Die Szenerie ist minimalistisch gehalten: Das grelle Grün eines Greenscrenn dominiert die Bühne. Dem Publikum, eingeladen zu einer Probeschau, sitzen vier Darsteller:innen gegenüber, alle verkabelt. Die vier Zuschauer:innen tragen Kopfhörer. Im ersten Moment ähnelt das Ganze mehr einer silent disco als einer szenischen Performance. Wenig weist darauf hin, dass in der folgenden Stunde eine virtuelle Reise ins indigene Territorium Wallmapu und seine Geschichte unternommen wird. Die Vorführung beginnt mitten im Gespräch, erst nach und nach erschliesst sich den Zuhörer:innen der Komplex, der hier verhandelt wird.
Wallmapu bezeichnet ein Territorium in Chile, welches sich zwischen dem Fluss Bío-Bío im Norden, der Insel Chiloé im Süden und von der Pazifikküste im Westen bis auf Gebiete im heutigen Argentinien erstreckte. Historisch gesehen war es jenes Gebiet, in dem die indigenen Mapuche vor der Ankunft der wingkas – der fremden Kolonisatoren – lebten. Im Gegensatz zu anderen indigenen Völkern konnten sich die Mapuche lange erfolgreich gegen die europäische Kolonisation wehren, bis der chilenische respektive argentinische Staat im späten 19. Jahrhundert sich diese Gebiete in rücksichtslosen Eroberungskriegen aneigneten.
Die Schweiz war und ist bis heute Teil dieser Aneignung, sei es durch Generationen von Schweizer Siedler:innen, die das Land in Besitz nahmen, sei es durch SIG-Gewehre und MOWAG-Panzer, auf die sich die chilenische Militärdiktatur verliess oder sei es durch Schweizer Konzerne, die das Land ausbeuteten. Trotz dieses (neo-)kolonialen Versuchs, mittels Religion, Erziehung und eurozentrischer Wissenschaft das Wallmapu geographisch, politisch und kulturell zu beherrschen und auszulöschen, lebt dieses weiter.
„ex situ“ lebt als etwas Immaterielles, als Erinnerung, Vision und Identität.
Dekoloniale Praxis
In der improvisierten Performance symbolisiert Chiliweke – das Tier – diese Erinnerung an das Vergangene und Ausgelöschte am besten. Es erinnert die anderen Repräsentationen daran, wie das Leben im Wallmapu früher war, vor dem Buch, dem Eukalyptus und dem Panzer. Wallmapu ex situ nähert sich diesem Themenkomplex an und schafft ihm einen Raum, in welchem über Wissen, Macht und die Verflechtungen der Schweiz mit dem postkolonialen Süden reflektiert wird.
Im Herbst 2020 begann Wallmapu ex situ in Zeiten von Reisebeschränkungen und Theaterschliessungen als eine Serie von rein virtuellen Konferenzen. Nun versucht das transdisziplinäre Künstler:innenkollektiv trop cher to share unter dem Motto „territorio expandido“ die Performance zusätzlich in den physischen Raum zu tragen.
Im virtuellen Raum einer Zoom-Konferenz treten verschiedene Wesen des Wallmapu – das können Pflanzen, Tiere, aber auch Gegenstände sein – miteinander in den Dialog. Das Publikum in der Schweiz erlebt diese Gespräche von Künstler:innen aus Chile mittels Simultanübersetzung durch die Darsteller:innen des Kollektivs. Diese ständige Grenzüberschreitung ist anspruchsvoll, sowohl für das Publikum als auch die Darsteller:innen, die ihre jeweiligen Repräsentationen nicht nur sprachlich, sondern auch körperlich übersetzen.
Das Konzept, Pflanzen, Tiere und Gegenstände anstelle von Menschen sprechen zu lassen macht dabei erst einmal stutzig. Gerade vor dem Hintergrund eines schmerzhaften Konfliktes, unter dem die Mapuche bis heute zu leiden haben, scheint es seltsam, keine Betroffenen sprechen zu lassen. Jedoch entspricht dies explizit der dekolonialen Praxis, der sich die Macher:innen verschrieben haben.
Der Kolonialismus hat nicht nur Machtstrukturen zwischen herrschenden und beherrschten Menschen aufgebaut oder kolonisierte Menschen entmenschlicht, er hat auch die Vormacht des Menschen gegenüber der Natur, der Tier- und Pflanzenwelt zum Ideal proklamiert. Die Natur hat dem Menschen zu dienen – ein hegemoniales Paradigma, welches unsere globalisierte Welt in eisernem Griff hält.
Der Eukalyptus, rasch erkennbar durch seinen Durst, dient als Sinnbild dieses Anthropozentrismus. Er wurde aus seinem natürlichen Verbreitungsgebiet in Australien zur Holzgewinnung nach Lateinamerika eingeführt, wo er aufgrund seines grossen Wasserbedarfs ganze Ökosysteme gefährdet. Der Eukalyptus ist jedoch nicht einfach Täter, er ist auch Opfer der menschlichen Unterjochung der Natur.
Die Geschichte neu verhandeln
Für Menschen im Globalen Norden ist die Hinterfragung dieses Paradigmas schwierig. Selbst westlich-linke Ansätze zur Bekämpfung von Globalisierung, Kapitalismus oder Patriarchat sind dem anthropozentrischen Paradigma unterworfen. Vielen indigenen Kulturen in Lateinamerika hingegen war dieser Anthropozentrismus, also die Zentrierung auf das menschliche Handeln, vor der Kolonialisierung unbekannt. Einige, wie gerade die Mapuche, kämpfen bis heute gegen ihn an. Dementsprechend ist es tatsächlich eine dekoloniale Praxis im Sinne der indigenen Gemeinschaften, die Natur als Subjekt sprechen zu lassen.
An diesem Punkt der Selbstreflexion angelangt, gelingt es, die Geschichte dieser Dinge und damit die dahinterliegende Geschichte des historischen Wallmapu zu erfassen. Es geschieht eine Identifikation mit diesen Gegenständen und eine Hinterfragung von als unverrückbar geltenden Gewissheiten der westlichen Gesellschaft. Selbst der Panzer – sonst stählerne Manifestation von Gewalt und Machtanspruch – erweckt plötzlich Mitleid. Denn eigentlich will dieses rohe Ungetüm aus einer Fabrik in Kreuzlingen gar nicht Gewaltwerkzeug der Menschen sein.
Die Performance Wallmapu ex situ schafft den Spagat, Geschichte neu zu verhandeln, ohne mit Jahreszahlen zu jonglieren, Gegenwart zu interpretieren oder auf aktuelle Ereignisse zurückzugreifen. Und es gelingt ihr, über Schuld zu sprechen, ohne explizit Täter:innen oder Opfer zu benennen.
Kenntnisse über die Geschichte und Gegenwart des Wallmapu sind nicht zwingend notwendig, um die Performance verstehen zu können. Sie helfen jedoch, nach der Überwindung von geographischen und sprachlichen Grenzen auch die Grenzen zwischen Lebewesen und Dingen und zwischen physischem und virtuellem Raum zu überwinden. So kann auch ein Dialog zwischen Publikum und Künstler:innen entstehen und die Performance zur vollendeten dekolonialen Praxis werden.
Wallmapu ex situ: Territorio expandido feiert am 11. März 2022 Premiere im Schlachthaustheater in Bern. Weitere Vorstellungen finden am 12. März und 13. März 2022 in Bern, am 02. Juni und 3. Juni 2022 im Südpol in Luzern und vom 24. Juni bis 26. Juni 2022 im Fabriktheater Zürich statt.
Transparenz: Ein Redakteur von das Lamm ist an der Performance beteiligt. Er hat jedoch keinerlei inhaltlichen Einfluss auf den Text genommen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 15 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1040 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 525 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 255 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?