Der Mythos der Chancengleichheit

Das Wort „Rassismus“ kommt im Lehr­plan 21 kein einziges Mal vor. Kein Wunder, dass Lehr­per­sonen nicht wissen, wie sie Jugend­liche mit Migra­ti­ons­ge­schichte fördern können. Das muss sich ändern, findet Kolum­ni­stin Helena Quarck. 
Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte werden in der Schule oft alleine gelassen. (Foto: Pixabay)

„Lies mir doch schnell einige Zeilen vor“, meinte ich kürz­lich zu meinem Nach­hil­fe­schüler in Deutsch. Er geht in die fünfte Klasse und ist soeben in eine neue Schule gekommen. Er zögerte ein biss­chen und schaute mich betrogen an, als hätte ich ihm gerade jegli­chen Spass an unserer Lektion genommen. Ich ermun­terte und verge­wis­serte ihn, er müsse es bloss mit mehr Selbst­be­wusst­sein machen. Er zögerte immer noch. „Ich mag Vorlesen nicht“, meinte er schüch­tern, „weil die anderen Kinder immer wegen meiner mangelnden Deutsch­kennt­nisse lachen“.

Die Familie des Jungen war vor einigen Jahren in die Schweiz gezogen. Sie kommen aus Indien und mussten wegen der Arbeit schon oft umziehen. Der letzte Umzug brachte sie in die Schweiz.

Während der folgenden Lektionen erzählte mir der Junge immer mehr von seinen Erfah­rungen in der Schule in der Schweiz. Tests seien beson­ders schwierig, denn er versteht die Aufgaben oft sprach­lich nicht. Seine Lehr­person habe zudem eine neue Regel aufge­stellt: Keine Fragen während Prüfungen. Wenn er also beispiels­weise eine Text­auf­gabe in einem Mathe­test sprach­lich nicht versteht, hat er keine Chance, diese zu beantworten.

Die Willkür hat System

Seitdem ich ihn unter­richte, denke ich oft an meine eigenen Erfah­rungen als auslän­di­sche Schü­lerin in der Schweiz. Diese waren nämlich ganz anders. Ich bin in der ersten Klasse in die Schweiz gekommen und konnte zu diesem Zeit­punkt kein Deutsch. Mein Klas­sen­lehrer gab sich aber grosse Mühe, seinen Unter­richt für mich und die anderen Kinder, die kein Deutsch spra­chen, möglichst inklusiv zu gestalten. Er schaute, dass er auch ausser­halb der Lektionen in „Deutsch als Zweit­sprache“ zu unserem Lern­fort­schritt beitragen konnte und sorgte vor allem dafür, dass wir uns in der Klasse nicht fremd fühlten.

Ich frage mich, wie es sein kann, dass die Erfah­rungen meines Nach­hil­fe­schü­lers und die von mir so unter­schied­lich waren. Dasselbe Land, dieselbe Stadt, sogar dasselbe Dorf und dennoch sind Welten zwischen unseren Erfah­rungen. Wie kann es sein, dass unser Schul­sy­stem mir auf jeder Stufe zur Hilfe kam und ihn schon so früh im Stich gelassen hat?

Eine Erklä­rung könnte sein: pures Glück. Ich stiess auf einen enga­gierten Lehrer, er nicht. Doch das Problem liegt tiefer. Es ist ins Bildungs­sy­stem einge­baut. Es liegt nicht in erster Linie an einzelnen Lehr­per­sonen, sondern daran, dass das Schul­sy­stem eine solche Willkür über­haupt zulässt.

Aber: Dass ich als weisse Person mit einem deut­schen Namen eine ganz andere Erfah­rung hatte als ein Kind, das aus Indien kommt, – das ist nicht will­kür­lich. Syste­mi­scher Rassismus macht keinen Halt vor dem Klas­sen­zimmer. Will­kür­lich ist aller­dings, an welche Lehr­person Kinder mit Migra­ti­ons­ge­schichte geraten. Und ob diese zufällig auf Rassismus sensi­bi­li­siert sind – oder eben nicht.

Der neuste Bericht des Bera­tungs­netzes für Rassis­mus­opfer legt nahe, dass die Anzahl an Fällen von Diskri­mi­nie­rung im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist. Nach dem Arbeits­platz sind Bildungs­in­sti­tu­tionen an zweiter Stelle der Orte, an denen die meisten Fälle doku­men­tiert wurden. Der Rassismus geht in Schulen natür­lich nicht nur von Lehr­per­sonen aus, sondern auch von den eigenen Mitschüler*innen.

Klima­hy­ste­risch und radikal oder unver­ant­wort­lich und faul: Es wird viel an jungen Menschen rumge­nör­gelt. Schlimmer als die Kritik ist aber ihre fehlende Reprä­sen­ta­tion in der Öffent­lich­keit. Während sich alle Welt über Anliegen der Jugend äussert, finden diese selbst nur in sozialen Netz­werken eine Platt­form. Das ändert nun die Kolumne „Jung und dumm“.

Helena Quarck ist 19 Jahre alt und Schü­lerin. Sie ist als Sieben­jäh­rige aus Brasi­lien in die Schweiz gezogen und musste Deutsch lernen. Diese Beschäf­ti­gung mit Sprache hat sie zum Schreiben gebracht. Helena ist Redak­torin des Jugend­ma­ga­zins Quint.

Eigen­ver­ant­wor­tung liegt bei den Lehrpersonen

Gerade dann ist die Inter­ven­tion durch Lehr­per­sonen und Schul­lei­tung wichtig. Rahel El-Maawi, Lehr­be­auf­tragte für Sozio­kultur in verschie­denen Hoch­schulen, erzählt im erwähnten Bericht, dass sie viele Lehr­per­sonen kontak­tieren, die nicht wissen, wie sie eingreifen sollen, wenn sie Diskri­mi­nie­rung in der Schule mitbe­kommen. Das verwun­dert nicht, denn das Wort „Rassismus“ kommt nicht einmal im Lehr­plan 21 vor. Das Thema ist auch bei Aus- und Weiter­bil­dungen für Lehr­per­sonen kein obli­ga­to­ri­scher Schwerpunkt.

Lehr­per­sonen sind somit selbst dafür verant­wort­lich, sich in Sachen Rassismus und Diskri­mi­nie­rung weiter­zu­bilden. Dafür müssen sie aber erst mal die Zeit finden. Einige schaffen das nicht – und das kann schwere Folgen haben. Eine Insta­gram-Umfrage von Baba News, bei der Follower*innen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund ihre schlimm­sten Erfah­rungen mit Lehr­per­sonen schil­derten, lässt über klar rassi­sti­schen und unsen­si­blen Kommen­tare von Lehr­per­sonen staunen. 

„Träum nid so viel“, kriegte eine Schü­lerin zu hören, als sie den Wunsch äusserte Anwältin zu werden. „I dinere Kultur dafet Fraue nit studiere“, eine andere. Eine Lehr­person sagte sogar, dass das Niveau an den Schulen gesunken sei, weil eine Auslän­derin die Gymi­prü­fung geschafft hat. Dass Lehr­per­sonen weniger von Schüler*innen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund erwarten, hat damit zu tun, dass sie nicht gelernt haben, ihren bias (dt. Vorein­ge­nom­men­heit) und ihre Vorur­teile gegen­über Ausländer*innen im Klas­sen­zimmer abzu­legen. Das wiederum hat einen direkten Einfluss auf die Chan­cen­gleich­heit in Schulen.

Rassis­mus­er­fah­rungen senken das Selbst­wert­ge­fühl vieler Schüler*innen und demo­ti­viert sie. Wenn Lehr­per­sonen nicht wissen, wie bei Diskri­mi­nie­rung einzu­greifen ist, entsteht ein Lern­klima, in welchem Kinder und Jugend­liche mit Migra­ti­ons­ge­schichte schon von Anfang an verloren haben.

Das Verspre­chen einlösen

Natür­lich tragen Lehr­per­sonen eine grosse Verant­wor­tung in ihrer Rolle und sollten diese auch wahr­nehmen. Aber es ist der Job der Bildungs­po­litik, sie dabei zu unter­stützen. Dafür müsste es aber erst einmal als Problem erkannt werden. Dr. Stephanie Clau­dine Boulila, Dozentin und Projekt­lei­tern am Institut für sozio­kul­tu­relle Entwick­lung der Hoch­schule Luzern, erklärt im Inter­view mit Baba News die fehlenden Mass­nahmen der Bildungs­po­litik: „Sich einzu­ge­stehen, dass etwas nicht funk­tio­niert, würde bedeuten, dass man seinen Glauben an das System grund­sätz­lich in Frage stellen müsste.“ Das fällt offenbar vielen in den Bildungs­in­sti­tu­tionen schwer.

Dabei belegen Stati­stiken schon lange eine bedeut­same Ungleich­heit zwischen in der Schweiz gebo­renen Kindern und Kindern mit Migra­ti­ons­ge­schichte. Beson­ders auffällig sind die Zahlen zu Jugend­li­chen, die keinen Abschluss der Sekun­dar­stufe II haben; also keinen, der über die obli­ga­to­ri­sche Schul­pflicht hinaus­geht. Diese Zahlen sind laut Bundesamt für Stati­stik ein wich­tiger Indi­kator. Er weise darauf hin, wie effektiv das Bildungs­sy­stem sei, Jugend­liche bis zum Abschluss einer zerti­fi­zie­renden Ausbil­dung zu halten und zu bilden, sowie ihnen eine Lern­kultur zu vermitteln. 

Von den Schweizer Schüler*innen befinden sich nur etwa 4.3 Prozent ausser­halb des Schul­sy­stems. Unter den im Bericht als „auslän­di­sche“ Jugend­liche bezeich­neten, waren es im Jahr 2022 15.4 Prozent, die keinen Abschluss hatten. Unser Schul­sy­stem schei­tert also daran, Jugend­liche mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund „bis zum Abschluss zu halten“.

In einem Schweizer Klas­sen­zimmer haben im Schnitt knapp ein Drittel der Schüler*innen keine Schweizer Staats­zu­ge­hö­rig­keit. Viele von ihnen sind struk­tu­rellem Rassismus ausge­setzt. Es ist höchste Zeit, unser Schul­sy­stem anzu­passen – denn Migra­tion gab es, gibt es immer noch und wird es immer geben. Lehr­per­sonen müssen auf diese Realität vorbe­reitet werden. Nur so kann das Verspre­chen von Chan­cen­gleich­heit in der Bildung einge­löst werden.


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