Hunderte Demonstrant*innen schlendern durch die lichtdurchtränkte Ankunftshalle in Genua Richtung der Gleise. «Siamo tutti antifascisti!», rufen sie durch die Halle, bei einigen wird daraus «antisionisti». Sie tragen Kufiyas und schwenken Palästinaflaggen. Über die Lautsprecher dröhnt eine Zugannullierung nach der anderen. Es ist ein Freitagnachmittag Ende September. Seit einer halben Stunde halten Demonstrierende den Bahnhof besetzt.
Romeo steht mit den Händen auf den Hüften unter der grossen Anzeigetafel und strahlt. 16 Uhr zeigt die Uhr über ihm. Viel Zeit für Fragen hat er nicht. Ob er stolz sei auf den Streik? «Absolut. Ich bin stolz auf meine Leute und auf meine Stadt», sagt er. Seine Stadt ist das Zentrum der palästinasolidarischen Proteste Italiens. Einen so breiten Streik habe er seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Romeo ist Hafenarbeiter und Mitglied des autonomen Hafenarbeiterkollektivs CALP aus Genua. Gemeinsam mit den Basisgewerkschaften S.I. Cobas und USB hat CALP zum Generalstreik aufgerufen, auch der Gewerkschaftsbund CGIL hat sich angeschlossen.
Nicht von heute auf morgen
Bereits am 22. September 2025 kam es in ganz Italien zu Streiks. Im Oktober sollte ein noch grösserer folgen. Von Mailand bis Palermo standen Züge still, über eine Million Personen streikten. In Genua, Venedig und Livorno besetzten Hafenarbeiter*innen die Häfen. «Wir blockieren jene Schiffe, die Waffen, Gewehre und Sprengstoff in Länder transportieren, die Krieg führen», erklärt Romeo. Damit fordern sie die rechte Regierung Giorgia Melonis heraus, die Israel weitgehend unterstützt.
«Normalerweise ist es uns Italiener*innen egal, was in der Welt passiert. Es ist schön zu sehen, dass die Menschen endlich aufwachen.»
Mattia, Demonstrierender aus Genua
Dieser Protest sei nicht von heute auf morgen entstanden. Im Logistiksektor, der massgeblich an den Aktionen beteiligt ist, habe man in den vergangenen Jahren viel Streikerfahrung gesammelt, sagt Martino Puppo von der Basisgewerkschaft S.I. Cobas. Dort arbeiten viele migrierte Arbeiter*innen, und die Unterstützung für Palästina hätten insbesondere Beschäftigten aus arabischen Ländern initiiert. «Diese Erfahrungen waren entscheidend für die Mobilisierungen und Streiks der letzten Wochen», so Puppo. Er selbst blockiert an diesem Tag ein Logistikzentrum ausserhalb der Stadt, über das täglich tausende Container in und aus dem Hafen transportiert werden.
Ausschlaggebend für die jüngste Protestwelle waren die Verhaftungen von Aktivist*innen der Global Sumud Flotilla. Die Segelschiffflotte war mit Hilfsgütern auf dem Weg nach Palästina; mehr als 40 Italiener*innen befanden sich an Bord, darunter Journalist*innen und vier linke Abgeordnete. Die Solidarität mit der Flotilla ist gross, selbst bürgerliche Politiker*innen stehen hinter der Aktion. Sollten die Boote vom Kurs abgedrängt werden, hatten die Gewerkschaften bereits einen weiteren Streiktag angekündigt. Schon am Mittwochabend, unmittelbar nach den Verhaftungen, kam es in mehreren Städten zu Demonstrationen. «Wir haben nur eine Frage an unsere Regierung», ruft Romeo über den Lärm hinweg: «Wir wollen wissen, was mit unseren Freund*innen auf dem Boot ist. Ob sie leben und wann sie zurückkehren.»
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Ein Tag voller Aktionen
In der Bahnhofshalle ist eine weisse Fahne mit der Aufschrift «Global Sumud Flotilla» schon von weitem sichtbar. Sanft lässt sie ein junger Mann namens Mattia über die Köpfe der Demonstrierenden schweifen.
Zwei Aktivisten aus Genua sind an Bord der Flotilla, einen kenne er persönlich, erzählt Mattia. Dass nun so viele Menschen auf die Strasse gehen, stimme ihn hoffnungsvoll. «Normalerweise ist es uns Italiener*innen egal, was in der Welt passiert», sagt er. «In Frankreich ist das anders: Wenn die Leute dort demonstrieren, meinen sie es ernst. Es ist schön zu sehen, dass wir das auch können, dass die Menschen endlich aufwachen.» Am Vorabend hat er in seiner Heimatstadt italienische Fahnen ab- und palästinensische aufgehängt. «Ich hoffe, dass wir damit auch andere wachrütteln», sagt er.

In Genua reiht sich an diesem Freitag Aktion an Aktion. Am Morgen haben Hafenarbeiter*innen den Hafen besetzt, Studierende die Universität. Polizei ist kaum zu sehen. Die Bahnhofsbesetzung ist aus einem Demonstrationszug entstanden, der ab dem frühen Nachmittag die Hauptstrasse beim Hafen blockiert hat, direkt neben den riesigen Kreuzfahrtschiffen.
Unter den Demonstrierenden sind viele junge Menschen. «Palestina libera, Gaza Gaza vincerà!» (zu Deutsch: Freies Palästina, Gaza wird siegen) skandieren sie durch die Strassen. Ein müde aussehender Chemielehrer mit einer grossen USB-Fahne erzählt, sein Schüler habe ihn überredet, mitzukommen. Aus den Boxen dröhnt Ska‑P, es riecht nach Pyrotechnik und frischer Farbe.
Widerhall in Gaza
Erstmals ist an diesem Freitag auch der Gewerkschaftsbund CGIL am Generalstreik beteiligt. Auf der historischen Piazza De Ferrari wehen seine roten Fahnen in der Mittagssonne, die Stimmung ist gemächlicher als bei den Basisgewerkschaften. Viele ältere Menschen sind gekommen, aber auch Familien mit Kindern. Partisanenlieder dröhnen aus den Lautsprechern, immer wieder wird «Bella Ciao» angestimmt.
«In Palästina findet ein Genozid statt!», betont Gewerkschaftssekretär Igor Magni. «Dabei geht es nicht nur um die Palästinenser*innen. Es betrifft uns alle. Internationale Solidarität muss von unten kommen; aus der Arbeiterbewegung, aus den Bewegungen der Werktätigen!»
Die Aufmerksamkeit des Publikums gehört bald einem etwa zehnjährigen Jungen. Ein rotes Tuch hängt ihm um den Hals, eine Mütze sitzt schief auf dem Kopf. Nervös tritt er ans Mikrofon, verlagert das Gewicht von einem Fuss auf den anderen. Dann hebt er entschlossen die linke Faust. «Wir sind Genua: Ein Volk, das denkt und weiss, was in Gaza passiert. Wir wollen, dass keine Kinder mehr durch israelische Bomben sterben!», ruft er ins Mikrofon. Jubel brandet auf.
«Wir müssen die Interessen der Regierungen und des Imperialismus‘ treffen: Sie sind mitschuldig am Genozid in Gaza»
Martino Puppo von S.I. Cobas
Weiter hinten klettert ein Jugendlicher auf die Schultern seines Freundes, zündet eine grüne Rauchfackel, grinst stolz und schaut den Schwaden nach, die über den Platz ziehen. «Tausende unschuldige Menschen, darunter Kinder, werden getötet, ganze Familien ausgelöscht», sagt der 19-Jährige später. «Ich kann nicht einfach zusehen und schweigen. Mitmachen ist meine Art, Haltung zu zeigen: für die Menschlichkeit und gegen das Wegsehen.»
Nicht nur in Genua kommt es an diesem Freitag zu Protestaktionen: In ganz Italien demonstrieren Arbeiter*innen, Studierende und Lehrer*innen. Der Flughafen in Pisa ist blockiert, in Livorno der Hafen besetzt. Am Samstag sollen laut Veranstalter*innen eine Million Menschen in Rom auf der Strasse gewesen sein.

Die Proteste finden auch in Gaza Resonanz. «Die Italiener*innen haben uns in Gaza ein Lächeln ins Gesicht gezaubert», schreibt die palästinensische Journalistin Eman Abu Zayed. «Die massenhaften Mobilisierungen für Palästina in ganz Italien haben hier Widerhall gefunden. Wir sind wirklich dankbar.»
Europaweit gegen den Waffentransport
Den Generalstreik vom 3. Oktober 2025 wertet Martino Puppo von S.I. Cobas als Erfolg. «Die Masse der Demonstrierenden war beeindruckend», sagt er. «So etwas hat es in Italien seit Jahrzehnten nicht gegeben. Das weckt die Hoffnung auf die Entwicklung einer kämpferischen Bewegung – eine, die sich aus der Unterstützung Palästinas heraus zu einer breiten, antikapitalistischen Perspektive entfalten kann.» Der Widerstand müsse sich auch gegen die europäischen Regierungen richten, so Puppo.
Der Streik ist nicht isoliert: Seit Monaten kämpfen Hafenarbeiter*innen rund um das Mittelmeer gegen den Transport von Waffen nach Israel. In Marseille, Genua, Tanger und Athen haben sie Streiks und Proteste organisiert. Ende September trafen sie sich in Genua zu einem Kongress und beschlossen einen europaweiten Generalstreik. Dessen Datum steht noch nicht fest. «Wir müssen die Interessen der Regierungen und des Imperialismus‘ treffen: Sie sind mitschuldig am Genozid in Gaza», sagt Puppo. «Deswegen werden wir die Streiks fortsetzen, um die Kriegswirtschaft und Militarisierung zu blockieren.»
Dass der heutige Generalstreik nicht der letzte war, weiss auch Romeo von der CALP. Vom hinteren Teil des Bahnhofs wird er gerufen, er wendet sich ab, dreht sich dann noch einmal um. «Wir sind noch lange nicht fertig!», grinst er, und eilt davon.
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