„Lies mir doch schnell einige Zeilen vor“, meinte ich kürzlich zu meinem Nachhilfeschüler in Deutsch. Er geht in die fünfte Klasse und ist soeben in eine neue Schule gekommen. Er zögerte ein bisschen und schaute mich betrogen an, als hätte ich ihm gerade jeglichen Spass an unserer Lektion genommen. Ich ermunterte und vergewisserte ihn, er müsse es bloss mit mehr Selbstbewusstsein machen. Er zögerte immer noch. „Ich mag Vorlesen nicht“, meinte er schüchtern, „weil die anderen Kinder immer wegen meiner mangelnden Deutschkenntnisse lachen“.
Die Familie des Jungen war vor einigen Jahren in die Schweiz gezogen. Sie kommen aus Indien und mussten wegen der Arbeit schon oft umziehen. Der letzte Umzug brachte sie in die Schweiz.
Während der folgenden Lektionen erzählte mir der Junge immer mehr von seinen Erfahrungen in der Schule in der Schweiz. Tests seien besonders schwierig, denn er versteht die Aufgaben oft sprachlich nicht. Seine Lehrperson habe zudem eine neue Regel aufgestellt: Keine Fragen während Prüfungen. Wenn er also beispielsweise eine Textaufgabe in einem Mathetest sprachlich nicht versteht, hat er keine Chance, diese zu beantworten.
Die Willkür hat System
Seitdem ich ihn unterrichte, denke ich oft an meine eigenen Erfahrungen als ausländische Schülerin in der Schweiz. Diese waren nämlich ganz anders. Ich bin in der ersten Klasse in die Schweiz gekommen und konnte zu diesem Zeitpunkt kein Deutsch. Mein Klassenlehrer gab sich aber grosse Mühe, seinen Unterricht für mich und die anderen Kinder, die kein Deutsch sprachen, möglichst inklusiv zu gestalten. Er schaute, dass er auch ausserhalb der Lektionen in „Deutsch als Zweitsprache“ zu unserem Lernfortschritt beitragen konnte und sorgte vor allem dafür, dass wir uns in der Klasse nicht fremd fühlten.
Ich frage mich, wie es sein kann, dass die Erfahrungen meines Nachhilfeschülers und die von mir so unterschiedlich waren. Dasselbe Land, dieselbe Stadt, sogar dasselbe Dorf und dennoch sind Welten zwischen unseren Erfahrungen. Wie kann es sein, dass unser Schulsystem mir auf jeder Stufe zur Hilfe kam und ihn schon so früh im Stich gelassen hat?
Eine Erklärung könnte sein: pures Glück. Ich stiess auf einen engagierten Lehrer, er nicht. Doch das Problem liegt tiefer. Es ist ins Bildungssystem eingebaut. Es liegt nicht in erster Linie an einzelnen Lehrpersonen, sondern daran, dass das Schulsystem eine solche Willkür überhaupt zulässt.
Aber: Dass ich als weisse Person mit einem deutschen Namen eine ganz andere Erfahrung hatte als ein Kind, das aus Indien kommt, – das ist nicht willkürlich. Systemischer Rassismus macht keinen Halt vor dem Klassenzimmer. Willkürlich ist allerdings, an welche Lehrperson Kinder mit Migrationsgeschichte geraten. Und ob diese zufällig auf Rassismus sensibilisiert sind – oder eben nicht.
Der neuste Bericht des Beratungsnetzes für Rassismusopfer legt nahe, dass die Anzahl an Fällen von Diskriminierung im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Nach dem Arbeitsplatz sind Bildungsinstitutionen an zweiter Stelle der Orte, an denen die meisten Fälle dokumentiert wurden. Der Rassismus geht in Schulen natürlich nicht nur von Lehrpersonen aus, sondern auch von den eigenen Mitschüler*innen.
Klimahysterisch und radikal oder unverantwortlich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumgenörgelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Repräsentation in der Öffentlichkeit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netzwerken eine Plattform. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.
Helena Quarck ist 19 Jahre alt und Schülerin. Sie ist als Siebenjährige aus Brasilien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäftigung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redaktorin des Jugendmagazins Quint.
Eigenverantwortung liegt bei den Lehrpersonen
Gerade dann ist die Intervention durch Lehrpersonen und Schulleitung wichtig. Rahel El-Maawi, Lehrbeauftragte für Soziokultur in verschiedenen Hochschulen, erzählt im erwähnten Bericht, dass sie viele Lehrpersonen kontaktieren, die nicht wissen, wie sie eingreifen sollen, wenn sie Diskriminierung in der Schule mitbekommen. Das verwundert nicht, denn das Wort „Rassismus“ kommt nicht einmal im Lehrplan 21 vor. Das Thema ist auch bei Aus- und Weiterbildungen für Lehrpersonen kein obligatorischer Schwerpunkt.
Lehrpersonen sind somit selbst dafür verantwortlich, sich in Sachen Rassismus und Diskriminierung weiterzubilden. Dafür müssen sie aber erst mal die Zeit finden. Einige schaffen das nicht – und das kann schwere Folgen haben. Eine Instagram-Umfrage von Baba News, bei der Follower*innen mit Migrationshintergrund ihre schlimmsten Erfahrungen mit Lehrpersonen schilderten, lässt über klar rassistischen und unsensiblen Kommentare von Lehrpersonen staunen.
„Träum nid so viel“, kriegte eine Schülerin zu hören, als sie den Wunsch äusserte Anwältin zu werden. „I dinere Kultur dafet Fraue nit studiere“, eine andere. Eine Lehrperson sagte sogar, dass das Niveau an den Schulen gesunken sei, weil eine Ausländerin die Gymiprüfung geschafft hat. Dass Lehrpersonen weniger von Schüler*innen mit Migrationshintergrund erwarten, hat damit zu tun, dass sie nicht gelernt haben, ihren bias (dt. Voreingenommenheit) und ihre Vorurteile gegenüber Ausländer*innen im Klassenzimmer abzulegen. Das wiederum hat einen direkten Einfluss auf die Chancengleichheit in Schulen.
Rassismuserfahrungen senken das Selbstwertgefühl vieler Schüler*innen und demotiviert sie. Wenn Lehrpersonen nicht wissen, wie bei Diskriminierung einzugreifen ist, entsteht ein Lernklima, in welchem Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte schon von Anfang an verloren haben.
Das Versprechen einlösen
Natürlich tragen Lehrpersonen eine grosse Verantwortung in ihrer Rolle und sollten diese auch wahrnehmen. Aber es ist der Job der Bildungspolitik, sie dabei zu unterstützen. Dafür müsste es aber erst einmal als Problem erkannt werden. Dr. Stephanie Claudine Boulila, Dozentin und Projektleitern am Institut für soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern, erklärt im Interview mit Baba News die fehlenden Massnahmen der Bildungspolitik: „Sich einzugestehen, dass etwas nicht funktioniert, würde bedeuten, dass man seinen Glauben an das System grundsätzlich in Frage stellen müsste.“ Das fällt offenbar vielen in den Bildungsinstitutionen schwer.
Dabei belegen Statistiken schon lange eine bedeutsame Ungleichheit zwischen in der Schweiz geborenen Kindern und Kindern mit Migrationsgeschichte. Besonders auffällig sind die Zahlen zu Jugendlichen, die keinen Abschluss der Sekundarstufe II haben; also keinen, der über die obligatorische Schulpflicht hinausgeht. Diese Zahlen sind laut Bundesamt für Statistik ein wichtiger Indikator. Er weise darauf hin, wie effektiv das Bildungssystem sei, Jugendliche bis zum Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung zu halten und zu bilden, sowie ihnen eine Lernkultur zu vermitteln.
Von den Schweizer Schüler*innen befinden sich nur etwa 4.3 Prozent ausserhalb des Schulsystems. Unter den im Bericht als „ausländische“ Jugendliche bezeichneten, waren es im Jahr 2022 15.4 Prozent, die keinen Abschluss hatten. Unser Schulsystem scheitert also daran, Jugendliche mit Migrationshintergrund „bis zum Abschluss zu halten“.
In einem Schweizer Klassenzimmer haben im Schnitt knapp ein Drittel der Schüler*innen keine Schweizer Staatszugehörigkeit. Viele von ihnen sind strukturellem Rassismus ausgesetzt. Es ist höchste Zeit, unser Schulsystem anzupassen – denn Migration gab es, gibt es immer noch und wird es immer geben. Lehrpersonen müssen auf diese Realität vorbereitet werden. Nur so kann das Versprechen von Chancengleichheit in der Bildung eingelöst werden.
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