Drohende Anne­xion im West­jor­dan­land: „Hier ist es härter als jemals zuvor“

Noch vor den Präsi­dent­schafts­wahlen in den USA im November will Israels Mini­ster­prä­si­dent Benjamin Netan­jahu einen Teil des „Nahost-Plans“ von Donald Trump umsetzen und Gebiete im West­jor­dan­land annek­tieren. Die völker­rechts­wid­rige Einver­lei­bung von Sied­lungen in israe­li­sches Staats­ge­biet würde eine Zwei­staa­ten­lö­sung und einen sicheren Status für die Palästinenser*innen verun­mög­li­chen. Dabei wäre die Gleich­be­rech­ti­gung der einzig gang­bare Weg für Frieden. 
Demonstration vor einer israelischen Siedlung im Westjordanland, 5. Juni (CC by @wallresistance)

„Wir können nichts dagegen tun“, sagt Hala Barahmeh über Zoom. Die 25-jährige Energie- und Umwelt­tech­ni­kerin aus Arraba hat nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie ihre Arbeit verloren. Wie viele andere Palästinenser*innen im West­jor­dan­land sieht sie sich im nörd­li­chen Arraba mit unzäh­ligen Problemen konfron­tiert: marode Infra­struktur, mangelnde Wasser­ver­sor­gung, Arbeits­lo­sig­keit, Sperr­an­lagen, einge­schränkte Reise- und Bewe­gungs­frei­heit, perma­nente Sicher­heits­kon­trollen und Ausein­an­der­set­zungen mit israe­li­schen Soldat*innen. „Es ist wie in einem Gefängnis hier“, sagt Hala. Damit drückt sie das Grund­ge­fühl vieler Palästinenser*innen im West­jor­dan­land aus: Machtlosigkeit.

Derweil spricht Benjamin Netan­jahu von Gebiets­an­ne­xionen als „Auswei­tung der israe­li­schen Souve­rä­nität“ und der „Rück­kehr ins bibli­sche Land“. Schon vor der Ankün­di­gung des „Nahost-Plans“ von Donald Trump – der auch einen Staat Palä­stina vorsieht, jedoch so zersplit­tert, dass ihn die Palästinenser*innen nicht akzep­tieren werden –, betrieb Benjamin Netan­jahu mit diesen Schlag­wör­tern Wahlkampf.

Dass Netan­jahu einen Teil des „Nahost-Plans“ umsetzen und 30 Prozent des West­jor­dan­lands annek­tieren will, ist in erster Linie als symbo­li­scher Akt zu verstehen. Die Anne­xionen sollen die fakti­schen Gebiets- und Macht­ver­hält­nisse im West­jor­dan­land, die sich seit der israe­li­schen Beset­zung 1967 heraus­ge­bildet haben, auch auf der Ebene des Staats­ge­biets zemen­tieren. Denn schon jetzt kontrol­liert die israe­li­sche Armee die israe­li­schen Sied­lungen und einen Gross­teil des Gebiets des West­jor­dan­landes, das im zweiten Oslo-Abkommen von 1995 als Zone C benannt wurde.

Für viele Palästinenser*innen spiele es primär keine Rolle, ob die Präsenz der israe­li­schen Armee nun Anne­xion oder Besat­zung genannt wird. Ihr Leben werde immer noch von denselben Problemen geprägt sein wie zuvor: „Alles, wovon gespro­chen wird, ist schon längst Realität: die Soldat*innen, die Siedler*innen – sie tun, was sie schon immer getan haben“, sagt Hala und spricht das Verhältnis der 2,7 Millionen Palästinenser*innen zu den 428’000 israe­li­schen Bürger*innen an, die seit dem Sechs­ta­ge­krieg von 1967 das West­jor­dan­land besie­delt haben.

Eine Inter­ak­tion finde nicht statt, die Siedler*innen leben schon heute komplett abge­schottet hinter Sperr­mauern. Ahmad Ayyoub, Englisch­lehrer an der Bir Zait Univer­sität nörd­lich von Ramallah, formu­liert die Bezie­hung als „eine zwischen Besatzer*innen und Besetzten. Sie haben ihre eigenen Busse, ihre eigenen Strassen. Die einzige Verbin­dung zu ihnen besteht über die palä­sti­nen­si­schen Beschäf­tigten, die für die Siedler*innen arbeiten.“

Klar ist, dass die geplanten Anne­xionen der Sied­lungs­ge­biete die schon jetzt bestehenden Barrieren zwischen Palästinenser*innen und israe­li­schen Siedler*innen noch einmal zemen­tieren werden. Dies könnte zu einer Inten­si­vie­rung der Gewalt und einer weiteren Inti­fada führen.

Doch nicht nur deshalb stehen die Anne­xionen Israels in der Kritik einer grossen Mehr­heit der inter­na­tio­nalen Staa­ten­ge­mein­schaft. Sie sind vor allem ein Verstoss gegen inter­na­tio­nales Recht, wie der UN-Sicher­heitsrat 2016 zum wieder­holten Mal fest­ge­halten hat. Die Anne­xionen brechen die verein­barte Waffen­still­stands­linie von 1949, die „Grüne Linie“, die bis zur Beset­zung des West­jor­dan­landes 1967 die Grenze markierte.

Doch selten zuvor hat sich Israel eine bessere Gele­gen­heit geboten, seine geopo­li­ti­schen Ziele im West­jor­dan­land zu reali­sieren und die Sied­lungen in das eigene Staats­ge­biet einzu­ver­leiben. Auf die volle Unter­stüt­zung der USA, dem wich­tig­sten Verbün­deten Israels, können Benjamin Netan­jahu und seine natio­nal­kon­ser­va­tive Partei Likud dieser Tage zählen. Der in drei Korrup­ti­ons­fällen ange­klagte Mini­ster­prä­si­dent benö­tigt nach drei Wahlen inner­halb eines Jahres und den immer lauter werdenden Rufen der Strasse nach seinem Rück­tritt und mehr Demo­kratie unbe­dingt poli­ti­sche Erfolge.

Beim Thema Anne­xionen weiss er grund­sätz­lich eine Mehr­heit des Parla­mentes hinter sich, obwohl sich nun in Anbe­tracht der stei­genden Corona-Fall­zahlen sowie weiteren Ausgangs­be­schrän­kungen Wider­stand regt und die Anne­xionen heraus­ge­zö­gert werden. Noch vor Ende von Donald Trumps Amts­zeit als US-Präsi­dent will Netan­jahu Fakten schaffen, um in die Geschichts­bü­cher eingehen zu können.

Palä­sti­nen­si­sche Gespaltenheit

Damit riskiert Netan­jahu eine weitere Eska­la­tion. Schon nach der Aner­ken­nung Jeru­sa­lems als Haupt­stadt Israels durch die USA Ende 2017 kam es im West­jor­dan­land und im Gaza­streifen zu heftigen Ausein­an­der­set­zungen zwischen der israe­li­schen Armee und Demonstrant*innen. Dass dies wieder geschehen werde, sei wahr­schein­lich, meint Ahmad: „Momentan ist es ruhig. Doch diese Ruhe kann in einem Tag kehren und dann kippt der ganze Alltag. Dann fahren überall Panzer auf, Reise­be­schrän­kungen werden ausge­spro­chen, Blockaden errichtet und so weiter.“

Ausserdem wird auch von der in Gaza regie­renden sunni­tisch-isla­mi­sti­schen Hamas mit Sicher­heit eine mili­tä­ri­sche Antwort zu erwarten sein. Der Palä­sti­nen­si­schen Auto­no­mie­be­hörde in Ramallah unter Präsi­dent Mahmud Abbas sind die Hände gebunden. Als Regie­rung in einem inter­na­tional nicht aner­kannten Staat verfügt sie weder mili­tä­risch noch poli­tisch über genü­gend Möglich­keiten, Gegen­druck aufzu­bauen. Zudem wird ihr aus dem Weissen Haus zum ersten Mal seit langem jegliche Unter­stüt­zung verwehrt.

Auch von den arabi­schen Ländern, die teil­weise Kontakte und Frie­dens­ver­träge mit Israel geschlossen haben, erhält die Auto­no­mie­be­hörde nicht mehr dieselbe Unter­stüt­zung wie früher. Diese sieht im Beharren auf die Vision eines Staates Palä­stina in den Grenzen von 1948 und auf die Rück­kehr aller Geflüch­teten die einzige Möglich­keit, ihr Gesicht zu wahren.

„Während es in der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung eine verän­derte Haltung zu dieser Vision gibt, weicht die Auto­no­mie­be­hörde nicht davon ab. Deren poli­ti­sche Pläne stossen nicht auf grosse Zustim­mung in der Bevöl­ke­rung. Wir haben kein Vertrauen in sie“, sagt Hala.

Die fehlende Gestal­tungs­macht der Auto­no­mie­be­hörde, die seit dem zweiten Oslo-Abkommen von 1995 die Polizei- und Zivil­kon­trolle über die grös­seren Städte des West­jor­dan­landes – die Zone A – hält, schlägt sich in einer doppelten Proble­matik nieder. Erstens leidet die Bevöl­ke­rung unter dem Zustand der Besat­zung und der daraus folgenden Recht­lo­sig­keit. Aus diesem Zustand wird es keinen Ausweg geben, ohne dass Palä­stina von der inter­na­tio­nalen Gemein­schaft als Staat aner­kannt wird.

Zwei­tens hat die Apathie der Auto­no­mie­be­hörde die Ableh­nung weiter Bevöl­ke­rungs­teile zur Folge. Der Aufstieg der Hamas, die in Feind­schaft zur Fatah im West­jor­dan­land steht, war nach 2006 die Konse­quenz aus dieser Doppelproblematik.

Die innere und äussere Zersplit­te­rung der Palästinenser*innen verun­mög­licht einen einheit­li­chen Kampf gegen den „Nahost-Plan“ von Trump und Netan­jahu. Hala ist deshalb über­zeugt, dass es auch in der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung einen radi­kalen Wandel braucht. „Wir sind geogra­phisch, wirt­schaft­lich und sozial vonein­ander getrennt“, meint Hala. „Wir brau­chen eine neue Form der Einheit, nicht bloss eine Verein­ba­rung zwischen Fatah und Hamas.“

Ein Staat für beide?

Darüber, wie dieser Wandel aussehen soll, scheiden sich die Geister. Die radi­kal­sten Stimmen lehnen einen Staat Israel immer noch grund­sätz­lich ab und fordern die Rück­kehr zum Palä­stina von 1948. Viele Menschen aber seien dieser Diskus­sionen müde, sagt Hala: „Wir fragen uns, welche reali­sti­schen Lösungen es gäbe. Einige sehen beispiels­weise einen israe­lisch-palä­sti­nen­si­schen Staat mit zwei Föde­ra­tionen als Lösung.“

Viele Menschen hätten die Hoff­nung auf eine Zwei­staa­ten­lö­sung verloren. Im Strudel von Alltags­de­pres­sion, Armut und Miss­trauen gegen die eigene poli­ti­sche Führung sähen immer mehr Menschen die Perspek­tive für ein besseres Leben eher in einem gemein­samen Staat mit Israel, der den Palästinenser*innen eine aner­kannte Staat­bür­ger­schaft garan­tieren könnte.

Im Grund­satz ist klar, dass die Palästinenser*innen in einem aner­kannten Staat leben müssen, um gleich­be­rech­tigt agieren zu können. Für Menschen wie Hala steht deshalb fest, dass sich die Einheit der Palästinenser*innen um diesen zentralen Punkt drehen muss: „Wir wollen als Palästinenser*innen handeln können, gleich­be­rech­tigt sein. Denn darum geht es bei der palä­sti­nen­si­schen Sache: um die Einfor­de­rung unserer Rechte.“

Erst wenn den Palästinenser*innen ein gleich­wer­tiger Status – in einem eigenen oder gemein­samen Staat – zuge­spro­chen wird, kann eine Beru­hi­gung der Lage eintreten. Solange die Palä­sti­nen­si­sche Auto­no­mie­be­hörde hand­lungs­un­fähig bleibt, wird sich an den Span­nungen nichts ändern, da sie als hand­lungs­un­fä­hige Regie­rung zur Macht­si­che­rung zu auto­ri­tären Mitteln greifen wird. Es bedarf deshalb drin­gend einer Frie­dens­of­fen­sive, die Netan­jahu und Abbas wieder zurück an den Verhand­lungs­tisch bringt. 

Zudem muss die Bewe­gungs­frei­heit der Palästinenser*innen als grund­le­gende Voraus­set­zung für Gleich­be­rech­ti­gung gewähr­lei­stet sein. Die inter­na­tio­nale Gemein­schaft und allen voran die Euro­päi­sche Union täte deshalb gut daran, konkrete Lösungen für einen gemein­samen Frieden vorzu­legen, statt nur mit Mahnungen auf die israe­li­schen Anne­xi­ons­pläne zu reagieren; einen Frieden, der nicht wie der „Nahost-Plan“ nur durch die USA in Zusam­men­ar­beit mit Israel ausge­han­delt, sondern in Einbezug der Palästinenser*innen erar­beitet wird.

„Viele Palästinenser*innen wissen nicht, was ausser­halb des West­jor­dan­lands passiert, und können ihre eigene Lage gar nicht einschätzen“, meint Ahmad Ayyoub. „Doch ich weiss, dass ich als respek­tiertes Indi­vi­duum einer Gesell­schaft leben will, nicht als Mensch zweiter oder dritter Klasse. Ich will nicht überall kontrol­liert werden, nur weil ich kein Israeli bin.“

Die geplanten israe­li­schen Anne­xionen werden das Gefühl der Macht­lo­sig­keit bei den Palästinenser*innen noch­mals inten­si­vieren. Für Hala ist klar, dass die alltäg­li­chen Probleme den geopo­li­ti­schen Status eines Gebiets über­wiegen: „Hier ist es härter als jemals zuvor.“


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Serena Awad wurde aus ihrem Zuhause vertrieben und ist seither in Gaza auf der Flucht. Kurzzeitig musste sie im selben Lager verweilen, in dem bereits ihr Grossvater 1948 Zuflucht fand. In diesem persönlichen Beitrag berichtet sie über ihren Alltag im Krieg – und die Hoffnung auf sein Ende.