierte Person gewöhnt. Ihr cis Männer hingegen läuft Risiko, euch genau deswegen von als weib­lich verstan­denen Attri­buten abzu­wenden. Und das ist schade.

Braucht es Geschlecht noch?

Neben den gesell­schaft­li­chen Rollen­bil­dern haben wir (idea­ler­weise) auch ein eigenes Verständnis davon, was „ein Mann“, „eine Frau“ oder einfach „eine Person“ sein kann. Für mich kann und sollte ein Mann zum Beispiel empa­thisch, fürsorg­lich, durch­set­zungs­fähig, kommu­ni­kativ, ehrlich und reflek­tiert sein. Dieselben Eigen­schaften würde ich auch für eine Frau oder eine non-binäre Person aufzählen – das muss nämlich gar nichts mit dem Geschlecht zu tun haben.

Zudem weiss jede Person selbst, ob und wie sie sich in ihrem eigenen Körper wohl­fühlt und wie das mit ihrem Geschlecht zusam­men­passt. Ich bin eine Frau, also ist mein Körper weib­lich. Eine trans Frau ist eine Frau, also ist ihr Körper weib­lich. Wenn ich mich als non-binär iden­ti­fi­zieren würde, wäre mein Körper non-binär (unab­hängig davon, ob ich eine medi­zi­ni­sche Tran­si­tion machen würde oder nicht). Es gibt keinen „falschen Körper“ – aber es gibt etliche Möglich­keiten, den Körper anzu­glei­chen, falls man das möchte.

Wenn also dieselben Charak­ter­ei­gen­schaften für alle Menschen erstre­bens­wert sind und jeder Körper männ­lich, weib­lich, beides oder weder noch sein kann: Brau­chen wir die Unter­tei­lung in Geschlechter über­haupt noch?

Cis Frauen haben nicht immer lange Haare und tragen Kleider, cis Männer sind nicht immer gross und muskulös und lieben Autos.

Ich weiss es nicht. In unserer Gesell­schaft ist Geschlecht omni­prä­sent: Es ist nicht nur für Personen, sondern sogar für Objekte, Gefühle und Jobs ein defi­nie­rendes Merkmal. Aber diese ganze Refle­xion hat für mich wieder bestä­tigt, dass Geschlecht vor allem ein soziales Konstrukt ist und ich mich danach sehne, dass wir dem weniger Gewicht geben.

Auf Englisch wird zwischen sex und gender unter­schieden, Ersteres beschreibt das biolo­gi­sche, Zwei­teres das soziale Geschlecht. Es ist wissen­schaft­lich belegt, dass sowohl biolo­gisch wie auch sozial gesehen mehr als zwei Geschlechter existieren.

Hinzu kommt die gender expres­sion, also wie jemand sein Geschlecht auslebt. Das muss über­haupt nicht mit gesell­schaft­li­chen Anfor­de­rungen oder dem uns Beigebrachten über­ein­stimmen. Cis Frauen haben zum Beispiel nicht immer lange Haare und tragen Kleider, cis Männer sind nicht immer gross und muskulös und lieben Autos. Und nur weil sich diese Menschen nicht den gesell­schaft­li­chen Anfor­de­rungen verschreiben, heisst das nicht, dass sie auto­ma­tisch trans sind.

Genau dem wird mit der Bezeich­nung „weiblich/männlich gelesen“ zumin­dest versucht, Rech­nung zu tragen. Wir können einer Person ihr Geschlecht nicht ansehen, aber oft „lesen“ wir Personen auf die eine oder andere Weise – und das ist unsere Sicht­weise. Diese hat je nachdem nichts mit der Realität zu tun, weshalb diese Schub­la­di­sie­rung nicht nur unnötig, sondern teils auch sehr verlet­zend ist.

Auch das Patri­ar­chat bezie­hungs­weise Männer auf Penisse zu redu­zieren (was leider auch in femi­ni­sti­schen Kreisen vorkommt), greift nicht nur zu kurz, sondern ist extrem trans­feind­lich. Wir müssen von dieser Fixie­rung auf körper­liche Merk­male wegkommen und einer­seits Menschen auf Augen­höhe begegnen und ande­rer­seits Kritik dort anbringen, wo sie wirk­lich hingehört.

Ich rate insbe­son­dere euch cis Männern, euch mit eurer Geschlechts­iden­tität ausein­an­der­zu­setzen – viel­leicht entdeckt oder lernt ihr ja etwas Neues, etwas Schönes, etwas Queeres.


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