Das Lamm: Herr Plüss, dieses Jahr sind zum wiederholten Mal die Waffenexporte der Schweiz gestiegen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Simon Plüss: Ob die Waffengeschäfte von einem Jahr zum anderen zugenommen haben bzw. ob sich die wirtschaftliche Situation der Industrie verbessert hat oder nicht, lässt sich nicht ohne Weiteres anhand der Kriegsmaterialexporte feststellen. Bewilligungen für die Ausfuhr von Kriegsmaterial sind nämlich maximal 18 Monate lang gültig. Kriegsmaterial kann also in einem Jahr ausgestellt, aber trotzdem erst im nächsten Jahr ausgeführt werden.
Als Messgrösse zur Beurteilung der wirtschaftlichen Situation besser geeignet als die tatsächlichen Ausfuhren von Kriegsmaterial ist das in einem Jahr neu bewilligte Ausfuhrvolumen.
Und das heisst konkret?
Vergangenes Jahr haben wir im Vergleich zum Vorjahr (CHF 2,1 Mia.) zwar Geschäfte im Gesamtwert von drei Milliarden Franken bewilligt. Ein Teil dieser Geschäfte betraf jedoch Bewilligungen aus dem Vorjahr, die zur Verlängerung beantragt waren. Das Volumen der neu erteilten Bewilligungen ist im letzten Jahr dagegen im Vergleich zum Vorjahr von zwei Milliarden auf rund 1,1 Milliarden gesunken. Das heisst, von den bewilligten drei Milliarden Franken entfallen nur gut 30 % auf neue Geschäfte.
Die neuen Bewilligungen erlauben eine Einschätzung der neuen Geschäftsabschlüsse der Industrie und geben damit einen Hinweis darauf, was wir in Zukunft exportseitig erwarten können. Damit will ich zeigen, dass wir im letzten Jahr eine Halbierung der neuen Geschäfte hatten. Zur Erinnerung: Seit 1983, also seit wir die Ausfuhrzahlen ausweisen, zeigt die Trendlinie der Exporte nach unten. Zudem sind die Exportstatistiken nicht inflationsbereinigt.
Wie verläuft denn eigentlich so ein Bewilligungsprozess?
Laut dem Kriegsmaterialgesetz benötigen die Herstellung, der Handel, die Vermittlung, die Ein‑, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial sowie die Übertragung von Know-how betreffend Kriegsmaterial eine Bewilligung des Bundes. Das heisst, die Ausfuhr von Waffen muss in jedem Einzelfall bewilligt werden. Es gibt verschiedene Kriterien, die dabei berücksichtigt werden müssen und zu einer Ablehnung führen können. So zum Beispiel die regionale Stabilität oder die Menschenrechtslage im Bestimmungsland. Andere Kriterien führen zwingend zu einem Ausschluss einer Bewilligungserteilung, etwa wenn ein Land in einen internen oder internationalen Konflikt verwickelt ist.
Das heisst: Den USA dürften auch keine Waffen geliefert werden?
Das kommt ganz darauf an. Wenn dem entsprechenden Einsatz ein UNO-Mandat zugrunde liegt, dann dürfen Waffen geliefert werden. Wie schon gesagt, wir treffen die Entscheidungen im Einzelfall. Dabei konsultieren wir das Aussendepartement, den Nachrichtendienst und das Verteidigungsdepartement, um auf Basis einer möglichst breiten Faktenlage einen guten Entscheid zu fällen.
Trotzdem ist die Geschichte der Schweizer Waffenexporte reich an Skandalen. Schon mehrmals haben Unternehmen trotz Verbot Waffen in Krisenregionen ausgeführt. Andere Rüstungsfirmen haben immer wieder nach Schlupflöchern gesucht – und sie auch gefunden. Wie hat der Bund reagiert?
Ich würde gerne sagen, dass das heute nicht mehr passieren kann. Das Kriegsmaterialgesetz stammt in seiner Ursprungsform aus dem Jahr 1972. 1996 wurde es totalrevidiert und in den folgenden Jahren immer wieder verschärft. Nach jedem Missbrauch wurden die Konsequenzen gezogen. Ich glaube aber auch, dass die Firmen sensibler geworden sind. Die grossen Unternehmen können sich keine Skandale mehr leisten.
Die Schweiz handhabt den Waffenexport im Vergleich zu den Nachbarländern restriktiver. Deutschland etwa exportiert weiterhin Waffen in die kriegsführende Türkei. Wieso wandern die Rüstungsunternehmen nicht ab?
Das müssen Sie grundsätzlich die Unternehmen fragen. Wir können allerdings verschiedene Überlegungen anstellen. In der Schweiz gibt es drei, vier grosse Rüstungsunternehmen. Der Rest, die grosse Mehrzahl, sind KMU und gehören zur Metall‑, Elektro- und Maschinenindustrie. Das sind Zulieferer. Diese sind natürlich stark diversifiziert und hängen nicht allein vom Rüstungssektor ab. Ausserdem sind die grossen Rüstungsunternehmen schon lange in der Schweiz. Die haben Know-how, das heisst vor allem erfahrene und kompetente Mitarbeiter*innen. Die können nicht von heute auf morgen an einen anderen Standort verschoben werden.
Und schliesslich muss man auch bedenken, dass eben 83 % der Exporte auf EU-Länder, die USA oder Australien entfallen, also auf Länder, die von diesen Restriktionen kaum betroffen sind. Schwankungen im restlichen Bereich sind dann vielleicht eher verkraftbar und führen nicht gleich zu einer Abwanderung.
Heisst das auch, dass man die restlichen 17 % noch sehr viel restriktiver behandeln könnte?
Auch das müssen Sie die Firmen fragen. Ich weiss nicht, wie viel Spielraum da besteht. Was man allerdings auch bedenken muss, ist die Reputation der Unternehmen: Wenn eine Firma ein Land beliefert, hat sie dort Kontakte aufgebaut und Verträge abgeschlossen. Die plötzliche Kündigung dieser Beziehung kann dem Ruf der Firma schaden.
Nun finden ja viele Exporte über Drittstaaten statt. Ein Beispiel: Im letzten Jahr wurden Waffenlieferungen via Türkei und Kolumbien an Abnehmerstaaten durchgeführt. Also über Staaten, in die normalerweise keine Waffen exportiert werden dürfen. Wie wird kontrolliert, dass die Waffen nicht im Transitland bleiben?
Das wichtigste Instrument ist das Assessment des Gesuchs ganz am Anfang des Prozesses. Wenn ein Gesuch eingereicht wird, dann muss zuallererst beurteilt werden, wie hoch die Gefahr ist, dass die Waffe in den falschen Händen landet. Im Normalfall verfügen wir über recht viel Erfahrungen und Informationen über bestimmte Länder. Das heisst: Wir wissen, in welchen Ländern Waffen verschwinden können.
Wenn das Risiko unserer Einschätzung nach hoch ist, dann wird das Gesuch abgelehnt. Wenn es erhöht ist, dann überlegen wir uns Alternativen. Etwa, ob es möglich ist, eine Garantie dafür zu erhalten, dass nicht eintrifft, was wir zu verhindern versuchen.
Was bedeutet das für das Beispiel Türkei?
Die Türkei selber darf nicht beliefert werden. Nun gibt es aber eine Firma, die Mörser an ein Unternehmen in der Türkei liefert. Dort wird der Mörser in ein gepanzertes Fahrzeug verbaut und an den Oman ausgeliefert. Der Oman ist ein in diesem Kontext unproblematisches Land. In diesem Fall haben wir zur Bedingung gemacht, dass die Firma, die den Mörser liefert, beim Einbau anwesend ist. Wir haben mit der Türkei vereinbart, dass wir vor Ort prüfen können, ob dies tatsächlich so geschieht. Das ermöglicht uns, dass wir uns vor Ort der Regelkonformität überzeugen können.
Und vom Oman haben wir eine Ablieferungsbestätigung bekommen. Zusätzlich hat der Oman schriftlich bestätigt, dass er der Endnutzer ist und wir auch dies vor Ort kontrollieren können. Das ist eine Möglichkeit, sich abzusichern. Und bisher haben wir damit gute Erfahrungen gemacht.
Und wie sieht das genau bei Waffenhändlern aus? Es werden ja rund 90 % aller sogenannten „Small Arms and Light Weapons“ an Zwischenhändler exportiert.
Erst mal ist die Differenzierung wichtig. Es handelt sich hier um kleine Waffen, die mit einer Hand bedienbar sind, also nicht grosse Waffensysteme. Entscheidend ist weiter, in welchem Land diese Händler ansässig sind. Es müssen Länder mit einer mit der Schweiz vergleichbaren Exportkontrolle sein, sodass sichergestellt werden kann, dass die Schweizer Waffen nicht in falsche Hände geraten. Ausserdem verlangen wir bei solchen Ausfuhren eine Einfuhrbewilligung des Importlandes. Damit wird sichergestellt, dass die jeweiligen nationalen Behörden Kenntnis vom Import und die Waffen damit unter Kontrolle haben.
Rund vier Fünftel der Exporte an „Small Arms and Light Weapons“ gingen im vergangenen Jahr in die USA. Dort wird immer wieder darüber berichtet, dass Waffen bei Drogenkartellen in Lateinamerika landen. Hier besteht doch genau die Möglichkeit, dass Schweizer Waffen auch in Mexiko oder Kolumbien auftauchen.
Ja, das ist möglich, da haben Sie recht. Aber wir haben noch nie einen solchen Fall registriert. Ich glaube, das liegt auch daran, dass Schweizer Waffen Qualitätswaffen sind – und relativ teuer. Ausserdem sind die Stückzahlen der Exporte relativ klein. Bei dem von Ihnen erwähnten Tausch von Drogen aus Lateinamerika gegen Waffen aus den USA geht es um relativ hohe Stückzahlen. Typischerweise werden hier Kalaschnikows exportiert.
Ausserdem handelt es sich bei einem grossen Teil der Waffen, die aus der Schweiz exportiert werden, um Faustfeuerwaffen, also etwa Pistolen. Im Drogenkrieg kommen aber in erster Linie automatische Waffen wie Maschinenpistolen und Sturmgewehre zum Einsatz. Solche werden jedoch nur in geringen Stückzahlen aus der Schweiz in die USA exportiert. Und in diesen Fällen ist vor allem die Armee Abnehmer der Waffen.
Nun hat Anfang August der SonntagsBlick eine Recherche publiziert, in der bewiesen wurde, dass Milizen in Kriegsgebieten in Syrien oder auch Jemen mit Schweizer Waffen handeln und diese dort grosse Beliebtheit geniessen. Wie erklären Sie sich diese Präsenz?
Es werden seit Jahrzehnten keine Kriegsmaterialausfuhren aus der Schweiz nach Syrien, den Irak oder Jemen bewilligt. Es stellt sich also die Frage, wie die in der Reportage erwähnten Pistolen und Sturmgewehre dorthin gelangen konnten und ob es sich dabei um Einzelfälle oder grössere Stückzahlen handelt. So oder so sind verschiedene Erklärungsansätze denkbar.
Einerseits ist dabei zu bedenken, dass SIG-Sturmgewehre sowie die Pistole P210 nicht nur in der Schweiz hergestellt wurden, sondern auch im Ausland – sprich in Deutschland und den USA. Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um Waffen handelt, die im Ausland oder der Schweiz gestohlen und im zweiten Fall ohne Bewilligung aus der Schweiz ausgeführt wurden.
Welche Bestimmungen müssen denn geändert werden, damit ein solcher Einsatz von Schweizer Waffen verhindert werden kann?
Mit Blick auf die bewilligten Endempfänger aus der Schweiz und die seit 2012 bei diesen durchgeführten Kontrollen erachte ich die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei den aufgetauchten Waffen um legal aus der Schweiz ausgeführtes Kriegsmaterial – und dessen Weitergabe unter Verletzung der durch den Endempfänger eingegangenen Verpflichtung – handelt, nicht als hoch. Aus diesem Grund ist auch nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie solche Fälle verhindert werden könnten.
Selbst ein Exportverbot könnte solche Fälle nicht komplett ausschliessen. Der wirkungsvollste Ansatz dürften international harmonisierte Regeln für den Export und eine entsprechend harmonisierte Exportkontrolle sein, wie sie der internationale Waffenhandelsvertrag teilweise vorsieht.
Wie gut funktioniert die internationale Zusammenarbeit in der Rüstungskontrolle?
Der Rüstungsmarkt ist ein internationales Geschäft, und dementsprechend ist Exportkontrolle auch eine internationale Tätigkeit. Sie kann also nur wirksam sein, wenn sie international abgestimmt vorgenommen wird. Deshalb ist die Schweiz auch Mitglied beim ATT, dem internationalen Waffenhandelsabkommen. Dank des Abkommens wird heute der internationale Handel von konventionellen Waffen erstmals rechtsverbindlich geregelt. Bisher hat das Abkommen 110 Mitgliedstaaten und neuerdings ist mit China auch einer der fünf grössten Waffenhersteller beigetreten. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?