Konservative bis rechtsradikale Burschenschaften, die traditionelle Gesellschaftsvorstellungen in prachtvollen Villen zelebrieren, verwirklichen sich sportlich anders als linksprogressive Studierende, die in kleinen, pflanzenreichen Wohngemeinschaften das Miteinander pflegen: Rechts wird gefochten, links gebouldert. Aber warum?
Für die schlagenden Verbindungen besteht das Sportvergnügen primär im gemeinsamen Fechten. Der archaisch-reaktionäre Florett‑, Säbel- und Degenkampf spiegelt in vielen Hinsichten die altertümlich anmutenden Burschenschaften in ihrer politischen Ausrichtung wider. Es ist ein Zurück in die Tradition. In seinen strukturkonservativen Zügen steht der minutiöse Erhalt von Regeln und Ritualen (vorgegeben im sogenannten Fechtcomment), längst vergangener Zeiten im Vordergrund – Veränderungen unerwünscht.
Es wird aber nicht bloss für Ehre und Stolz gefochten; die Logik des Antagonismus ist der Mensur inhärent. Man könnte meinen, der „Kronjurist des Dritten Reiches“ Carl Schmitt zog seine berühmten Überlegungen zum „Begriff des Politischen“ aus den Fechtscharmützeln der Verbindungshäuser. Die substanzielle Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist nicht nur der Grundsatz des Politischen, sondern auch dieses Sports.
Die Freund-Feind-Unterscheidung der filzbekleideten Männer agiert stets nach der Möglichkeit des mit Schläger geführten Kampfes zwischen organisierten burschenschaftlichen Einheiten. Obwohl sie ihre duellhafte Mensur einzeln kämpfen, kämpfen sie immer für die eigene Verbindung, das Kollektiv, das Land.
Kletternde Verbindungen
Ganz anders dagegen (und der Autor gibt offen zu, sich hier zu verorten) die postmodern-progressive Boulderpraxis, das grösste Vergnügen der verträumten Studierendenschaft. Lässig wird das viel zu enge Kletterschuhwerk in den Patagonia-Rucksack gequetscht und zur nächsten Boulderhalle geradelt. Beim Eintreten der Halle wird sofort klar, dass es sich hier um eine völlig andere Klientel handelt.
Die modischen Accessoires und sozialen Kennungsmerkmale, welche im Burschenschaftskeller die statusanzeigenden farbigen Bänder (genannt Couleurs), Krawatten und Kurzhaarschnitte sind, haben sich hier zu verspielten Ohrringen, bunten Haaren und Vokuhila-Frisuren verwandelt. Die uniformierte Fechtmontur – welche nach der Schmitt’schen Theorie Merkmal des Krieges ist – weicht der lockeren und doch modisch versierten Sportbekleidung.
Das Bouldern, als kletternde Verbindung zwischen den Studierenden, symbolisiert das Lebensgefühl und die politischen Forderungen der postmodernen Linken. Bunt ist das Stichwort: Die regenbogenhafte Farbenvielfalt der Kletterrouten stellt die progressive Vielfalt der ebenso diversen Klettergemeinschaft dar. Bouldern ist eine der wenigen Sportarten, in denen es keine Quote braucht: Frau, Mann, Divers – alle kommen in der großen Halle zu ihrem Recht (wenn man einmal über die horrenden Eintrittspreise hinwegsieht, die als implizite Quote zu Ungunsten der Arbeiter*innenschaft gesehen werden können).
Die Kletterwand ist das einzige Vertikale in der Bouldersphäre, alles andere ist strikt horizontal. Und auch Schmitt’sche Antagonismen sucht man hier vergeblich. Konkurrenzlos wird an den an das eigene Niveau angepassten Routen geklettert, ganz nach dem marxistischen Motto: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Regeln oder Rituale gibt es kaum; Hauptsache das Ziel, das Top, wird erreicht.
An der Wand hängt man allein
Bouldern ist ein solidarischer Sport: Man erarbeitet gemeinsam bestimmte Routen und unterstützt sich wo man kann. Doch lässt sich bei genauerem Hinsehen eine leichte Tendenz ins Individualistische ablesen. Die urbane Selfcare-Linke hat sich, zugunsten individualistischer Selbstoptimierungen, zunehmend von ihren klassenkämpferischen Elementen verabschiedet. Während das sozialdemokratische Klettern am Seil (nicht ohne Grund werden die wohlfahrtsstaatlichen Elemente „soziale Absicherungssysteme“ genannt) zunehmend an Bedeutung verliert, wird das Bouldern neuer, linker Mainstream.
Die Bouldergemeinschaft legt ihren Fokus auf das freie eigenverantwortliche Erklettern der persönlichen Lebensrouten. Anstatt auf vorgegebenen klaren vertikalen Routen den Gipfel zu erklimmen, wird sich öfters nicht nur nach oben, sondern auch que(e)r ans Ziel gearbeitet. Im Gegensatz zum Klettern kann hier auf das mühsame Absichern einer zweiten Person verzichtet werden. Geklettert wird allein. Die Solidarität der Boulderer*innen entpuppt sich somit als genötigte Antwort auf die Vereinzelung der Individuen im Sport, im System.
Ist so gesehen das Fechten nicht der eigentlich solidarische Sport? Immerhin wird hier noch gemeinschaftlich gekämpft. Die Boulderer*innen klettern in die Gefahr, am Ende grössere Einzelkämpfer*innen zu sein als ihr nationalistisch-männliches Spiegelbild.
Dieser Beitrag ist zuvor im Philosophie Magazin erschienen.
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