Hass und Gewalt schlagen den Aktivist*innen der „Letzten Generation“, kurz LG, für ihre symbolischen Angriffe auf Kunstwerke und ihre Strassenblockaden entgegen; und das von breiten Teilen der Gesellschaft. In Hamburg reissen wütende Autofahrer*innen die „Klima-Chaoten“ der LG von der Strasse, in Wien suggeriert FPÖ-Chef Dominik Nepp, man solle diese anpinkeln, und der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner fordert in einem parlamentarischen Vorstoss hartes Vorgehen und Gefängnisstrafen gegen die „gravierenden“ Taten von Renovate Switzerland. In der FAZ geht die Empörung so weit, dass von einem Angriff auf die Demokratie die Rede ist: „Unverhohlen werden neben den Grundrechten auf Leben, Leib und Eigentum auch die Demokratie infrage gestellt und der Rechtsstaat verhöhnt“.
In zwei Teilen analysieren die Politikwissenschaftler Caesar Anderegg und Leon Switala die Bewegung Letzte Generation.
Im ersten Teil widmen sie sich der Reaktion auf die Aktionen der Letzten Generation.
Im zweiten Teil nehmen sie ihre Taktik, Strategie und Ziele unter die Lupe und untersuchen, was die Vor- und Nachteile dieser Protestformen sind und überlegen, was die Aktionen von LG für eine antikapitalistische Klimagerechtigkeitsbewegung bedeuten könnten. Der zweite Teil wird zeitnah veröffentlicht.
Bevölkerung, Presse und Politik überbieten sich in der Aggressivität ihrer Reaktionen. Es gleicht einer Hetzkampagne gegen die LG, die sich über den gesamten deutschsprachigen Raum erstreckt. Kurzerhand wird die LG zum Feind der liberalen Gesellschaft erklärt. Die selbst ernannten Realist*innen, die kürzlich noch von einer „Klimahysterie“ fabuliert haben, sind nun diejenigen, die wirklich hysterisch auf inszenierte „Angriffe“ auf Kunstwerke und harmlose Strassenblockaden reagieren. Woher kommen diese Empörung und der Hass?
Nicht die Aktionen, sondern die Reaktionen sind extrem
Hätte man keine Ahnung, wer die LG ist, würde man Schlimmes erwarten. Man könnte meinen, die Reaktionen deuten auf das Entstehen einer antidemokratischen Bewegung hin, wie etwa die faschistoide Bolsonaro- oder Trump-Anhänger*innenschaft. Dabei ist offenkundig, dass die Kritik an den Aktionen der LG vorbeigeht.
Denn die LG bezieht sich ironischerweise auf ein liberales Verständnis von zivilem Ungehorsam. Dieser richtet sich direkt an die Regierungspolitik und fordert die Reform einzelner Gesetze. Zudem inszeniert die LG ihre Aktionen meist als öffentlichen Akt: Sie werden bei der Polizei angekündigt und sind gewaltfrei. Auch wenn die Aktivist*innen in einzelnen Fällen die Gesetze überschreiten.
Sogar der Präsident des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, räumt ein, dass nur weil die LG Straftaten beginge, sie dies noch nicht zu Extremist*innen mache. Sie wollten doch gerade die Funktionsträger*innen zum Handeln auffordern und zeigten dadurch, „wie sehr man dieses System eigentlich respektiert“.
Wenn es sich bei der LG also um eine gewaltfreie, staatstreue und demokratische Form des zivilen Ungehorsams handelt – wieso wird auf sie reagiert, als handle es sich um eine „Klima-RAF“? Art und Ausmass des Angriffs auf die LG von Teilen der Gesellschaft, Medien und politischen Parteien sind so übertrieben, dass sie tieferliegende Ursachen haben, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Wer sind die Empörten und was treibt sie an?
Guckt man genauer hin, so zeigt sich, dass die lautesten Schreihälse vor allem Akteure des bürgerlich-konservativen Lagers sind. Mit ihren extremen Reaktionen wird – teils strategisch, teils affektiv – versucht, den Anliegen der LG die Legitimität zu entziehen.
Dies ist eine bekannte und bewährte Reaktion der Herrschenden auf Kritik, welche die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat infrage stellen. Ihre, weil es sich um eine spezifische Form handelt: eine bürgerlich-kapitalistische Hegemonie – in den Begriffen des berühmten Marxisten Antonio Gramsci ausgedrückt.
Gramsci bezeichnet mit Hegemonie nicht etwa eine Herrschaft, die nur auf autoritärer Gewalt basiert, sondern primär auf politischer und kultureller Führung. Diese beruht auf Zustimmung der Bevölkerung, einem Konsens zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die herrschende Ordnung ist das Resultat einer erfolgreichen Verallgemeinerung von spezifischen Interessen eines Teils der Gesellschaft.
Die Herstellung des Konsenses passiert durch Ideologie in den politischen und vor allem kulturellen Bereichen der Gesellschaft: Hier wird besonders der Alltagsverstand der Bevölkerung in ihrem Interesse geprägt. So besteht für die allermeisten ein Konsens darüber, wie wir produzieren und konsumieren und was für Normen und Werte uns leiten. Dass dabei die Natur ausgebeutet wird und die Gesellschaft insgesamt hierarchisch gegliedert ist, bleibt meist unhinterfragt.
Zu diesem Selbstverständnis gehört auch ein klimaschädlicher Lebensstil, wie etwa die fossile Automobilität. Langsam macht sich die Angst breit, dass die Destabilisierung einiger ideologischer Stützen dieser Hegemonie ins Wanken gebracht werden könnten – nicht erst durch die LG, diese wurden nur gegenwärtig zur Zielscheibe, sondern durch die ökologischen, feministischen, antikapitalistischen Bewegungen der letzten Jahre.
Entrechtete Feinde des bürgerlichen Rechtsstaats
Der befürchtete Verlust der Hegemonie zeigt sich besonders in der verbalen Eskalation, schlägt aber mittlerweile in handfeste Repressionen um. Legitimation erfährt der Gewaltdiskurs durch die Erzählung von den „gewaltsamen Klimaaktivisten“, die „einer Absage an den demokratischen Rechtsstaat“ nahekommen, wie die FAZ am 2. November 2022 schreibt.
Da mit dieser Erzählung das Bild gezeichnet wird, es handle sich bei den Klimaaktivist*innen um Straftäter*innen und Feind*innen der Demokratie, kann der ‚liberale Rechtsstaat‘ sein Gleichheitsgebot einmal mehr ausser Kraft setzen.
Die Folge ist, dass nun Präventivhaft und die Zufügung unfassbarer Schmerzen als legitime Mittel gegen den politischen Feind gelten. Exemplarisch dafür ist die Aussage des ehemaligen Bundesverkehrsministers Scheuer (CSU): „Sperrt diese Klima-Kriminellen einfach weg!“ Diese ganze Gewaltrhetorik ist irritierend: Die Aktionen der LG sind nur symbolisch gewaltvoll.
Die Furcht vor der kulturellen Entwertung
Der Schaden durch die Blockaden und die Angriffe auf hoch dotierte Kunstwerke begrenzt sich auf Wartezeit und Reinigungsarbeiten, kein Auto oder Bild wird tatsächlich zerstört. Warum also diese Aggressivität? Im Kopftheater des kulturellen Bewusstseins ist diese symbolische Entwertung scheinbar ausreichend, um ihren hegemonialen Lebensstil als bedroht wahrzunehmen.
Automobile und teure Kunstwerke gehören zum Geltungs- und Statuskonsum einer bestimmten Lebensweise, einer imperialen Lebensweise, wie es Ulrich Brand und Markus Wissen theoretisieren. Die Automobilität des Globalen Nordens ist eine besonders ausgeprägte Form dieses imperialen Lebensstils. Sie beruht auf der Ausbeutung von Natur und Gesellschaft an anderen Orten des Planeten und ist derart ressourcen- und emissionsreich, dass sie eine Exklusivität darstellt, die nur einem kleinen Teil der Weltbevölkerung zugänglich ist. Sie muss auf Ressourcen, Arbeitsvermögen und ökologische Senken im Globalen Süden zurückgreifen und verschärft so sozial-ökologische Krisen.
Bürgerlich-kapitalistische Ideologie auf Rädern
Diese imperiale Lebensweise wird durch die Aktionen der LG infrage gestellt, nur so werden die autoritären Reaktionen verständlich. Ihre Absicht ist es, die fossile Lebensweise der Automobilität mit Gewalt zu verteidigen. Während die Verbrennungsmotoren durch die Blockaden zum Stillstand gezwungen werden, überdrehen die Gemüter vieler Menschen: „einfach drüber und es passt“ – so und ähnlich tönt es aus den Kommentarspalten. Die Aktionen unterbrechen nicht nur den Verkehr, sie attackieren die neoliberale Ideologie, dass sich jede*r Einzelne mit einem fossilen Verbrenner fortbewegen kann.
Seit seiner Erfindung im 20. Jahrhundert steht das Automobil wie nichts anderes für die individuelle Freiheit der Mobilität, das Prestige und den Wohlstand im ‚liberalen Westen‘. In einer Welt der allgegenwärtigen Konkurrenz verkörpert das Auto Autonomie, Durchsetzung und Sicherheit. Speziell der SUV, welcher so viel verkauft wird wie nie zuvor, steht sinnbildlich dafür: Ich setzte mich durch Kraft und Grösse individuell gegen die Konkurrent*innen durch. Als rasendes und brüllendes Statussymbol wird das Automobil zu einem “metallenen Charakterpanzer der autoritären Gesellschaft”, wie es Christoph Henning beschrieb. Dies zeigt sich in den Kommentarspalten zu den Strassenblockaden, wo nonchalant auf einen Genozid angespielt wird: „Stellen wir sicher, dass sie wirklich die letzte Generation ihrer Sippe sind.“
Wer sich in den Weg stellt, wird zum*r Feind*in!
Der Klimawandel trifft also zu einem Zeitpunkt auf die westliche Gesellschaft, an dem die Automobilität ein ideologisches Bollwerk der imperialen Lebensweise im fossilen Kapitalismus wie nie zuvor darstellt. Das erschwert nicht nur die Umsetzung von Massnahmen gegen den Klimawandel, sondern triggert den Hass und die Wut von weiten Teilen der Gesellschaft. Zum einen aus legitimer Angst, die Arbeit und Pflichten in einem neoliberal organisierten Alltag nicht wahrnehmen zu können.
Zum anderen aus diffuser Furcht um die hegemoniale Lebensweise und an sie geknüpfte Privilegien und Identitäten. Die Zwänge des kapitalistischen Alltags und die Verteidigung von Privilegien sind zwei Seiten einer hegemonialen Produktions- und Lebensweise. Diese führen zu dem zunehmend hysterischen und gewaltvollen Vorgehen gegen Klimademonstrant*innen. Der empörte Land Rover-Fahrer in der Blockade, der Besitzer des beschmierten Van Goghs und der bürgerliche Staat sind sich einig: Wer sich in den Weg stellt, wird zum*r Feind*in!
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