Die Ordnung der gebrauchten Dinge

Sehe ich eine leere WC-Papier­rolle im normalen Müll oder jemanden, der seine PET-Flasche in den öffent­li­chen Abfall­eimer schmeisst, verkrampft sich mein Magen und ich würde am lieb­sten laut raus­schreien: Das ist falsch! Der hält sich nicht an die Ordnung der gebrauchten Dinge! Trotzdem bin ich kein Freak. Ehrlich! 
Unsere Redaktorin meint - anders als wohl diese Ratte hier - , kein Freak zu sein. Ob das wirklich stimmt? (Foto: Ratus Rat)

Alles hat seinen Platz. Wenn es um Entsor­gung und Abfall geht, nehme ich es so richtig genau. Ich reisse nicht nur bei den Brot­ver­packungen das Plastik­teil in der Mitte raus, damit ich den Rest in die Papier­samm­lung geben kann. Ich bestehe auch darauf, dass wir die Wein­korken separat sammeln, weil man die bei gewissen Wein­hand­lungen zurück­geben kann. Als sich die Haus­ver­wal­tung unserer WG weigerte, eine Kompost­tonne hinzu­stellen, besorgte ich uns ein Kilo Rotwürmer, die seither unsere Rüeb­li­schalen in einem soge­nannten Wurm­kom­po­ster zu Erde und Dünger verar­beiten. Und wenn ich mit ein paar Freun­dInnen am See ein Bier­chen trinke, nehme ich die leeren Dosen nach Hause, um sie richtig zu entsorgen.

Um richtig zu entsorgen, habe ich mich auch schon mit israe­li­schen Zoll­be­am­tInnen angelegt

Dem einen oder anderen wurde es auch schon zu dumm mit meinem Entsor­gungs­wahn. Zum Beispiel dem Chri­sto­pher, meinem Team­kol­legen auf dem Tram­prennen 2015. Ich sammelte nämlich in den ersten Tagen im Balkan, wo die Recy­cling­mög­lich­keiten echt rar sind, in unserer Team­ta­sche sämt­liche Kron­korken, die unser Bier­konsum hervor­ge­bracht hatte. Alu in den Abfall schmeissen? Unmög­lich für mich. Auch wenn ich sie einmal nach Nord­al­ba­nien und zurück tragen muss. Irgend­wann hatte Chri­sto­pher aber einfach genug und kippte die Dinger in den normalen Abfall.

Auch die israe­li­schen Zoll­be­am­tInnen waren von meinem Entsor­gungs­wahn nicht gerade angetan. Auf meiner Über­fahrt mit dem Fracht­schiff von Italien nach Tel Aviv bunkerte ich nämlich eine Woche lang alle von mir leer­ge­trun­kenen PET-Flaschen und trug sie dann in meinem Ruck­sack von Bord, um sie in Israel korrekt zu entsorgen. Denn dem schiffs­ei­genen, sehr impro­vi­siert anmu­tenden Ofen, der sicher­lich mit keinem einzigen Luft­filter ausge­stattet war, wollte ich meine PET-Flaschen nicht überlassen.

Das brachte mir ein sehr langes Gespräch mit der israe­li­schen Einrei­se­be­hörde ein, der ich nun erklären musste, wieso mein halber Ruck­sack mit PET-Flaschen voll­ge­stopft war. Meine Einreise hat das nicht gerade erleich­tert. Und auch wenn am Schluss alles gut ging, steht eins fest: Für diese Zoll­be­am­tInnen war ich es ganz sicher: ein Freak.

Es ist einfach nicht geil, wenn man etwas nicht mehr findet

Ein Freund meinte einmal, ich erin­nere ihn an seinen Werk­lehrer. Wenn man da nicht alles ganz genau an den rich­tigen Ort zurück­legte, wurde der richtig sauer. Da gab es eine ordent­liche Stand­pauke. „Alles hat seinen Platz. Und da gehört es auch hin“, pflegte er dann zu sagen.

Ordnung muss sein. Genauso, wie das 120er-Schleif­pa­pier nicht bei den 80er-Papieren versorgt werden soll, gehört die PET-Flasche in die PET-Samm­lung, der Korken zurück zum Wein­händler und die Bier­dose in die Alusamm­lung. Auch bei den gebrauchten Dingen brau­chen wir nun mal eine Ordnung. Wieso? Die Antwort — und das mag über­ra­schen -, ist genau die gleiche wie bei den Nägeln: weil wir sie sonst nicht mehr wiederfinden.

Werfe ich eine PET-Flasche in den Rest­müll oder in die öffent­li­chen Müll­eimer, dann versorge ich sie so richtig falsch. Denn in den meisten Gemeinden der Schweiz wird sie einfach verbrannt. Dadurch entschwinden die Kohlen­stoff­atome, aus denen die PET-Flasche besteht, als Kohlen­di­oxid­teil­chen in die Luft. Und dort bleiben sie auch erst einmal eine Weile. Leider sind diese Kohlen­stoff­ver­bin­dungen in Form von atmo­sphä­ri­schem Kohlen­di­oxid für uns nicht nur nutzlos, weil wir aus ihnen keine neuen PET-Flaschen herstellen können, sondern auch noch schäd­lich. Sie heizen das Klima an.

Nur wenn wir unsere Kohlen­stoff­atome aus der PET-Flasche eines Tages wieder in einer Erdöl­raf­fi­nerie finden, könnten wir sie erneut zu PET-Flaschen, Gurken­ver­packungen oder Fleece­jacken verar­beiten. Aber dieses „Kohlen­stoff­atom-Recy­cling” sei nicht so einfach, meint Helmut Jürg Weis­sert, bis Ende 2014 Professor für Sedi­ment­geo­logie und Spezia­list für Kohlen­stoff­kreis­lauf-Geschichte an der Eidge­nös­si­schen Tech­ni­schen Hoch­schule (ETH) in Zürich.

„Die Chance, dass diese PET-Kohlen­stoff­atome den Weg zurück finden werden in eine Abla­ge­rung, die zu Erdöl wird, ist doch eher klein”, so Weis­sert. Zuerst einmal müssten sie über die Photo­syn­these wieder in eine Pflanze gelangen. Zum Beispiel in ein Blatt. Dann müsste dieses Blatt den Weg in den Ozean finden. Dazu müsste es im Herbst per Zufall statt auf den Boden in einen Bach fallen und über einen Fluss ins Meer trans­por­tiert werden.

Im Meer aber landeten die meisten Kohlen­stoff­atome in Kalk­ab­la­ge­rungen auf dem Meeres­boden, in soge­nannten Karbo­nats­edi­menten. Nur 1–2 Prozent der Kohlen­stoff­atome, die im Meer herum­schwirren, gehörten laut Weis­sert zu den auser­wählten Kohlen­stoffen, die in eine Meeres­alge einge­baut und per Zufall in einem Meer­esse­di­ment abge­la­gert werden. Wenn dort dann noch genau der rich­tige Druck und die rich­tige Tempe­ratur herr­sche, dann könne es sein, dass wir die PET-Kohlen­stoffe, die wir in einem unauf­merk­samen Moment in einen öffent­li­chen Abfall­eimer an der Zürcher Seepro­me­nade geschmissen haben, nach ein paar Jahr­mil­lionen in Form von Erdöl wieder­finden — und aus ihnen eine neue PET-Flasche herstellen können.

Ziem­lich kompli­ziert. Viel wahr­schein­li­cher ist aber, dass unser Kohlen­stoff­mo­lekül aus der verbrannten PET-Flasche als CO2 in der Luft bleibt und dort die Atmo­sphäre aufheizt. Viel­leicht hätte man es besser erst gar nie aus den Erdöl-Reser­voir raus geholt. Aber da wir das nunmal gemacht haben, sollte man es wenig­stens dort versorgen, wo man es ohne eine Warte­zeit von Jahr­mil­lionen wieder­finden kann: in der PET-Sammlung.

Die Kehrichts­ver­bren­nungs­an­lage ist oft der falsche Ort, um etwas zu versorgen

Auch für die Bier­dose oder den Kron­korken ist die Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage — je nachdem, wo man sie in den Abfall schmeisst -, nicht die beste Option. Im Gegen­satz zu den Kohlen­stoff­ver­bin­dungen aus der PET-Flasche verdün­ni­siert sich Alumi­nium aber nicht in die Luft, wenn man es verbrennt, sondern bleibt nach dem Verbren­nungs­vor­gang in der Schlacke zurück und kommt je nach Anlage in die Deponie. Gut versorgt, wartete es dort auf bessere Zeiten. Ob diese verbud­delten Aluteil­chen irgend­einmal den Weg zurück in die Bier­do­sen­pro­duk­tion finden werden, steht in den Sternen. Für sie ist die Deponie auf nicht abseh­bare Zeit die Endsta­tion. Dabei wäre es extrem viel schlauer gewesen, eine neue Dose daraus zu machen. Denn für das fehlende Alu muss nun neues Alu aus Bauxit herge­stellt werden. Und das braucht sauviel Energie.

Zum Glück werden in modernen Kehricht­ver­bren­nungs­an­lagen Alumi­nium und andere Metalle aus der Schlacke zurück­ge­wonnen. Laut Michael Hügi vom Bundesamt für Umwelt­schutz holen 28 der 30 Schweizer Verbren­nungs­an­lagen das Alu aus ihrer Schlacke raus, um es wieder­zu­ver­werten. Wenn ich also weiss, dass ich mich gerade im Einzugs­ge­biet einer Verbren­nungs­an­lage mit einer solchen Metall­rück­ge­win­nung befinde, könnte ich meine Dose auch ohne ein schlechtes Gewissen in den normalen Müll werfen, denn die Verbren­nungs­an­lage sortiert für mich nach. Nur: Wer kennt schon die Grenzen der Sammel­ge­biete der 30 Schweizer Verbren­nungs­an­lagen. Deshalb gehe ich lieber auf Nummer sicher und versorge die Dose in der Alusamm­lung. Zudem sei die Qualität der so zurück gewon­nenen Metalle deut­lich schlechter als wenn man sie separat sammelt, so Hügi. Alu gehöre deshalb, auch wenn die Kehr­richts­ver­bren­nungs­an­lage mit diesen Rück­ge­win­nungs­ver­fahren eine gewisse Scha­dens­be­grenzug betreibe, einfach nicht in der Müll.

Was für Alu und andere Metalle bei den meisten Verbren­nungs­an­lagen in der Schweiz gilt, gilt aber bei weitem nicht für alle rezy­klier­baren Rohstoffe. Ganz im Gegen­teil: Das nach­träg­liche Raus­fi­schen ist eher die Ausnahme. Laut Daniel Eber­hard, dem stell­ver­tre­tenden Medi­en­spre­cher von Entsor­gung und Recy­cling Zürich (ERZ), liege der Entscheid, was vom Abfall als Wert­stoff gesam­melt wird und was im Haus­keh­richt landet, bei den Stadt­be­woh­ne­rinnen und ‑bewoh­nern. Das ERZ sortiere die Inhalte der Zürich-Säcke vor der Verbren­nung nicht nach. Und das nicht nur in Zürich, sondern in der ganzen Schweiz, wie mir Hügi bestä­tigt:
„Das Recy­cling­sy­stem von Sied­lungs­ab­fällen wie Glas, Altpa­pier, PET, Alu etc. basiert auf der Tren­nung an der Quelle, d.h. durch die Konsument/innen, die dann das Sammelgut an die entspre­chenden Samm­lungs­stellen in den Gemeinden oder Einkaufs­zen­tren selbst anlie­fern. […] Alle Abfälle, die mit dem Kehricht entsorgt werden, gelangen direkt in eine Kehricht­ver­bren­nungs­an­lage, d.h. es gibt keine vorgän­gige Sortie­rung des Mülls nach verblei­benden Wert­stoffen.„
Die Verant­wor­tung, bei den gebrauchten Dingen Ordnung zu halten, liegt also trotz moderner Verbren­nungs­an­lagen in erster Linie bei den Konsu­menten und Konsumentinnen.

Ordnung hilft, die Mensch­heit zu retten

Mein Entsor­gungs­fieber hat sicher­lich etwas Pene­trantes. Genau wie die Stand­pauken des Werk­leh­rers. Das ändert aber nichts daran, dass es Sinn macht, sowohl den Nagel als auch die PET-Flasche nicht an den falschen Platz zurückzulegen.

Manchmal wäre das viel­leicht ein biss­chen gemüt­li­cher. Ginge schneller. Oder man müsste nicht so aufpassen. Aber alle, welche später kommen, haben halt das Nach­sehen: Sie finden den Nagel nicht mehr oder sind darauf ange­wiesen, neues Erdöl aus dem Boden zu pumpen für ihre PET-Flaschen.

Viel­leicht sind der Werk­lehrer und ich Freaks, wenn wir so pene­trant auf die Ordnung der Dinge pochen. Aber alle, die nach uns kommen, werden dies zu schätzen wissen.

Tipp

Wer zu wenig Zeit oder Nerven hat, um sich selbst um die rich­tige Ordnung im eigenen Müll zu sorgen, dem empfehle ich ein Abo bei Mr. Green. Ab 17.- Franken pro Monat kümmert er sich für dich darum.

 


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