Die Letzte Gene­ra­tion, das Schreck­ge­spenst der bürger­li­chen Gesellschaft

Der Protest der Letzten Gene­ra­tion und der Schwe­ster­or­ga­ni­sa­tionen in der Schweiz und Öster­reich reisst nicht ab und trifft einen wunden Punkt – das zeigen die absurd aggres­siven Reak­tionen auf die Proteste der Klimaaktivist*innen.
Protest, Repression und gut geschossene Fotos. Die Letzte Generation gibt sich radikal und wird auch so bekämpft. (Foto: Nele Fischer)

Hass und Gewalt schlagen den Aktivist*innen der „Letzten Gene­ra­tion“, kurz LG, für ihre symbo­li­schen Angriffe auf Kunst­werke und ihre Stras­sen­blockaden entgegen; und das von breiten Teilen der Gesell­schaft. In Hamburg reissen wütende Autofahrer*innen die „Klima-Chaoten“ der LG von der Strasse, in Wien sugge­riert FPÖ-Chef Dominik Nepp, man solle diese anpin­keln, und der Aargauer SVP-Natio­nalrat Andreas Glarner fordert in einem parla­men­ta­ri­schen Vorstoss hartes Vorgehen und Gefäng­nis­strafen gegen die „gravie­renden“ Taten von Reno­vate Switz­er­land. In der FAZ geht die Empö­rung so weit, dass von einem Angriff auf die Demo­kratie die Rede ist: „Unver­hohlen werden neben den Grund­rechten auf Leben, Leib und Eigentum auch die Demo­kratie infrage gestellt und der Rechts­staat verhöhnt“.

In zwei Teilen analy­sieren die Poli­tik­wis­sen­schaftler Caesar Anderegg und Leon Switala die Bewe­gung Letzte Generation.

Im ersten Teil widmen sie sich der Reak­tion auf die Aktionen der Letzten Generation.

Im zweiten Teil nehmen sie ihre Taktik, Stra­tegie und Ziele unter die Lupe und unter­su­chen, was die Vor- und Nach­teile dieser Protest­formen sind und über­legen, was die Aktionen von LG für eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Klima­ge­rech­tig­keits­be­we­gung bedeuten könnten. Der zweite Teil wird zeitnah veröffentlicht.

Bevöl­ke­rung, Presse und Politik über­bieten sich in der Aggres­si­vität ihrer Reak­tionen. Es gleicht einer Hetz­kam­pagne gegen die LG, die sich über den gesamten deutsch­spra­chigen Raum erstreckt. Kurzer­hand wird die LG zum Feind der libe­ralen Gesell­schaft erklärt. Die selbst ernannten Realist*innen, die kürz­lich noch von einer „Klima­hy­sterie“ fabu­liert haben, sind nun dieje­nigen, die wirk­lich hyste­risch auf insze­nierte „Angriffe“ auf Kunst­werke und harm­lose Stras­sen­blockaden reagieren. Woher kommen diese Empö­rung und der Hass? 

Nicht die Aktionen, sondern die Reak­tionen sind extrem

Hätte man keine Ahnung, wer die LG ist, würde man Schlimmes erwarten. Man könnte meinen, die Reak­tionen deuten auf das Entstehen einer anti­de­mo­kra­ti­schen Bewe­gung hin, wie etwa die faschi­stoide Bolso­naro- oder Trump-Anhänger*innenschaft. Dabei ist offen­kundig, dass die Kritik an den Aktionen der LG vorbeigeht. 

Denn die LG bezieht sich ironi­scher­weise auf ein libe­rales Verständnis von zivilem Unge­horsam. Dieser richtet sich direkt an die Regie­rungs­po­litik und fordert die Reform einzelner Gesetze. Zudem insze­niert die LG ihre Aktionen meist als öffent­li­chen Akt: Sie werden bei der Polizei ange­kün­digt und sind gewalt­frei. Auch wenn die Aktivist*innen in einzelnen Fällen die Gesetze überschreiten.

Sogar der Präsi­dent des deut­schen Bundes­amtes für Verfas­sungs­schutz, Thomas Halden­wang, räumt ein, dass nur weil die LG Straf­taten beginge, sie dies noch nicht zu Extremist*innen mache. Sie wollten doch gerade die Funktionsträger*innen zum Handeln auffor­dern und zeigten dadurch, „wie sehr man dieses System eigent­lich respektiert“.

Wenn es sich bei der LG also um eine gewalt­freie, staats­treue und demo­kra­ti­sche Form des zivilen Unge­hor­sams handelt – wieso wird auf sie reagiert, als handle es sich um eine „Klima-RAF“? Art und Ausmass des Angriffs auf die LG von Teilen der Gesell­schaft, Medien und poli­ti­schen Parteien sind so über­trieben, dass sie tiefer­lie­gende Ursa­chen haben, als auf den ersten Blick ersicht­lich ist.

Wer sind die Empörten und was treibt sie an?

Guckt man genauer hin, so zeigt sich, dass die laute­sten Schrei­hälse vor allem Akteure des bürger­lich-konser­va­tiven Lagers sind. Mit ihren extremen Reak­tionen wird – teils stra­te­gisch, teils affektiv – versucht, den Anliegen der LG die Legi­ti­mität zu entziehen.

Dies ist eine bekannte und bewährte Reak­tion der Herr­schenden auf Kritik, welche die bestehenden gesell­schaft­li­chen Verhält­nisse, ihre Demo­kratie und ihren Rechts­staat infrage stellen. Ihre, weil es sich um eine spezi­fi­sche Form handelt: eine bürger­lich-kapi­ta­li­sti­sche Hege­monie – in den Begriffen des berühmten Marxi­sten Antonio Gramsci ausgedrückt.

Mit ihren extremen Reak­tionen wird – teils stra­te­gisch, teils affektiv – versucht, den Anliegen der LG die Legi­ti­mität zu entziehen.

Gramsci bezeichnet mit Hege­monie nicht etwa eine Herr­schaft, die nur auf auto­ri­tärer Gewalt basiert, sondern primär auf poli­ti­scher und kultu­reller Führung. Diese beruht auf Zustim­mung der Bevöl­ke­rung, einem Konsens zu den gesell­schaft­li­chen Verhält­nissen. Die herr­schende Ordnung ist das Resultat einer erfolg­rei­chen Verall­ge­mei­ne­rung von spezi­fi­schen Inter­essen eines Teils der Gesellschaft.

Die Herstel­lung des Konsenses passiert durch Ideo­logie in den poli­ti­schen und vor allem kultu­rellen Berei­chen der Gesell­schaft: Hier wird beson­ders der Alltags­ver­stand der Bevöl­ke­rung in ihrem Inter­esse geprägt. So besteht für die aller­mei­sten ein Konsens darüber, wie wir produ­zieren und konsu­mieren und was für Normen und Werte uns leiten. Dass dabei die Natur ausge­beutet wird und die Gesell­schaft insge­samt hier­ar­chisch geglie­dert ist, bleibt meist unhinterfragt.

Zu diesem Selbst­ver­ständnis gehört auch ein klima­schäd­li­cher Lebens­stil, wie etwa die fossile Auto­mo­bi­lität. Langsam macht sich die Angst breit, dass die Desta­bi­li­sie­rung einiger ideo­lo­gi­scher Stützen dieser Hege­monie ins Wanken gebracht werden könnten – nicht erst durch die LG, diese wurden nur gegen­wärtig zur Ziel­scheibe, sondern durch die ökolo­gi­schen, femi­ni­sti­schen, anti­ka­pi­ta­li­sti­schen Bewe­gungen der letzten Jahre. 

Entrech­tete Feinde des bürger­li­chen Rechtsstaats

Der befürch­tete Verlust der Hege­monie zeigt sich beson­ders in der verbalen Eska­la­tion, schlägt aber mitt­ler­weile in hand­feste Repres­sionen um. Legi­ti­ma­tion erfährt der Gewalt­dis­kurs durch die Erzäh­lung von den „gewalt­samen Klima­ak­ti­vi­sten“, die „einer Absage an den demo­kra­ti­schen Rechts­staat“ nahe­kommen, wie die FAZ am 2. November 2022 schreibt.

Da mit dieser Erzäh­lung das Bild gezeichnet wird, es handle sich bei den Klimaaktivist*innen um Straftäter*innen und Feind*innen der Demo­kratie, kann der ‚libe­rale Rechts­staat‘ sein Gleich­heits­gebot einmal mehr ausser Kraft setzen.

Die Folge ist, dass nun Präven­tiv­haft und die Zufü­gung unfass­barer Schmerzen als legi­time Mittel gegen den poli­ti­schen Feind gelten. Exem­pla­risch dafür ist die Aussage des ehema­ligen Bundes­ver­kehrs­mi­ni­sters Scheuer (CSU): „Sperrt diese Klima-Krimi­nellen einfach weg!“ Diese ganze Gewalt­rhe­torik ist irri­tie­rend: Die Aktionen der LG sind nur symbo­lisch gewaltvoll.

Die Furcht vor der kultu­rellen Entwertung

Der Schaden durch die Blockaden und die Angriffe auf hoch dotierte Kunst­werke begrenzt sich auf Warte­zeit und Reini­gungs­ar­beiten, kein Auto oder Bild wird tatsäch­lich zerstört. Warum also diese Aggres­si­vität? Im Kopftheater des kultu­rellen Bewusst­seins ist diese symbo­li­sche Entwer­tung scheinbar ausrei­chend, um ihren hege­mo­nialen Lebens­stil als bedroht wahrzunehmen.

Auto­mo­bile und teure Kunst­werke gehören zum Geltungs- und Status­konsum einer bestimmten Lebens­weise, einer impe­rialen Lebens­weise, wie es Ulrich Brand und Markus Wissen theo­re­ti­sieren. Die Auto­mo­bi­lität des Globalen Nordens ist eine beson­ders ausge­prägte Form dieses impe­rialen Lebens­stils. Sie beruht auf der Ausbeu­tung von Natur und Gesell­schaft an anderen Orten des Planeten und ist derart ressourcen- und emis­si­ons­reich, dass sie eine Exklu­si­vität darstellt, die nur einem kleinen Teil der Welt­be­völ­ke­rung zugäng­lich ist. Sie muss auf Ressourcen, Arbeits­ver­mögen und ökolo­gi­sche Senken im Globalen Süden zurück­greifen und verschärft so sozial-ökolo­gi­sche Krisen.

Bürger­lich-kapi­ta­li­sti­sche Ideo­logie auf Rädern

Diese impe­riale Lebens­weise wird durch die Aktionen der LG infrage gestellt, nur so werden die auto­ri­tären Reak­tionen verständ­lich. Ihre Absicht ist es, die fossile Lebens­weise der Auto­mo­bi­lität mit Gewalt zu vertei­digen. Während die Verbren­nungs­mo­toren durch die Blockaden zum Still­stand gezwungen werden, über­drehen die Gemüter vieler Menschen: „einfach drüber und es passt“ – so und ähnlich tönt es aus den Kommen­tar­spalten. Die Aktionen unter­bre­chen nicht nur den Verkehr, sie attackieren die neoli­be­rale Ideo­logie, dass sich jede*r Einzelne mit einem fossilen Verbrenner fort­be­wegen kann.

Während die Verbren­nungs­mo­toren durch die Blockaden zum Still­stand gezwungen werden, über­drehen die Gemüter vieler Menschen.

Seit seiner Erfin­dung im 20. Jahr­hun­dert steht das Auto­mobil wie nichts anderes für die indi­vi­du­elle Frei­heit der Mobi­lität, das Prestige und den Wohl­stand im ‚libe­ralen Westen‘. In einer Welt der allge­gen­wär­tigen Konkur­renz verkör­pert das Auto Auto­nomie, Durch­set­zung und Sicher­heit. Speziell der SUV, welcher so viel verkauft wird wie nie zuvor, steht sinn­bild­lich dafür: Ich setzte mich durch Kraft und Grösse indi­vi­duell gegen die Konkurrent*innen durch. Als rasendes und brül­lendes Status­symbol wird das Auto­mobil zu einem “metal­lenen Charak­t­er­panzer der auto­ri­tären Gesell­schaft”, wie es Chri­stoph Henning beschrieb. Dies zeigt sich in den Kommen­tar­spalten zu den Stras­sen­blockaden, wo noncha­lant auf einen Genozid ange­spielt wird: „Stellen wir sicher, dass sie wirk­lich die letzte Gene­ra­tion ihrer Sippe sind.“

Wer sich in den Weg stellt, wird zum*r Feind*in!

Der Klima­wandel trifft also zu einem Zeit­punkt auf die west­liche Gesell­schaft, an dem die Auto­mo­bi­lität ein ideo­lo­gi­sches Boll­werk der impe­rialen Lebens­weise im fossilen Kapi­ta­lismus wie nie zuvor darstellt. Das erschwert nicht nur die Umset­zung von Mass­nahmen gegen den Klima­wandel, sondern trig­gert den Hass und die Wut von weiten Teilen der Gesell­schaft. Zum einen aus legi­timer Angst, die Arbeit und Pflichten in einem neoli­beral orga­ni­sierten Alltag nicht wahr­nehmen zu können.

Zum anderen aus diffuser Furcht um die hege­mo­niale Lebens­weise und an sie geknüpfte Privi­le­gien und Iden­ti­täten. Die Zwänge des kapi­ta­li­sti­schen Alltags und die Vertei­di­gung von Privi­le­gien sind zwei Seiten einer hege­mo­nialen Produk­tions- und Lebens­weise. Diese führen zu dem zuneh­mend hyste­ri­schen und gewalt­vollen Vorgehen gegen Klimademonstrant*innen. Der empörte Land Rover-Fahrer in der Blockade, der Besitzer des beschmierten Van Goghs und der bürger­liche Staat sind sich einig: Wer sich in den Weg stellt, wird zum*r Feind*in!


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