Am 3. Dezember 2018 findet die 24. Klimakonferenz der UNO statt. Auch diesmal werden wohl nur die wenigsten KlimawissenschaftlerInnen mit dem stickigen Fernbus oder in holprigen Zügen ins südpolnische Katowice reisen. Stattdessen werden sie, ihrem Wissensstand zum Trotz, den Luftweg wählen.
KlimawissenschaftlerInnen fliegen viel — dabei sollten gerade sie es besser wissen. Der Bieler Juso-Stadtrat und Umweltnaturwissenschaftler Levin Koller ist für seine Bachelorarbeit an der ETH der Frage nachgegangen, inwiefern akademische Klasse mit ökologischem Ruin erkauft werden muss. Allzu gerne hätte ich von ihm gewusst, wieviel der jährlich 5’000 Weltumrundungen der ETH-ForscherInnen den KlimawissenschaftlerInnen anzulasten seien. Doch dazu durfte Levin nichts sagen — seine Arbeit ist wegen sensibler Daten unter Verschluss. Zu einem Interview war er dennoch bereit. Im Verlauf des Gesprächs zeigte sich: Levin Koller hat nicht nur die Gründe für die moralische Doppelgleisigkeit der akademischen Klimaelite erforscht, er weiss auch, warum es selbst für umweltbewusste Menschen wie ihn nicht immer einfach ist, den kerosinbetriebenen Verlockungen der Tourismusbranche zu widerstehen.
Das Lamm: Über konkrete Zahlen dürfen wir nicht reden. Ich versuche es mal so: Kennst du eine Klimawissenschaftlerin oder einen Klimawissenschaftler an der ETH, der oder die nicht fliegt?
Levin Koller: Nein, ich kenne keine. Die fliegen alle.
Ist denn ein Professor glaubwürdig, der während der Vorlesung seine Besorgnis über Dürren, Fluten und Bergstürze bekundet und selbst die ganze Zeit um die Welt fliegt?
Wenn du den Menschen erzählst, der Klimawandel sei das dringlichste Problem unserer Zeit, und dass wir dringend etwas machen müssen, gleichzeitig aber ständig herumfliegst, dann kann ich die Leute verstehen, die sagen, „der machts ja genau gleich, der nimmt es nicht ernst“. Dann hat diese Person tatsächlich ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Eine Begründung haben die ForscherInnen aber schon: Man müsse sich als WissenschaftlerIn vernetzen, und das gehe nun mal nicht ohne Flugzeug. Kann man überhaupt eine erfolgreiche Klimawissenschaftlerin werden, ohne das Klima durch die eigene berufliche Tätigkeit zu ruinieren?
Das ist eine schwierige Frage. Um als ForscherIn erfolgreich zu sein, gibt es schon Zwänge, denen man schwer entkommt. So kannst du dich kaum international vernetzen, wenn du nicht an Konferenzen fliegst. Gerade die Vernetzung aber scheint für den akademischen Erfolg zentral zu sein. Das hängt natürlich stark damit zusammen, wie Forschung heute funktioniert. Wenn man will, dass die CO2-Emissionen der Forschung langfristig sinken, dann muss man versuchen, diese Forschungskultur zu ändern. Nur dann können auch diejenigen erfolgreich sein, die nicht fliegen.
Wie würde denn so eine andere Forschungskultur aussehen?
Heute läuft es so, dass eine Konferenz irgendwo stattfindet, und alle fliegen hin. Das, um nur ein Beispiel zu nennen, könnte man anders machen: Eine Konferenz wird auf verschiedene Standorte aufgesplittet, z.B. einen in Europa, einen in Nordamerika und einen in Südamerika, und diese werden dann elektronisch per Videokonferenz verbunden.
Das würde am Ende auf eine Regionalisierung der Forschung hinauslaufen. Leidet da nicht zwangsläufig die Qualität, wenn nicht mehr die ‚besten Köpfe‘ zusammenfinden, sondern nur jene, die sich in ökologisch sinnvoller Nähe zusammenkratzen lassen?
Nicht zwingend. Die Leute sind dann ja elektronisch miteinander verbunden. Aber wie sich dies auf die Qualität der Forschung auswirken würde, ist zugegebenermassen eine schwierige Frage. Im Grenzfall läuft es auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wie wichtig ist Forschung in einer Gesellschaft, welchen Stellenwert soll sie haben? Es gibt sicher viele Bereiche, wo gute Forschung weiterhin wichtig ist. Aber sollen wir wirklich noch an Verbrennungsmotoren und Atomenergie weiterforschen?
An was sollten wir denn sinnvollerweise forschen?
Hier an der ETH fokussiert man stark auf technische und ökonomische Lösungen, die dann jeweils isoliert betrachtet werden. Dabei nützen solche Lösungen nur beschränkt, wenn sich der Rahmen nicht ändert. Ein Beispiel: Flugzeuge werden dank technologischer Innovation immer effizienter. Flugkonzerne können dadurch Treibstoffe und Kosten einsparen, wodurch entweder die Preise für Flugtickets sinken oder die Konzerne höhere Profite einstreichen. Tiefere Preise führen zu steigender Nachfrage, und mit höheren Profiten kann schneller in die Erweiterung der Flugzeugflotte investiert werden. Damit wird die Effizienz durch das Wachstum der Flugindustrie wieder aufgefressen. Aber Wachstumskritik ist an der ETH ein Tabu.
Aber die Ökonomin Irmi Seidl gibt doch an der ETH eine Veranstaltung zur Wachstumskritik.
Ja, aber sie tut das unentgeltlich, weil ihr das Thema persönlich so wichtig ist. Eine eigene Professur in ökologisch-sozialer Transformation will sich die ETH nicht leisten. Aber so leicht gebe ich nicht auf: Mit der Nachhaltigkeitswoche haben wir beim U Change-Förderprogramm Projektgelder beantragt und auch erhalten. Das Geld soll helfen, eine weitere Vorlesung in diesem Themenbereich an der ETH und der UZH aufzustellen.
Du engagierst dich nicht nur an der Hochschule, sondern auch im Bieler Stadtparlament für eine ökologische und soziale Transformation. Wie haben es die links-grünen PolitikerInnen mit dem „Tue, was ich sage, und nicht, was ich tue“?
PolitikerInnen, die viel fliegen und gleichzeitig für den Klimaschutz einstehen, haben sicher ein Glaubwürdigkeitsproblem. Ich persönlich möchte eigentlich nicht fliegen und das habe ich auch so kommuniziert. Andererseits finde ich auch – und das gilt übrigens auch für die KlimawissenschaftlerInnen –, dass man die gesamte Nachhaltigkeitsdebatte nicht auf die individuelle Ebene reduzieren darf. Ich glaube nicht, dass man durchs Fokussieren auf Individuen das Nachhaltigkeitsproblem lösen kann. Wir müssen unbedingt übergeordnete wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen in den Blick nehmen und versuchen, diese zu verändern.
Welche Strukturen hast du konkret im Blick?
Das Grundproblem sehe ich klar in der aktuellen, auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsordnung, in der Firmen ihren Profit maximieren müssen und die Umwelt dadurch ausbeuten. Das sieht man auch bei der Flug- und Tourismusindustrie. Die steckt zur Profitmaximierung massiv Geld ins Marketing und erzeugt dabei gesellschaftliche Bilder, damit wir verlässlich Lust aufs Fliegen haben. Ich bin deshalb überzeugt: Wer der Umwelt helfen will, muss dieses Wirtschaftssystem kritisieren.
Du meinst Bilder wie beispielsweise die Edelweiss mit ihrer jüngsten Plakatkampagne „Been there. Done that“?
Genau, YOLO. Und dann kommen noch die von Airlines gesponserten InfluencerInnen auf Social Media dazu, die mit wachsendem Erfolg am selben gesellschaftlichen Bild arbeiten: Dass man an möglichst vielen tollen Orten gewesen sein muss, um ein glückliches Leben zu leben. Da kann der WWF noch lange kommen und sagen: „Hey, fliegen ist scheisse, hört auf damit”.
Wir gehen also der Reiseindustrie auf den Leim?
Ja, auf jeden Fall. Das pausenlose Reisen wird in der Gesellschaft als etwas Gutes angesehen; wer da und dort gewesen ist, stellt den oder die interessantereN GesprächspartnerIn. Und doch fällt dieses Bild nicht vom Himmel, sondern es wird gezielt von der Tourismusindustrie beeinflusst. Von einem Individuum kann man nicht erwarten, dass es diese Strukturen durchschaut und dann auch noch selbst verändert. Vielleicht sollte man als Umweltbewegung eher versuchen, diese Strukturen anzugehen und zu thematisieren, statt immer mit dem Zeigefinger auf die Leute zu zeigen. Ich denke, das ist eher kontraproduktiv.
Und doch lässt du dich von diesen Bildern nicht verführen?
Ich wollte ursprünglich für ein Zwischenjahr nach Südamerika fliegen – Spanisch hatte ich inzwischen schon gelernt. Ich dachte damals noch: Alle fünf Jahre fliegen ist schon okay. Als ich dann aber angefangen habe, mich intensiver damit auseinanderzusetzen, merkte ich: Eigentlich kannst du jetzt nicht nach Südamerika fliegen und gleichzeitig von den ProfessorInnen an der ETH verlangen, sie sollen weniger fliegen. Da ist mir bewusst geworden: Das geht irgendwie nicht auf, und ich wäre unglücklich geworden, wenn ich das gemacht hätte.
Beeinflussung hin oder her – man sagt ja nicht nur in der Akademie, dass das Reisen bildet. Hast du nicht das Gefühl, mit deinem selbstauferlegten Flugverbot etwas zu verpassen?
Im Gegenteil: Der Entscheid nicht zu fliegen war für mich befreiend. Ich muss mir gar nicht mehr überlegen, ob ich fliege, sondern weiss einfach: Ich machs nicht. Will ich irgendwo hin, dann mach ich das mit dem Schiff, Zug oder Bus. Doch ich bin mir auch bewusst: In meinem jungen Leben kann sich noch viel ändern. Sieben Jahre bin ich jetzt nicht geflogen, und ich werde in den kommenden Jahren sicherlich nicht fliegen. Dass ich irgendwann mal in eine Situation komme, in der ich wieder fliegen muss oder will, kann ich aber nicht ausschliessen. Ich hoffe jedoch, dass das nicht passiert.
Wohin bist du denn in deinem Zwischenjahr gereist?
Statt nach Südamerika bin ich mit Bus, Zug und Schiff nach Zentralasien. Durch den Balkan, die Türkei, Georgien und Aserbaidschan bis nach Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan, dann mit dem Zug via Moskau zurück. Wäre ich geflogen, wäre ich nie nach Istanbul gelangt in dieser Zeit, in Moskau wäre ich auch nicht gewesen. Vor allem aber kommst du so in irgendwelche ländlichen Gebiete, wohin du mit dem Flugzeug nie gelangen würdest. Wir sind zum Beispiel in eine muslimische Pilgerfahrt geraten, das war schon ein Erlebnis. Ich glaube, dass Reisen, wenn du bewusst auf das Flugzeug verzichtest, fast intensiver und schöner ist: Du spürst auch die Distanzen mehr und es ist viel emotionaler, wenn du dann endlich ankommst. Es fühlt sich auch bedeutungsvoller an, weil du es nicht jedes Jahr machst. Da machst du mal so eine Reise, und dann fünf bis zehn Jahre wieder nicht. Aber klar: Nicht alle haben die Möglichkeit, einige Monate frei zu nehmen. Ich bin diesbezüglich sicherlich privilegiert.
Damit gehst aber auch du der Reiseindustrie auf den Leim.
Klar, zu einem gewissen Grad schon, und dafür kann man mich auch kritisieren. Zugegeben: Auch ich finde es interessant, andere Kulturen kennenzulernen und etwas über die Geschichte der Welt zu erfahren. Gleichzeitig möchte ich aber auch betonen: Man muss nicht immer herumreisen. Man kann auch hier tolle Sachen machen. Weshalb während der Ferien nicht tun, was du immer schon machen wolltest, wofür du im Arbeitsalltag aber keine Zeit hattest? Diesen Sommer habe ich zum Beispiel recht viel Zeit und freue mich darauf, mehr Zeit in meine politische Bildung investieren zu können.
Wir brauchen also nicht nur eine neue Wissenschafts- und (Nicht-)Reisekultur, sondern eine neue nachhaltige Kultur tout court. Schwebt dir da jemand Vorbildliches vor?
Vor einigen Monaten bin ich auf Kevin Anderson gestossen. Er ist ein führender Klimawissenschaftler in England, und er hat beschlossen, nicht mehr zu fliegen. Es wäre interessant, unsere ProfessorInnen mit ihm zu konfrontieren... Aber natürlich reichen Vorbilder niemals aus. Als Voraussetzung für eine ökologische Gesellschaft brauchen wir ein anderes Wirtschaftssystem, welches die Umwelt und den Menschen statt den Profit und das Wirtschaftswachstum ins Zentrum stellt. Ein System, in dem umwelt- sowie menschenfreundliche gesellschaftliche Bilder vermittelt werden. Dazu braucht es vor allem politischen Druck, aber auch Forschung. Forschung, wie und wohin die Wirtschaft und Gesellschaft transformiert werden kann, und ForscherInnen, die diesen Wandel glaubwürdig verkörpern – zum Beispiel, indem sie nicht fliegen.
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